Die 50 besten Platten des Jahres 2017
Wir haben abgestimmt und die einzig wahre Liste erstellt: Das sind die 50 Favoriten der ME-Redaktion und somit die besten Alben des Jahres 2017. Ha!
Platz 1: The xx – I SEE YOU
Young Turks/XL/Beggars/Indigo (VÖ: 13.1.)
Irgendwann ist die Trauer überwunden. Ja, das ist wirklich immer so. Egal wie lange die theatralische Emo-Phase auch andauern mag, die uns meist in Teenager-Zeiten, nicht selten aber auch noch danach heimsucht: Sie wird vorübergehen. The xx leiten diese neue Phase mit ihrem dritten Album I SEE YOU ein.
Ganz xx-untypisch tritt das authentischste Best-Friends-Trio des britischen Pop aus seinem Schatten hinaus in die Welt, scheut weder die Glotzer noch die Gaffer, weder Zweifel oder gar: die eigenen Fans. Man kann es sich bei The xx nur zu gut vorstellen: Fanliebe kann einschüchtern, selbst wenn sie nur gut gemeint ist.
Das mit der Liebe ist ja ohnehin so eine Sache: immer ein Risiko, mal tierisch schmerzhaft, mal aber auch unglaublich erfüllend. Jamie Smith, Oliver Sim und Romy Madley Croft wissen das. Sie suhlen sich neuerdings nun endlich – durchaus noch ein bisschen scheu, dennoch aber mit herzlichem Ambitionismus – in den Liebesbekundungen ihrer Hörerschaft. Und die dürfte mit I SEE YOU noch größer geworden sein.
Schließlich hat sich der Sound der Londoner Band bemerkenswert radikal weiterentwickelt. Ihr intimer, minimalistischer Indie-Pop traut sich aus seinem dunklen Kämmerlein hinaus ans Licht. Die Melodien halten sich nicht mehr zurück, die Beats treiben derber, die Stimmen haben ihr zartes Korsett abgelegt. Wie passend, dass die Platte auch noch I SEE YOU heißt und sich, zumindest in ihrer digitalen Variante, die Silhouetten der Protagonisten im Artwork spiegeln. Bye bye, Versteckspiel. Und so singen sich Romy und Oliver frei, in „Dangerous“ zum Beispiel: „You are dangerous, but I don’t care. I’m going to pretend that I’m not scared.“
Diese besonders schöne Melange aus Trotz und Protz hat man von The xx so zuvor noch nicht gehört. Wer nun denkt, die Band hätte bald schon mit zu dicken Eiern zu kämpfen, dem sei gesagt: Es scheint sich hier tatsächlich um eine gesunde Form von Selbstbewusstsein zu handeln – der fragile musikalische xx-Kosmos bleibt auf erstaunliche Weise erhalten, obwohl mit dem neuen Willen zur Selbstdarstellung auch eine enorme stilistische Neuerung einhergeht.
I SEE YOU würde sicher nicht so klingen, hätte Jamie Smith alias Jamie xx nicht zwei Jahre zuvor sein Wahnsinns-Solo-Debüt IN COLOUR veröffentlicht. Der Erfolg der unglaublich komplexen und gleichzeitig so irre poppigen, elektronischen Platte hat die Experimentierfreude der Band befeuert. Dabei blickten Romy und Oliver diesen Umständen zunächst alles andere als euphorisch entgegen. Ja, beinahe wäre am Überraschungserfolg des einen die Beziehung zu den anderen zerbrochen. Man vergisst das schnell: In langjährigen Freundschaften wächst zwar das Verständnis füreinander, gleichsam aber auch die Fallhöhe bei Enttäuschungen.
Jamie tourte solo plötzlich um die halbe Welt, Fans und Feuilleton feierten das Schaffen des xx-Beatmeisters so sehr, dass er, ausgerechnet der Zurückhaltendste der Band, mit alleinigem Ruhm überschüttet und von dem erschüttert wurde. Gleichzeitig rückten die Aufnahmen für I SEE YOU immer weiter ins Ungewisse, die Frustration bei den anderen wuchs. Es gab nur einen Ausweg aus der Misere: offen über die Problematik zu sprechen. Und am Ende, fast viereinhalb Jahre nach COEXIST, wurde tatsächlich alles wieder gut. Vielleicht war es diese zutiefst positive Erfahrung, die The xx durch das Wagnis der neuen Offenheit machten, um am Ende noch ein Stück breitschultriger an I SEE YOU arbeiten zu können und die eigenen Geister zu überwinden. Gelohnt hat es sich allemal. Jördis Hagemeier