Die 50 besten Platten des Jahres 2015
Wer hat 2015 das Rennen gemacht? Future Soul, 90s-Indie, HipHop, gar Jazz oder doch das sogenannte Austropop-Revival? Eine große Jury hat entschieden: Das sind die 50 besten Platten des Jahres.
Platz 10: Joanna Newsom – DIVERS
Drag City/Rough Trade(23.10)
Pop ist das ewige Versprechen auf ein besseres Leben. Pop wird immer wieder recycelt, um sich mit Wehmut an die früheren Versprechen zu erinnern, die freilich nie gehalten wurden. Joanna Newsom aber gibt keine Versprechen, die sie nicht halten kann. Ihr viertes Album DIVERS ist kein Pop. Es ist Kammer-, Barock- und Mittelaltermusik und einmal Brit-Folk, circa 1965 – im Titelsong. Die Komplexität der Kompositionen, der Arrangements und der Gesangsharmonien stehen in keiner Verbindung zur zeitgenössischen Popwelt. Ganz zu schweigen von der Instrumentierung des Albums: das City Of Prague Philharmonic Orchestra, Harfe natürlich, Piano, Bouzouki, Flöte, Posaunen, Cembalo, Banjo, Akkordeon, Violine, Dutzende Keyboards und Synthesizer. Und wenn dann kurz ein Schlagzeug oder eine bluesige Gitarre zu hören sind, wirken sie wie Fremdkörper in diesem hermetischen musikalischen Zauberland. Newsom veröffentlicht seit 13 Jahren Musik, auf ihrem vierten Album hat sie ihre Sprache gefunden, wir verstehen, was sie uns sagen will. Viel mehr kann jetzt nicht kommen. Albert Koch
Platz 9: Schnipo Schranke – SATT
Buback/Indigo (4.9.)
„Lebensmotto: drauf geschissen“, behaupten Schnipo Schranke. Das erste Album von Daniela Reis und Fritzi Ernst ergab eine wunderbare Vorlage für Textinterpretationen. Körpergerüche und –flüssigkeiten, Schamhaare, Sex nicht als Höhepunkt der romantischen Liebe, sondern als triebgesteuerte Notwendigkeit – alles Wahrheiten, die im Kopf des Hörers aus einer Art schamhaften Hilflosigkeit heraus zu humorvollen Statements umgedeutet werden. Dass diese Texte aber zu den bestkomponierten im deutschsprachigen Pop seit Jahrzehnten gehören, dass Schnipo Schranke mit der Sprache virtuos umgehen wie kaum eine andere Band, wurde gerne übersehen in der allgemeinen Freude über Pisse und Sackhaar und Sperma im Mund. Die Musik auf SATT wurde wie ein Nebenaspekt behandelt. Geniales Dilettantentum mit Keyboard, Blockflöte und Schlagzeug. Die Diskussion darüber, dass hier nach Mucker- und Virtuositätsmaßstäben musikalisch überhaupt nichts „stimmt“, der Gesang, das Schlagzeugspiel, das „Timing“, überlassen wir den Indie-Spießern und kommentieren das mit einem herzlichen: drauf geschissen. Albert Koch
Platz 8: Father John Misty – I LOVE YOU, HONEYBEAR
Bella Union/[PIAS]Coop/Rough Trade (6.2.)
Schon auf seinem ersten Father-John-Misty-Album FEAR FUN hatte sich Josh Tillman aus der Singer/Songwriter-Hütte (Klischee) heraus auf die mit Chorsängern, Orgel, Glockenspiel, Schellenkranz-gespicktem Schlagzeug und Steel-Guitar vollgestellte Musiktheater-Bühne (Klischee) gewagt. Dafür hatte er dieses Alias ja auch kreiert, nicht etwa, um eine Kunstfigur ein paar Bowieesken mehr in die Welt stellen zu lassen, sondern um befreit von der eigenen Vergangenheit fortan keine Umwege mehr zu nehmen. Auf I LOVE YOU, HONEY- BEAR fährt er nun die großen Gesten auf, ohne Angst vor 40, 50 Jahre alten Klischees, die mit Countryrock, Gospel und Piano-Man-Balladen verbunden werden. Es bleibt trotzdem ganz und gar seine Musik, wegen seiner aufrechten Stimme, seinen Texten, die den scharfsinnigen, sogar sarkastischen Romantiker verraten, und diesen California-Dreaming-Melodien, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Ihn damit in einer Reihe mit Denkmälern wie Elton John und Billy Joel oder Randy Newman und Gram Parsons zu nennen, scheint nicht übertrieben. Oliver Götz
Platz 7: Julia Holter – HAVE YOU IN MY WILDERNESS
Domino/GoodToGo(25.9.)
Anlässlich des vierten Albums von Julia Holter feierten wir die Popwerdung der Künstlerin aus Los Angeles. Dabei durfte nicht in Vergessenheit geraten, dass der Pop-Faktor schon immer da gewesen ist in ihrer Musik. Versteckt in den Ritzen zwischen den Field Recordings, dem verhallten Dream Pop, den Ambient-Flächen aus dem Laptop. So upfront wie auf HAVE YOU IN MY WILDERNESS allerdings war Holters Gesang noch auf keinem ihrer Alben und so vordergründig „schön“ auch nicht. In diesem Sinne ist der zweite Song „Silhouette“ die perfekte Synthese der beiden Welten, in denen sich Holter nach wie vor bewegt: Es ist ein wunderbarer Popsong mit wunderbarem Gesang – würde man den wegnehmen, bliebe ein ziemlich weirdes Stück musikalischer Avantgarde übrig. In Bezug auf ihr Gesamtwerk darf man HAVE YOU IN MY WILDERNESS gerne als ein Pop-Album bezeichnen, wer einer anderen, mehrheitsfähigeren Definition von Pop nachhängt, wendet sich dagegen mit Grausen ab. Wie pop Julia Holter draußen in der richtigen Welt ist, verrät die höchste Position ihrer Platte in den deutschen Charts: Platz 100. Albert Koch
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