Das sind die 100 besten Songs aller Zeiten
Spoiler: Die Beatles haben es nicht auf den ersten Platz geschafft!
75. Talking Heads – „This Must Be The Place (Naive Melody)“
Was zunächst wie ein nettes, kleines Liebeslied wirkt, erweist sich bei genauem Hinhören als waschechter Wolf im Schafspelz. Denn hinter der naiv-verspielten World-Beat-Melodie verbirgt sich ein Nihilismus, der Joy Division in nichts nachsteht. Nur dass sich Byrne hinter Phrasen und Parolen der Marke „home is where I want it to be“ oder „never for the money, always for love“ versteckt, die an Ironie kaum zu überbieten sind. Intelligenter, kosmopolitischer Pop mit viel Groove und doppeltem Boden.
74. Neil Young & Crazy Horse – „Like A Hurricane“
Während andernorts Punk passierte und die zur gockelig aufgeplusterten Männerpose mutierte zeitgenössische Rockmusik infrage stellte, blieb Neil Young unbeeinträchtigt von den Entwicklungen. Die ungestüme Energie von Punk und das Selbstverschwenderische eines solobeladenen Achtminüters beherrschte er ohnehin, allerdings gehört er (nach wie vor) zu den Einzigen, die beides zusammendachten, unter anderem daran zu sehen, wie fürchterlich sämtliche Coverversionen des Stücks sind. Die Metapher des Orkans für die große Liebe und das Auge des Sturms als den perfekten Moment, wenn sie passiert, ist so naiv wie berührend.
73. The Beatles – „Blackbird“
Was Simon & Garfunkel können, kann Sir Paul schon lange: Während eines Schottland-Urlaubs intoniert er ein nettes, kleines Akustik-Stück, das auf einer klassischen Flötenkomposition basiert, unterlegt es mit Vogelgezwitscher (unterschiedliche Vögel in der Stereo- beziehungsweise Mono-Version!), verkauft das Ganze zeitgemäß als Solidaritätserklärung mit der Black-Power-Bewegung und sorgt für einen von vielen skurrilen Momenten auf dem 68er-Doppelalbum der Fab Four. Was die Frage aufwirft: a) wie viel Pot die Beatles wirklich geraucht haben und b) ob sie eine weitere US-Tour überhaupt überlebt hätten.
72. Nine Inch Nails – „Hurt“
Fast 18 Monate verbringt Trent Reznor 1993/94 im berüchtigten Tate House in Beverly Hills, wo Mitglieder der Manson Family 1969 die hochschwangere Frau von Regisseur Roman Polanski ermordeten. Die Folge: ein von Bowies Low inspiriertes Konzeptalbum über den Absturz eines Individuums bis hin zum Selbstmord. Wobei „Hurt“ als Schlusspunkt, als Abschiedsbrief fungiert. Ein schaurig-schöner Song mit zischelnden Sequencern, verstimmtem Klavier und einem knallharten Gitarrenriff als Höhepunkt. Das Ganze verkauft sich über fünf Millionen Mal und begründet Reznors Ruf als Marktführer des Industrial Rock.
71. Depeche Mode – „Enjoy The Silence“
Mit dieser Verbindung von hymnischem Gefühl und flirrender Leichtigkeit gelang Depeche Mode endgültig der internationale Durchbruch. Das epische Stück wurde so etwas wie ihr ultimativer Swan Song: Musik, die zugleich zerstört und aufbaut. Wenig überraschend, dass ein auf dem Dach des World Trade Centers fürs französische Fernsehen gefilmtes Video nach dem 11. September 2001 inoffiziell zur Ehrung der Opfer umgewidmet wurde. Im Originalvideo, bei dem Anton Corbijn Regie führte, wandert Dave Gahan als König verkleidet mit Klappstuhl durch schwarz-weiße einsame Landschaften. Nie gingen Pathos und Pop so Hand in Hand.
70. Bob Dylan – „Girl From The North Country“
Dass dieses Lied auf dem zweiten Album Bob Dylans direkt vor „Masters Of War“ in der Tracklist steht, sagt so viel über den jungen Singer/Songwriter aus. Der wollte eben nicht nur linkes Gewissen und „Sprachrohr einer Generation“ sein, sondern vor allem ein Sänger extrem persönlicher Songs. Mühelos zwischen zärtlich-intim und schmerzhaft-agitatorisch changierend, konnten sich seine Lieder am Krieg abarbeiten, aber auch – wie in „Girl From The North Country“ an einer keineswegs bourgeoisen Liebe und der Sehnsucht nach seinem Girl. Und in Bob Dylans rechter Hand musste seinerzeit eine ganze Band gesteckt haben, so vollständig, reich und wundersam ist sein Fingerpicking auf der Gitarre.
69. Richard Harris – „MacArthur Park“
Ein Park, der im Dunkeln dahinschmilzt, okay, das ist noch vorstellbar. Aber dann: „Someone left the cake out in the rain / I don’t think that I can take it / ’cause it took so long to bake it / And I’ll never have that recipe again.“ Was will uns der Songwriter Jimmy Webb damit sagen? Er hat es einmal in einem Interview versucht zu erklären: Es sei eine Erinnerung an einen alten Disneyfilm, gezeigt werde ein Picknickgesellschaft im Park, die vor einem Regenschauer ins Haus flüchtet. Zurück bleibe ein Kuchen – und das habe ihn sehr traurig gemacht. Die Version des irischen Schauspielers Richard Harris ist der Tränenzieher, Donna Summer dagegen führte den Song auf den Dancefloor.
68. Nick Drake – „Pink Moon“
Joe Boyd, der die ersten beiden Alben des englischen Singer/Songwriters produziert hat, hat eine gute Theorie, warum die Musik des 1974 im Alter von nur 26 Jahren verstorbenen Drake so zeitlos ist: Gerade weil sie zu ihrer Zeit kaum Gehör fand, können folgende Generationen sie ganz unbelastet für sich entdecken und sich aneignen. Das erklärt aber noch nicht, warum Drakes drittes und leider letztes Album Pink Moon so viele Menschen bis ins Mark berührt. Hier ist es gerade das Fehlen eines cleveren Produzenten mit all seinen cleveren Arrangements, das uns direkt ins Herz eines wunden Künstlers blicken lässt, der seinem Hörer so nahe kommt, als ob er nur für ihn singt. Wen der Song „Pink Moon“ unberührt lässt, das kann man heute gefahrlos behaupten, der hat kein Herz.
67. Sly & The Family Stone- „Family Affair“
Zwei Jahre hatte man nichts mehr Neues gehört von Sly Stone, der das Hohelied auf die „Everyday People“ angestimmt hatte. Und dann „Family Affair“. Man erkennt ihn nicht wieder. Er, der uns immer noch höher mitnehmen wollte, war gecrasht: Wie mit Acid getränkt und von Säure zerfetzt klingt dieser Partisanenblues. Dann erhebt sich Slys entrückte Stimme hinter der schwindsüchtig galoppierenden Musik. Nie war Kaputtheit trauriger und zarter und liebevoller. Blut ist dicker als der Schlamm, in den Amerika auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs schlittert. Sagt Sly, der eine Revolte anzetteln will. Und verliert sich fortan im Dreck. Auf immer.
66. Talking Heads – „Once In A Lifetime“
Das Jahrzehnt hatte noch nicht ganz begonnen, da war es schon geschehen: Die Talking Heads hatten für „Once In A Lifetime“ ein Video inszeniert, das nicht mehr nach den Achtzigern hätte aussehen können – archaische Digitaleffekte verbunden mit bizarrer Ego-Show. Einen Chartserfolg landete die Band zwar nicht, sicherte sich aber später mit dem Video einen Ausstellungsplatz im New Yorker MoMA. Musikalisch waren die ungewöhnlichen, von Brian Eno produzierten Rhythmen ein Neuanfang für die Band. Textlich wiederum sah David Byrne den Aufbruch und zugleich die Verlorenheit der kommenden Jahre voraus – noch vor dem aufkeimenden Exzess jener Dekade stellte der Sänger die Frage: „Oh my God, what have I done?
65. Slayer – „Angel Of Death“
Nervös oszillieren die Gitarren, das Schlagzeug bereitet vor, und dann stößt Tom Araya, noch vor dem ersten gebrüllten Wort, in diesen berühmten Schrei, der alles Entsetzen, das folgen wird, schon in sich birgt. Slayer brauchten auf ihrem von Rick Rubin produzierten dritten Album nur wenige Takte, um den Thrash Metal zu definieren: „Auschwitz, the meaning of pain …“ Die Aggressivität der Musik geht hier Hand in Hand mit einem Text, der einen der dunkelsten Punkte der vielleicht dunkelsten Periode der Weltgeschichte ausleuchtet. So deutlich, dass es weh tut. Das sollte es, und das tut es noch heute.
64. Bob Dylan – „Visions Of Johanna“
Da bekamen die Dylan-Exegeten ganz schön was zu entschlüsseln: „In the empty lot where the ladies play blindman’s bluff with the key chain / And the all-night girls they whisper of escapes out on the ,D‘ train“ – so geht das wunderbare siebeneinhalb Minuten lang. Wortmächtig, bildgewaltig, rätselhaft. Und mögen die Harmonikas auch „the skeleton keys and the rain“ spielen – alles, was bleibt, sind „these visions of Johanna“. Geschrieben im pittoresk heruntergekommenen Chelsea Hotel in New York, vermutlich am 9. November 1965, als ein gigantischer Stromausfall weite Teile der US-Ostküste lahmlegte, und aufgenommen in Nashville, gilt dieser spukig dahingeklapperte Folkrock-Song als Dylans unheimlichstes Liebeslied.
63. The Cure – „Just Like Heaven“
„Just Like Heaven“ vom in Südfrankreich produzierten Doppelalbum Kiss me, kiss me, kiss me wurde der erste große Hit für The Cure in den USA und leitete ihre Entwicklung zu einer Band ein, die auf der ganzen Welt die Arenen füllte. Der rätselhaft-romantische Stream of Consciousness des Textes und die umarmende Melodie in der perfekten Hit-Länge von dreieinhalb Minuten sind noch immer unwiderstehlich, der linkisch und verwegen mit den Armen fuchtelnde Robert Smith aus dem dazugehörigen Video ebenfalls. Andererseits verwundert der Erfolg von „Just Like Heaven“, weil es doch ein gänzlich refrainfreies Stück ist, das die Titelzeile nur ein einziges Mal enthält – als Schlusssatz. Oder vielleicht ist es aber auch nur ein einziger großer Refrain?
62. David Bowie – „Station To Station“
Mit diesem nicht nur aufgrund seiner Länge untypischen und doch für den Künstler ultimativen Song stellte dieser ein neues Alter Ego vor, den Thin White Duke. Trotz der Soundreferenzen an eine beschleunigende Dampflokomotive zu Beginn bezieht sich der Songtitel David Bowie zufolge nicht auf bestimmte Lebensstationen oder eine Reise, sondern auf den Kreuzweg. Auch sonst steckt der Text voller Referenzen an Religion und Okkultes. Je nach Lesart lassen sich allerdings ebenso viele Anspielungen auf Kokain entdecken – die Droge, die David Bowie seinerzeit fast um den Verstand gebracht hat. Durch die faszinierende Synthese aus Soul und Krautrock bereitete „Station To Station“ den Boden für Bowies Berlin-Trilogie, die in den folgenden drei Jahren veröffentlicht werden sollte.
61. Grandmaster Flash & The Furious Five – „The Message“
Wann beginnt die HipHop-Neuzeit? 1986 mit Rakim? Schon in den Siebzigerjahren mit den Last Poets? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Sogar ziemlich genau dazwischen. Denn 1982 trat Melle Mel – der Einzige der fünf Flash-Freunde, der auf „The Message“ zu hören ist – die Kunstform Rap mit Schmackes und scharfem Blick für die ihn umgebenden Realitäten aus den wohligen Windeln seiner Hibbedy-Hop-Frühphase. Die detailreiche Beschreibung der Bronx, die Erzählungen von Glasscherben, vollgepissten Treppenhäusern und sich darin labenden Ratten, ist legendär und hat bis heute nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren.
60. The Jimi Hendrix Experience – „Little Wing“
Jimi Hendrix selbst fand dieses Image zwar reichlich albern, aber dank einschlägiger Presseberichte galt er Ende 1967 vor allem als zorniger, wilder Mann, der in brachialer Lautstärke den Blues dekonstruiert. Da spricht das lyrische „Little Wing“ eine ganz andere Sprache, und zwar vom melodischen Intro über die schlichte Glockenspielbegleitung bis hin zum regelrecht hymnischen Solo, mit dem das Stück nach nicht einmal zweieinhalb Minuten endet. Hendrix beherrschte also auch das Balladengenre. Der Text ist von indianischer Mythologie inspiriert, die Umsetzung geriet zu 100 Prozent unpeinlich.