Deutschland dreht auf


Dank Viva und MTV kurbelt kein anderes Medium den Schallplattenverkauf derart an wie der Videoclip. Eine Tatsache, die auch bei den deutschen Regisseuren einen wahren Videoboom ausgelöst hat. Unter den Kreativen der Branche herrscht Goldgräberstimmung.

Seit dem 1.12.1993 ist für Deutschlands Musik-Video-Regisseure alles anders. Denn seit an jenem legendären Tag der Kölner Musik-Fernsehkanal VIVA den Betrieb aufnahm, hat er nicht nur im Laufe von wenigen Monaten gezeigt, daß man selbst einem übermächtig erscheinenden Gegner wie MTV erfolgreich die Fehde erklären kann, sondern darüberhinaus in diesem Genre auch – unbeabsichtigt – neue Arbeitsplätze geschaffen.

Vor dem 1.12.1993 fristeten einheimische Videoclipper ein, höflich ausgedrückt, nichtssagendes Dasein, weil ihre Auftragslage desolat war. MTV strahlte praktisch keine Streifen von deutschen Künstlern aus und welcher internationale Musiker würde sich ausgerechnet an „good old Germany“ wenden, um dort seinen Clip produzieren zu lassen? Die einzigen im deutschsprachigen Raum, die sich früh einen Namen in der Branche machten, waren DORO alias Rudi Dolezal und Hannes Rossacher aus Wien, die Größen wie Queen oder die Rolling Stones vor die Linse bekamen. Lange Zeit sah es aus, als würden die „Torpedo Twins“ die einzigen Deutschsprachigen in diesem Busineß bleiben.

Doch als sich VIVAs Tele-Pforten ausgerechnet mit dem Fantastische Vier-Clip „Zu geil für diese Welt“ öffneten, war der Boom der nächsten Jahre – symbolisch – bereits vorgegeben: „40 % der bei uns gezeigten Filme“, verkündete VIVA-Chef Dieter Gorny damals gebetsmühlenartig, „werden von deutschen Acts stammen.“

VIVA hielt mit diesem Anspruch durch und – siegte. Das hat zu einer Goldgräberstimmung bei den Leuten gesorgt, die in Deutschland Videos produzieren. Und die werden immer mehr, beinahe Monat für Monat. Viva VIVA!

„Dabei“, so ein VIVA-Pressesprecher, „spielen wir ganz bestimmt keine Clips, nur weil sie in Deutschland produziert sind. Wir spielen sie, weil etliche davon dasselbe Niveau wie ausländische Videos haben. Es geht um Qualität, nicht um Nationalität.“ An eine eigene deutsche VideoÄsthetik will das VIVA-Pressebüro dabei sowieso nicht glauben: „Es gibt“, so die Erklärung, „seit MTV einen internationalen Standard in dieser Branche und den erzielen inzwischen eine Handvoll nationaler Firmen. Aber Pop-Videos kennen keine Grenzen. Weil Pop-Musik als solches eben eine kosmopolitische Angelegenheit ist.“

Da ist Ulli Beyer, Produzent der Berliner Video-Firma ‚Mann im Mond‘, völlig anderer Ansicht: „Ich bin überzeugt“, ereifert sich der 53jährige, gelernte bildende Künstler, „daß wir Deutschen eine ganz eigene Bildsprache haben. Deshalb stimme ich auch nicht in den allgemeinen Abgesang auf die nationale Kultur ein. Im Gegenteil, ich gehe sogar soweit zu behaupten, daß manche moderne deutsche Clips sich an der Ästhetik eines Caspar David Friedrich oder der Surrealisten orientieren: Das formale Denken, das Ordnungsprinzip, das sind ja alles typisch deutsche Eigenschaften. Und die erleben jetzt in Pop-Videos ihre Wiederauferstehung.“

Kein Wunder, daß viele der ‚Mann im Mond‘-Clips recht artifiziell wirken. Trotzdem gehört das zehnköpfige Team, das derzeit stolze acht Regisseure unter Vertrag hat, zu den angesagtesten Video-Clippern in Deutschland, obwohl die Firma erst im August ’95 gegründet wurde. Neben vielen anderen sind sie u. a. für Mini-Filme von Mr. Ed Jumps the Gun, Galliano, Dune oder Deine Lakaien verantwortlich.

„Ich glaube“, grübelt Beyer, „wir sind so angesagt, weil wir stets eine eigene Identität bei unseren Clips haben. Wir mußten uns auch nie von jemandem bei unserer Arbeit dreinreden lassen, weil wir nicht vom Geld der Plattenfirmen abhängig sind. Zu 70% besteht unsere Arbeit aus Clips für die Werbung. Musik-Videos machen wir, damit wir einen kreativen Ausgleich zum meist recht trockenen Werbe-Dreh haben.“

Auch wenn Beyer diesen Job eher als spannendes Hobby betrachten mag, billig sind Video-Clips nicht zu kriegen. Auch und gerade nicht von deutschen Firmen. Bestätigt wenigstens Anja Schiegl, seit sechs Jahren Video Commissioner bei der Plattenfirma VIRGIN in München: „Nein“, meint sie, „die deutschen Firmen langen genauso hin wie englische oder amerikanische. Trotzdem vergeben wir gerade bei deutschsprachigen Künstlern den Video-Auftrag gerne an eine einheimische Firma. Weil nur eine hier ansässige Firma das aktuelle Lebensgefühl in diesem Land optimal widerspiegeln kann, also: das Styling, die Mode, die nippen Leute. Und genau darum geht es doch in einem Pop-Video. Außerdem fällt so die Sprachbarriere weg – und wenn man in Deutschland drehen läßt, ist das einfach auch praktischer.“

Der Durchschnitts-Preis für ein Video heutzutage liegt bei ca. 30.000 Mark pro Clip bei Newcomern, zwischen 150.000 und 250.000 Mark bei national renommierten Größen. Die Drehdauer beträgt zwischen einem und maximal vier Tagen, mehr ist bei dem Etat nicht drin. „Wir wissen“, sagt die 33jährige Schiegl, „daß wir soviel Geld hinlegen müssen, um gute Arbeit zu bekommen. Deshalb beauftragen wir lieber weniger Clips und die wenigen haben dafür eine ordentliche Qualität.“

„Ordentliche Qualität“, das bedeutet für die Piattenfirma konkret: VIVA- und – im günstigsten Falle -MTV-Kompatibilität. Wenn ein Clip kaum oder gar nicht auf einem der beiden Musikkanäle eingesetzt wird, ist er durchgefallen.

Besonders viele Kompromisse bei der Arbeit eingehen müssen – um ins entsprechende Format zu passen – die Produzenten und Regisseure von Dance-orientierten Videos. Firmen also wie die ‚AVA‘ in Nürnberg, deren Hauptregisseur (und Mitbegründer vor zehn Jahren) der 33Jährige Oliver Sommer ist.

„Puh“, stöhnt der Franke denn auch, der schon Projekte wie Blümchen, Music Instructor oder Culture Beat optisch in Szene gesetzt hat, „in meinem Metier müssen echt die meisten Anbiederungen ans sogenannte Format gemacht werden. Dance-Videos haben selten eine Geschichte zu erzählen, sie leben von rasenden Schnitten, grellen Farben und scharfen Tanz-Szenen. Da muß man sich schon einiges einfallen lassen, damit es einem bei der Arbeit nicht langweilig wird. Gleichzeitig ist aber genau das natürlich auch ein Ansporn.“

Dafür stimmt die Kohle in diesem Metier mehr als in anderen Video-Produktions-Bereichen, da die Plattenfirmen sehr genau wissen, daß speziell Dance-Songs meist durch Clips zu Hits mutieren. Trotzdem sollte man sich auch bei diesem Job am Etat orientieren, meint Sommer: „Wir machen meist“, erklärt er, „ein Pauschalangebot nach Absprache mit der Plattenfirma – und für gewöhnlich halten wir uns daran. Denn Text: Michael Fuchs-Gamböck wenn du das Etat zu oft überziehst, bist du schnell aus dem Rennen. Die Konkurrenz schläft nicht!“

Nein, sie schläft nicht – wenn sie auch nicht immer so fleißig ist wie das Hamburger Regie- und Produzenten Duo Nick Schofield und Marcus Sternberg. Der 38jährige Schotte Schofield und der 31jährige Süddeutsche Sternberg haben in nur knapp zwei Jahren seit Gründung ihrer Firma über 50 Videos abgefilmt, darunter VIVA-Dauerbrenner wie ‚Nordisch By Nature’vom Fetten Brot oder ‚Magic Carpet Ride‘ von den Mighty Dub Catz.

Dennoch kann man bei dem kreativen Zweier nicht von Konfektionsware oder gar gesichtsloser Fließbandarbeit sprechen – im Gegenteil, denn „wir sind ja beide eigentlich gelernte Drehbuchautoren“, erzählt Marcus Sternberg, „wir haben früher Comedy-Serien fürs Fernsehen verfaßt. Die wurden auch immer brav bezahlt, aber nie ausgestrahlt, weil den Verantwortlichen unser Humor zu schwarz war.“

„Irgendwann hat uns diese Tatsache schwer frustriert, also wechselten wir die Branche und verlegten uns auf Pop-Videos. Jetzt machen wir das gleiche wie vorher, nämlich schräge Comedy-Serien – nur daß die heute eben vier Minuten lang und mit Musik unterlegt sind.“

Jedenfalls haben Schofield & Sternberg-Videos derzeit eine immense Rotations-Quote bei VIVA, „und das“, freut sich Sternberg, „ist ein klasse Verhandlungsargument bei Gesprächen mit Plattenfirmen. Die wissen mittlerweile, daß sie bei uns keine verfilmten Modenschauen kriegen, wie bei etlichen unserer Kollegen, sondern ein Video mit Grips und Witz. Und daß sie dadurch speziell Newcomer-Bands ein Image verpassen können.“

Image, das ist auch das Zauberwort der Kölner Firma ‚CZAR‘, gegründet von Nikolas Mann. Der gebürtige Kalifornien seit rund vier Jahren in der Domstadt zuhause, hat sich, wie er lächelnd zugibt, mehr oder weniger ins Video-Geschäft eingeschlichen. Der clevere 29jährige war bereits als Teeny Mitglied einer Rock-Band, „in der Zeit“, erzählt er, „sammelte ich schon Erfahrungen vor der Kamera und habe den Clip-Regisseuren während der Arbeit stets über die Schulter geschaut. Learning by doing, das war und ist seit jeher meine Devise.“

Zwei Jahre, nachdem Nikolas vom sonnigen Kalifornien ins trübe Köln übergesiedelt war, gründete er seine eigene Firma: die CZAR Films GmbH, bestehnd auf vier festen und zahlreichen freien Mitarbeitern. Mann ist bei CZAR nicht nur Initiator, sondern auch Regisseur.

Und Nikolas‘ unbändiger Tatendrang hat sich bezahlt gemacht: CZAR ist mittlerweile eine der angesagtesten – und kreativsten – Videofirmen in Deutschland, mit einer Zweitproduktionsstätte in London („wo rund 80 % unserer Clips gedreht werden“, sagt Mann) und, neben dem Maestro himself, mit drei weiteren Regisseuren im Schlepptau. Auch die Liste der Künstler, die bei CZAR ihre Clips drehen ließen, liest sich prächtig: Herbert Grönemeyer, Westernhagen, Fury In the Slaughterhouse oder Selig, aber auch international renommierte Acts wie Ten Sharp, Womack & Womack oder die Weather Girls.

„Am liebsten aber“, meint Nikolas, „arbeiten wir mit Newcomer-Bands zusammen, weil deren Stil noch nicht festgelegt ist. Dadurch haben wir kreativen Spielraum, wir können als Video-Macher das optische Image mitentwickeln. Sprich: Wir haben nicht nur ein geschäftliches Interesse daran, Musik-Videos zu drehen, sondern wir wollen auch den Zeitgeist repräsentieren und vorantreiben. Bei Selig etwa ist uns das prächtig gelungen: Eine talentierte Band, die man – auch visuell – nach und nach zu Superstars aufgebaut hat.“

„Noch wichtiger aber ist“, brüstet sich Mann, „daß wir international konkurrenzfähige Produkte abliefern, das heißt, nicht nur welche auf VIVA-, sondern auch auf MTV-Niveau. Ich denke, ein entscheidender Aspekt in diesem Metier!“

Nikolas ist nämlich überzeugt davon, daß „das ästhetische Empfinden der MTV-Macher nach wie vor höher als das der VIVA-Macher ist. Erst wenn dein Clip auf MTV gespielt wird, hat er wirklich Klasse und sich in der Branche etabliert.“

Dieser Ansicht ist auch Christoph Vitt, Geschäftsführer und gleichzeitig Kameramann der fünfköpfigen Düsseldorfer Clip-Firma EVF: „Es gibt eine Art VIVA-Konzept“, meint der 29jährige, dessen Firma vor einem Jahr an den Start ging, „und das steht für schnelle Schnitte, bunte Bilder, hübsche Frauen, viel Bewegung. Leichte Kost eben. Wenn du dann noch eine fröhliche Dance-Nummer als Unterlage hast, kannst du davon ausgehen, daß VIVA das Video in seine Rotation aufnimmt.“

EVF gingen einen beschwerlicheren, unkonventionelleren Weg und knackten die VI-VA-Rotation dennoch. „Wir haben“, erzählt Vitt, „die letzten fünf Ärzte-Videos gedreht. Dabei legten wir nicht auf stupide Einheitskost, sondern auf Extravaganz und Originalität wert. Und siehe da, es hat geklappt: die Clips werden rauf und runter gespielt bei VIVA! Darauf sind wir stolz, denn dadurch haben wir nicht nur Erfolg gehabt, sondem sowohl den Bands wie uns ein unnachahmliches Image verpasst. Ich denke, in schnellebigen Zeiten, in denen gerade junge Menschen mit Eindrücken nur so zugeballert werden, ist sowas das Wichtigste in dieser Branche. Und manchmal ist es auch recht einfach, ein Image zu konstruieren.“

Genauso einfach hat auch der Schwede Fredrik Gunnarsson seine seit 1991 in München ansässige Video-Firma ‚Klipp-Productions‘ etabliert. Gegründet 1991, hat der 36jährige mit dem Schweizer Paß, der seit über zwölf Jahren in Deutschland zuhause ist, bis heute Superstars wie die Cardigans, Snap, Jule Neigel, Ace Of Base, U-96 und viele mehr in Szene gesetzt. Was daran liegt, daß er aggressive, bombastische und dabei stets augenzwinkernd lustige Videos dreht, die in der Branche ihresgleichen suchen.

Doch das alles ist ihm längst nicht der Ehre genug, denn Gunnarsson ist inzwischen ziemlich frustriert, was sein Busineß angeht. „Seit VIVA on air ist“, wettert er, „ist das Niveau versaut. Ich sehe ja ein, daß sich VI-VA und MTV vom Format her unterscheiden müssen, weil sonst die Kids viel zu oft hin- und herzappen. Aber das Format von VIVA, diese grellen, hibbeligen Farben, widersprechen meinem Sinn für Ästhetik. Und ich kann auch nicht für ein Stammpublikum zwischen 8 und 14 Jahren produzieren, das ist eine Altersfrage, schließlich bin ich jenseits der 30.“

Das sind auch die neun Mitarbeiter vom Studio ‚Film Bilder‘. Ihr Anspruch ist allerdings eh ein völlig anderer. „Ist ja klar“, grummelt Studioleiter Thomas Meyer-Hermann, „denn wir produzieren ausschließlich Trickfilm-Videos. Und das ist natürlich eine wesentlich aufwendigere Angelegenheit als bei sogenannten ‚Real-Clips‘. Auch eine teurere Angelegenheit, weil wir statt vier Tagen meist vier Wochen und länger an einem Film sitzen. Dafür haben unsere Kunden allerdings die Gewähr, daß sie etwas ganz Besonderes kriegen. Einen echten Hingucker!“

Darauf wert gelegt haben u. a. Die Toten Hosen, die bei der Stuttgarter Firma ihren letzten Spot ‚Zehn kleine Jägermeister‘ bestellten oder das Sex-Dance-Projekt E-Rotic, das seine Chartsplazierungen in erster Linie den keß-gestrichelten Streifen vom Studio ‚Film Bilder‘ zu verdanken hat. Trotzdem glaubt der 40jährige Meyer-Hermann nicht, daß „Trickfilm-Clips je in Mode sein werden. Dafür sind sie zu teuer, denn unter 80.000 Mark fängt keine Firma in unserer Branche zu arbeiten an.“

Für ‚Anzilotti & Münzing-Productions‘ in Frankfurt ist eine solche Summe nie das Thema gewesen: „Uns war und ist“, erklärt Geschäftsführer Konny von Löhneysen, „immer nur wichtig, daß wir wegweisende Videos drehen, mit der modernsten Technologie und bisher nie dagewesenen Effekten. Wir sind absolute High-Enders in unserem Bereich. Und wir hatten nie den Anspruch, national oder international konkurrenzfähige Clips zu fabrizieren, sondern wir wollten in der ganzen Welt an der Spitze liegen.“

Große Worte, doch ‚Anzilotti & Münzing Productions‘, vor knapp zwei Jahren ins Leben gerufen, kommen ihnen auch nach. So sind ihre Snap-Gips nach wie vor Weltklasse, was die Special Effects angeht. „Aber das“, erklärt der 33jährige von Löhneysen, „liegt daran, daß Snap das Produkt der beiden Firmengründer ist und sie sich deshalb entsprechend ins Zeug legen, um dieses Produkt perfekt zu vermarkten. Für uns ist das Beste gerade gut genug.“ Ein Anspruch, der für alle anderen Musik-Video-Firmen in Deutschland noch Zukunftsmusik ist. Dennoch gibt Anja Schiegl von VIRGIN die Parole vor, wenn sie erklärt: „Ehe VIVA ans Netz ging, dachten wir, daß wir Musik-Clips nur in England oder in Amerika produzieren lassen können. Wir Plattenfirmen hatten keine Ahnung davon, daß es in Deutschland Leute gibt, die Videos machen. Da kam VIVA und alles war anders. Da schössen talentierte Leute wie Pilze aus dem Boden. Ein Ende dieses Booms ist nicht in Sicht.“