Der virtuelle DJ, der einfach alles hat


Mit der „größten CD-Auswahl der Welt "wirbt ein bekannter Elektronikriese in deutschen Innenstädten. Die mag er wohl auf Lager haben. Die größte Musik-Auswahl der Welt aber dockt via Internet gerade bei uns zu Hause an - als Abo-Musik-Flatrate für ein paar Euro im Monat.

Ein Interview des Sony-BMG-Vorstandsvorsitzenden Rolf Schmidt-Holtz in der FAZ hat Musikmacher und -hörer gleichermaßen in gespannte Erwartung versetzt. „Wir haben viele Ideen“, frohlockte der Manager da und kündigte „eine Art Musik-Flatrate für alle MP^-Spieler“ an: „Für einen monatlichen Beitrag steht Ihnen die gesamte Musikwelt offen.“ Noch in diesem Jahr will sein Konzern damit online gehen, der Zugang soll sechs bis acht Euro kosten – pro Monat. Eine einzige CD beim Elektronikriesen kostet das Doppelte. Kein Wunder also, dass der Markt der konventionellen Tonträger immer rascher einbricht. In Deutschland war der CD-Umsatz bereits um 40 Prozent geschrumpft, im ersten Quartal 2008 wurden es noch einmal acht weniger. Die „vielen Ideen“, von denen Schmidt-Holtz fabuliert, kommen für die kollabierende Musikindustrie also fast schon zu spät. Der Sony-BMG-Chef sieht das – zumindest nach außen – nicht ganz so dramatisch: Noch zwei bis drei Jahre, spekuliert er, werde das die Branche schrumpfen. Danach erwarte er neues Wachstum. Dieses soll – wer sonst? – das digitale Geschäft bringen. Doch noch sind die Einkünfte aus dem Online-Musikvertrieb ein kläglicher Bonsai, verglichen mit den Renditen, die einst die klassischen Tonträger brachten. Rund 35 Millionen Titel saugten die Deutschen laut Media Control 2007 gegen Bezahlung aus dem Netz auf ihre Rechner. Bei einem etablierten Kaufpreis von durchschnittlich 99 Cent pro Song aber bleibt der Kuchen klein, den sich Label, vertrieb, Verkauf und Künstler teilen können. Selbst das größte Angebot seiner Art, Apples iTunes, rechnet sich nur über die Quersubventionierung durch verkaufte Abspielgeräte. Auch beim Branchenführer des digitalen Musikvertriebs denke man deshalb über alternative Modelle nach, sagt die Gerüchteküche. Demnach sollen Kunden künftig so genannte „Premium“-Modelle von iPod und iPhone erwerben können und dafür Zugriff auf den kompletten iTunes-Musikkatalog erhalten. Im Gespräch sind Aufpreise von bis zu 100 Dollar. Ir Alles Spekulation“, heißt es dazu nur bei Apple Deutschland. Einer ähnlichen Idee folgt das offenbar kurz vor der Einführung stehende „Comes With Music“-Angebot von Nokia, für das der Handyhersteller derzeit um Mitwirkung von Plattenfirmen wirbt: Käufer bestimmter Nokia-Handys sollen dann als Mehrwert – zeitlich beschränkt – freien Zugriff auf Musikdateien haben.

Egal, welcher Branchenhüne demnächst Musik flatratet – neu ist die Idee nicht. Auch in Deutschland sind entsprechende Angebote längst auf dem Markt. Jamba oder Musicload etwa gewähren ab 8,95 Euro pro Monat Zugriff auf bis zu 1,5 Millionen Songs. Die einzelnen Flatrates unterscheiden sich in wichtigen Details wie Streaming, Dateiformat, Kopierschutz und Weiterverwendung jenseits der heimischen Festplatte. Napster beispielsweise berechnet monatlich 9,95 Euro, verlangt aber für die Nutzung der Stücke auf einem MP3-Player fünf Euro extra. In der Deutschland-Zentrale von Napster in Frankfurt sieht man die Zukunft des Geschäftsmodells rosig: „Flatrates erweisen sich zunehmend als profitabler als der digitale Einzelverkauf“, sagt die für Europa zuständige Marketing-Direktorin Bettina Maul. Rund 750.000 Abonnenten zählt ihr Service derzeit weltweit, Tendenz steigend. Noch schneller weitet sich die Titelanzahl in der Datenbank aus: von ursprünglich einer Million auf derzeit fünf Millionen binnen zweieinhalb Jahren. Damit hält die auf CD und Vinyl manifestierte Musikauswahl des Elektronikriesen kurzerhand Einzug ins heimische Wohnzimmer. Puristen mögen den ästhetischen Verlust des physikalischen Tonträgers beklagen, fünf Millionen Stücke auf geschätzt 500.000 CDs allerdings bekommt kein Mensch im heimischen Regal unter (warst du schon mal beim Kollegen Koch daheim?-Anm. d. Red.).

Es scheint, als würden sich Art und Weise des alltäglichen Musikkonsums tatsächlich grundsätzlich wandeln. Seit Thomas Alva Edison 1877 den ersten Phonographen vorstellte, beraubte man klangliche Ereignisse ihrer Flüchtigkeit, indem man sie an ein bestimmtes Material fesselte: erst Stanniol und Wachs, dann Schellack und Vinyl, später Magnetband und CDs. Das Internet, das längst nicht mehr nur über irdische Kabel, sondern per UMTS und Satellit auch über die Luft zu uns kommt, entspricht insofern viel mehr dem eigentlichen Wesen der Musik. Welcher Musikliebhaber hat sich nicht schon in den Untiefen seiner Plattensammlung verirrt, von Album zu Album, von Stück zu Stück treiben lassen? Musikflatrates öffnen den Zugriff auf Millionen Titel und sprengen so die Grenzen jeder Sammelleidenschaft. Und danach muss man nicht einmal die Cover aufräumen.