Der Tod ist ein Trick: Wie die Künstler 2016 den Tod auskonterten
Bowie und Prince gingen. Cohen zockte noch einmal und folgte ihnen. Und Nick Cave trauerte. Der Tod ist seit je ein Protagonist des Pop. Im Jahr 2016 drängte er sich auf – und wurde von den Besten ausgekontert.
Dennoch war der Tod eines der Themen des Popjahres 2016. Vor allem weil der Pop ihn mehr denn je zum Thema machte. Ein Großmeister darin ist Mark Kozelek. Die Lyrics seiner Songs füllen Tischdecken, immer wieder beschreibt er darin Todesfälle und berichtet von den Tragödien dahinter. Seine Texte sind eine exzellente Grundlage für schwarzhumorige Comics; zum Beispiel starb seine Cousine zweiten Grades und Songheldin „Carissa“ bei einem Haushaltsunfall mit explosiven Stoffen im Hinterhof, schon ihr Großvater ließ bei einem ähnlichen Unglück sein Leben – „Goddamn, what were the odds?“. Kozeleks Text zu „Exodus“, zu hören auf der Kollaborations-LP mit den britischen Post-Rockern und -Metallern Jesu aus dem Frühjahr, geht noch einige Schritte weiter. Der Songwriter erzählt davon, wie in die Airport-Routine einer Ankunft in Heathrow hinein die Nachricht vom Tod des Sohnes von Nick Cave im Sommer 2015 platzte. „The news hit me like a bus into a hill.“ Kozelek denkt über Mike Tyson nach, dessen vierjährige Tochter Exodus ebenfalls verstarb. Über die Eltern von Carissa. Über alle „bereaved parents“, also die Eltern, die ihre Kinder überleben. „The loss of a child is something no parent is prepared to face.“
Wie reagiert ein Künstler auf das, was jenseits aller Vorstellungen lag?
Man stellt sich vor, wie es ist, wenn man selbst stirbt. Aber sich ein Leben auszumalen, in dem man am Grab seines Kinder steht: Das ist in der Fantasie ein Tabu und im Traum der schlimmste Alb. Wenn der Tod ein Trick ist, dann ist sein übelster Move, den Müttern und Vätern ihre Kinder zu nehmen. So wie es Nick Cave und seiner Frau, Susie, passiert ist, als ihr Sohn Arthur im Juli 2015 in Brighton von einer Klippe stürzte. Wie reagiert ein Künstler auf das, was jenseits aller Vorstellungen lag? Der Prozess für das Album SKELETON TREE war bereits im Gange; es gibt Momente auf der Platte, die vom Schicksal unberührt sind, weil sie vor dem Unglück entstanden. Aber die Trauer färbt alles: jeden Ton, jede Zeile, jede Instrumentierung. Hier ist der Tod so rigoros wie das Leben: ganz oder gar nicht.
Sich als Musiker dieser Totalität zu stellen, sich dabei sogar zuhören und zuschauen zu lassen: Das erzeugt, rein künstlerisch gedacht, eine unglaubliche Wucht. Viele Leute hatten daher begründete Angst vor dem Album und dem die Platte begleitenden Film, „One More Time With Feeling“, den Cave im Kino zeigen ließ, bevor er die Musik veröffentlichte. Es wird generell viel geweint in Kinos, fast immer tröstet das Wissen, einer fiktiven Geschichte zuzuschauen. Nur so ließ sich seinerzeit „Dancer In The Dark“ aushalten, insbesondere die Schlussszene, als Selma, gespielt von Björk, durch den Strick stirbt. „One More Time With Feeling“ bietet diese Zuflucht nicht. Das wusste jeder, der sich in den Sessel fallen ließ. Daher die Angst. Dennoch verließen viele Zuschauer nach der Vorstellung die Multiplexe zwar sprachlos, aber nicht niedergeschlagen.
Cohen wusste wohl, dass YOU WANT IT DARKER seine finale Vorführung sein würde
Denn Nick Cave schenkt der Auseinandersetzung mit dem Tod ein bedeutsames philosophisches Rückgrat, indem er den Unfall, der Leben raubt, mit den Unfällen vergleicht, die Kunst fördern: Passieren diese „accidents“ als nicht zu verhindernde Möglichkeiten? Oder entstehen sie, weil wir Menschen bewusst oder unbewusst Situationen erschaffen, in denen das Schicksal zuschlagen kann – mit dem Risiko, nicht zu wissen, ob sie zum Glück oder Unglück führen? Folgt man dem zweiten Gedanken, ist der Tod ein Trick des Lebens. Leonard Cohen war auf diesem Gebiet ein Experte. Sein Tod wurde publik, nachdem Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war und wir uns in unseren Social-Media-Blasen mit Selbstzweifeln konfrontierten: Ist es vielleicht ein Fehler, dass wir uns im Netz dermaßen zusammenrotten? Das kollektive Gedenken an Cohen in den Facebook-Timelines führte uns dann schnell wieder zusammen. Sein Tod: ein trauriger Trost. Leonard Cohen hatte seit je Lieder über die Vergänglichkeit geschrieben. Er textete über die Liebe, die vergeht, Sehnsüchte, die keine Erfüllung finden, Leben, das genommen wird. Cohen wusste wohl, dass YOU WANT IT DARKER seine finale Vorführung sein würde. Noch einmal setzte er sich in das elegante Lokal an der Ecke, in dem uns Solange mit ihrem Album A SEAT AT THE TABLE einen Platz anbot, um über Rassismus zu diskutieren.
Als wir uns gerade in Rage redeten, war der Herr mit Hut am Einzeltisch bereits im Begriff, das Lokal zu verlassen. Cohen war müde, er ließ sich den Mantel holen: „I’m leaving the table, I’m out of the game.“ Der Kanadier hatte seine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Tod genutzt, um kurz vor Ende das letzte Level des Lebens zu zocken: das Duell mit dem Endgegner. Mit YOU WANT IT DARKER provozierte er den Tod und alle überirdischen Mächte, die mit ihm zu tun haben. Der Song „Treaty“ zum Beispiel war eine Aufforderung an Jesus Christus. Wäre doch verlockend, kurz vor Schluss noch einen Bund mit ihm zu schließen: „I wish there was a treaty between your love and mine.“ Da nahm es der jüdische Songwriter, der einst einem buddhistischen Mönch diente, in Sachen Liebe also mit Jesus auf – das nennt man Chuzpe!
Der Tod ist ein Trick. Aber jeder Trickser braucht ein Gegenüber
Aber es gab wohl kaum einen anderen Songwriter, der so viel über alle Facetten der Liebe wusste. Über den Schweinkram („Don’t Go Home With Your Hard-On“). Aber auch über die platonische Liebe: Bereits im Sommer starb Marianne Ihlen, seine Muse, wichtigste Freundin – und vielleicht sogar größte Liebe. Im letzten großen Interview sagte er der „New York Times“, nun sei auch er bereit für den Tod. „I wish there was a treaty“: Wenn Jesus den Deal will, dann hat er also nicht mehr viel Zeit. Gottes Sohn stand unter Zugzwang. Rest in peace? Es schien eher so, als hätte Cohen vor, den Himmel aufzumischen. Der Tod ist ein Trick. Aber jeder Trickser braucht ein Gegenüber. Handelt es sich dabei um jemanden, dessen Licht gleißend und hell schillert, kann das Spiel mit dem Tod zum Spektakel werden. Das ist die Frohe Botschaft des Arschjahres 2016. Wie’s weitergeht? Gestorben wird immer. Die Frage ist nur wie. Hoffen wir mit Distelmeyer das Beste: „Tok, tok, tok, ich klopf auf Holz.“