Der Streit um das Yes-Erbe


Hoffnungsschimmer für alle alten YES-Fans: Sänger Jon Anderson trommelte die Traumbesetzung von 1971/72 wieder zusammen und nahm heimlich mit Wakeman, Bruford & Howe ein neues Album auf. Trotz Streit mit Chris Squire um die Namensrechte an YES, lud er Sylvie Simmons exklusiv vorab ins Studio ein.

Es ist 9.30 Uhr: Rick Wakeman, knusprig wie ein Comflake in seinem Leinenanzug und den weißen Quadratlatschen, in die ihn seine Frau gesteckt hat, verteilt in den Air Studios London die erste Kaffee-Ration dieses Tages. Er ist gerade mit dem morgendlichen Pendler-Flug von seinem Wohnsitz auf der Isle of Man eingetroffen: Jon Anderson muß jeden Augenblick aus Barbados kommen; Steve Howe und Bill Bruford sind aus der Provinz nach London unterwegs.

Zweck dieser Versammlung ist es, letzte Hand an eine LP zu legen, deren Entstehungsgeschichte November ’88 in einem Pariser Studio begann, die danach auf Montserrat eingespielt wurde und im Mai in Woodstock abgemischt wird.

Das Werk hat noch keinen Namen. Die Band auch nicht. Im Moment läuft sie unter der Bezeichnung Anderson, Wakeman, Bruford und Howe. Reihenfolge beliebig! Es wäre zweifellos durchaus berechtigt, diese Band Yes zu nennen – es handelt sich zum überwiegenden Teil um die Besetzung, die solche definitiven Klassiker wie FRAGILE und CLOSE TO THE EDGE aufgenommen hat. Nur darf man das nicht, weil es da noch die anderen Yes gibt, nämlich Tony Kaye. Alan White, Trevor Rabin und Chris Squire, neben Anderson zweites Gründungsmitglied und auf allen Yes-Alben vertreten. Er weigerte sich, an der Wiederauflage der alten Band teilzunehmen, besitzt gleichzeitig aber auch die Rechte auf den Namen. Im Laufe dieses Jahres will seine Formation ein eigenes Album herausbringen und wahrscheinlich zur selben Zeit auf Tour gehen, zu der Anderson, Wakeman, Bruford und Howe mit ihrer Show – unter dem Motto „An Evening with Yes Music“ – unterwegs sind.

Ganz schön verwirrend für halb zehn Uhr morgens. Wakeman, entgegenkommend wie immer, bemüht sich redlich Licht in die Angelegenheit zu bringen.

„Tatsache ist, daß Jon vertraglich verpflichtet war, zwei Alben mit Yes in Amerika aufzunehmen: 90125 und BIG GENERATOR. Nachdem er das erledigt hatte, schrieb er einen Haufen Musik, die sehr in die futuristische Richtung der alten Yes ging, aber mit der neuesten Technologie aufgenommen werden sollte. Weil er den Eindruck hatte, daß die amerikanische Besetzung seine Energieströme eher blockierte, lehnte er es ab, die Option auf weitere Alben wahrzunehmen.

Sie boten ihm ein Vermögen!“, lacht Wakeman. Aber Anderson war nicht zu überreden. Er vergrub sich in einem griechischen Dorf, starrte Tag für Tag von einem Berg aus auf die See und ließ seine Gedanken in kosmischen Sphären kreisen, wo so profane Dinge wie Geld keinen Platz haben.

„Ich sah hinunter auf den Hafen, es war Vollmond und alles war blau“, sagt Jon. der gerade eingetroffen ist. „Es war wie bei Walt Disney, und ich dachte: Es gibt mehr im Leben, als ewig den Top Ten hinterherzurennen. Man sollte vielleicht einfach wieder Musik machen. Und das habe ich getan. Ich hatte einfach das Gefühl, daß es an der Zeit war, wieder mehr Kontrolle über meine musikalische Energie zu gewinnen.“

Während der letzten Monate in Los Angeles hatte er versucht, die Band für einige seiner Ideen zu gewinnen: Fusion der neuen Yes mit der alten Besetzung (mit der es „am meisten Spaß“ gemacht hatte), eine Woche lang Konzerte in der Albert Hall und musikalische Neuorientierung weg von der auf die US-Radiostationen ausgerichteten Rock-Schiene, zurück zu den progressiveren Wurzeln.

Anderson wandte sich an den ehemaligen Yes-Manager Brian Lane und bat ihn. mit Wakeman, Bruford und Howe in Verbindung zu treten. Denen gefiel die Idee; Chris Squire nicht. Er ließ eine Salve von Anschuldigungen los, die von Treulosigkeit über Tyrannei und Geldgier bis zum „Leadsänger-Größenwahn“ reichten.

Anderson ist darüber ehrlich erschüttert. „Er sagte zu mir: ,Bedeutet das die Trennung?‘, und ich erwiderte: ,Es sieht so aus, Chris‘. Chris wußte ganz genau, daß die Dinge nicht so liefen wie sie sollten. Auf der letzten Tour mit der Band hatte ich sie gebeten, vielleicht mal, Close To The Edge‘ zu üben – und wenn die das dann nicht tun, denkt man sich: ,Nun gut, anscheinend sind sie an den Dingen, die für Yes einmal wichtig waren, nicht interessiert.‘ Für mich war das eine einseilige Liebesgeschichte. Aus Yes war eine Heavy-Rock-Band geworden. Es gab musikalisch nichts mehr zu entdecken. „

Bei BiU Bruford klingelte das Telefon in Tokio, wo er „mit Kasumi Watanabe, dem japanischen Eric Clapton, arbeitete und eine für Juni geplante Tour mit meiner Jazzband Earthworks vorbereitete. „

Steve Howe, gerade zurück von Miles Copelands „Night Of The Guitars“-Tour, war mit einem Instrumentalalbum beschäftigt. Rick Wakeman schließlich bastelte an seiner Multi-Karriere: Filmmusik, Solo-Album und gelegentliche Auftritte im Fernsehen als Moderator einer Kindersendung. Alle führten also, musikalisch gesehen, nach ihrer Scheidung ein überzeugtes Junggesellendasein. Und doch gab es für jeden einen ganz privaten Grund, wieder in den Stand der Ehe zu treten.

Bruford: “ Viele werden denken, Yes hätten sich reformiert, aber Nostalgie irgendwelcher Art interessiert mich überhaupt nicht. Ich mag neue Bands. Man sollte nie länger als zwei oder drei Jahre in einer Band spielen. Aus diesem Grund habe ich seinerzeit Yes verlassen – ich brauchte frischen Wind.

Im Grunde meines Herzens bin ich eigentlich kein Bandmusiker, deshalb spiele ich immer bei mehreren Projekten mit, die mich musikalisch interessieren. Was mir allerdings fehlte, waren die großen Stadien, wo man als Schlagzeuger richtig aufdrehen kann.“

Howe: „Zuerst hatte ich Bedenken, wie mit jeder Band, bei der ich einsteigen soll. Aber hier war es anders. Es lohnt sich, Schwierigkeiten zu überwinden, wenn das musikalische Ergebnis vielversprechend erscheint. Außerdem kann ich bei diesem Projekt ein paar meiner Songs einbringen, anstatt sie anderen Leuten zu überlassen.

Mit Yes sind wir alle großgeworden: jetzt wieder zusammen zu spielen ist ein interessantes Experiment. Dieses Projekt ist aus der Erwartung entstanden, daß bestimmte Dinge, die wir schon einmal sehr gut gemacht haben, wieder sehr gut werden können. „

Wakeman: “ Wir sind immer Freunde geblieben, besonders Jon und ich. Deshalb bin ich überzeugt, daß auch diesmal wirklich gute Musik herauskommt. Ich werde dieses Jahr 40. und ich glaube kaum, daß ich die nächsten 20 Jahre überstehen könnte, ohne zu wissen, was für Musik bei diesem Versuch herauskommen wird.“

Berichte aus der Zeit der Auflösung dieser Besetzung gaben spannende Lektüre ab: Kämpfe bis aufs Messer zwischen Anderson und Wakeman. wobei (anstelle der Messer) Jon, der kosmische Vegetarier, eine Gurke schwang, während Wakeman, Bierfreund und Fleischesser, mit einem Steakknochen herumfuchtelte.

„Jon durchlief damals nur eine Phase“, winkt Wakeman ab. Jetzt ist es eigentlich umgekehrt: Ich habe seit vier Jahren keinen Tropfen mehr getrunken, während Jon an der Flasche hängt. Außerdem ist er kein Vegetarier mehr – im Gegenteil, je blutiger, desto besser“, lacht er.

„Man wird erwachsen“, sagt Bruford. „Heute sind wir alle ein bißchen toleranter, während wir 1972 wie die Katzen aufeinander losgingen, ein Haufen 18jähriger mit völlig verschiedenen Backgrounds: Rick, der Musiker mit Konservatoriums-Ausbildung, ich, ein rotznäsiger Jazzer, und Jon, der ursprünglich Milchmann in Nordengland war. Schmeiß diese Jungs Anfang der 70er zusammen und laß sie sich über Musik streiten, und du weißt, was ein Streit ist. Es war 10 Prozent Herumgezanke und zu 90 Prozent nur peinlich.“

Und jetzt? „Jetzt ist es zu 100 Prozent Musik.“

Je nachdem, mit wem man gerade spricht, klingt das neue Material entweder ein bißchen wie Yes, überhaupt nicht wie Yes oder wie CLOSE TO THE EDGE, nur Ende der 80er, mit modernstem Equipment und der in der Zwischenzeit gewonnenen Reife aufgenommen. Das Material, etwa anderthalb Stunden insgesamt, besteht zum größten Teil aus etwa zehnminütigen, lose miteinander verbundenen Stücken.

Die Bandmitglieder sprechen nicht nur unabhängig voneinander mit mir, sie haben auch ihre Parts zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. Anderson hatte die ungewöhnliche Idee, junge Studiomusiker die basic tracks einspielen zu lassen, um „frisches Blut reinzubringen“, eine Basis zu schaffen, auf der Bruford, Howe und Wakeman dann ihre individuellen Ideen realisieren konnten.

Die meisten Stücke des Albums stammen von Anderson (die Veröffentlichung ist für Mai angesetzt, „ganz schön wagemutig, wenn man bedenkt, daß Yes früher für jahrelange Arbeit an ihren Alben berüchtigt waren“, lacht Wakeman). Aber wenn nichts schiefgeht (und außer Anderson will mir darauf niemand eine Garantie geben!) soll der Vertrag für die Band auf vier weitere Alben erweitert werden.

„Das Einzige, was schiefgehen kann“, sagt Wakeman – der sich, wie alle anderen, zur Sicherheit auch weiterhin fleißig mit seiner Solo-Karriere beschäftigt – „ist, daß uns die Lust am Abenteuer verlorengeht.