Der Siegeszug der Singenden Bärte


2011 kamen die Beardos aus den Wäldern: Der sakrale Folk von Bon Iver und Co erforschte neue Territorien.

Wenn einem Musiker der Phil-Collins-Vergleich ins Haus steht, ist normalerweise etwas schiefgelaufen. Im Fall des hochgelobten US-Songwriters Justin Vernon ist die Sache nicht so einfach. Dass sein im Sommer erschienenes Album Bon Iver, Bon Iver von Bloggern in die Nähe von Phil Collins gerückt werden konnte, war einer Soundästhetik zu verdanken, die alle gültigen Verabredungen der Alternative-Gemeinde infrage zu stellen schien. 80er-Jahre-Flanger-Gitarren, wolkige Keyboardklänge, dieser Tranquilizersingsang – sollte das plötzlich heißer Scheiß sein? Es war ein Akt der Emanzipation, mit der sich die Klasse der Folk-Beardos 2011 von Publikum und Erwartungen löste.

Beardos! Sie wissen schon, diese Boygroups mit den exquisiten Gesichtsbehaarungen, deren stilbildende Kräfte bis in Pop-Intelligenzija und grünen Wohlfühlkiez daheim reichen. Der Bart diente als Distanzhalter zum Mainstream, avancierte zum Emblem der Sinnsucher und Unterholz-Entertainer, die das bisschen Spiritualität zu finden suchten, das die bösartige Geldwelt noch nicht vernichtet hatte. Dass diese Suche sich am Ende neue Klangmuster und Soundnischen erobern konnte, ist im Fall von Bon Iver ironischerweise auch auf die Begegnung mit einem Vertreter der Goldkettchen- und Geldwelt zurückzuführen.

Es fing damit an, dass Vernon für seinen großkalibrigen HipHop-Kollegen Kanye West vor dem Mikro stand, später erhielt Vernons zartes Falsett einen zünftigen Autotune-Schliff. Die Plätze, denen der Songwriter in seinen neuen Liedern nachspürte, stellten nur mehr Erinnerungen an das dar, was den amerikanischen Geschichtenschatz einmal ausmachte, digital bis zur Unkenntlichkeit unscharf gestellt. Die Sound-Ästhetik war dazu auserkoren, Freunde der akustischen Meditationen aus den Wäldern Wisconsins zu scheuchen.

Ähnliches Irritationspotenzial enthielt das zweite Album der Fleet Foxes aus Seattle. Den sakralen Folksongs des 2008er-Debüts folgte eine weniger kohärente Platte, die Einflüsse aus weit entfernten Zeiten und Orten verriet und seltsam ins Philosophisch-Astronomische kippte. „Warum dreht sich die Erde immer noch um die Sonne“, fragte Sänger Robin Pecknold in einem Song. Anderenorts trat eine Bassklarinette zum Kampf gegen ein Kammerensemble an; hätte man eine Suchmaschine für spirituelle Großtaten befragen können, wäre man selber draufgekommen: Zur Zeit der Aufnahmen beschäftigte Pecknold sich mit John Coltranes legendärer Kollektivimprovisation Ascension aus dem Jahr 1965. Und die lange Zeit bekennenden Folkies von Iron & Wine haben per Saxofon die Pforten zu R’n’B und Soul weit aufgestoßen. Frischluft tut hörbar gut.

Die spannendsten Momente im Pop sind die, in denen die alten Zuschreibungen nicht mehr funktionieren. Wenn Bild und Ton nicht mehr synchron laufen, wenn kulturelle Konnotationen aufweichen. Fleet Foxes, Iron & Wine und Bon Iver haben 2011 diesen Schritt unternommen. Die neue Freiheit wird sie 2012 noch an ganz andere Orte tragen.