Der Rock wird neu geboren


Es steht nicht eben gut um den Rock ’n’Roll zu Anfang des neuen Jahrtausends. Grunge ist beerdigt, Britpop erlahmt, und statt eine Alternative zum darbenden Alternative Rock zu sein, ergehen sich die vielerorts vorschussgerühmten Nu-Metal-Bands in müden Ideen und noch müderen Bad-Boy-Posen. Frischer Wind weht allenfalls durch schmale Genre-Nischen wie Emo und Hardcore, die aufregend sind, doch nicht mehrheitsfähig genug, um das next big thing im Rock zu werden. Erschwerend hinzu kommt, dass sich die großen Plattenfirmen nicht gerade ins Zeug legen, der Abwärtsentwicklung gegenzusteuern: Der Argerum Raubkopien und illegales File-Sharing wiegt schwerer. So liegt die Hoffnung auf Innovation im Rock einmal mehr im Untergrund. Und genau dort keimt sie.

Das Jahr 2001 ist auf den Tag drei Wochen alt, als das kürzlich wiederbelebte Londoner Indie-Label Rough Trade eine EP mit dem – letztendlich prophetischen -Titel THE MODERN AGE veröffentlicht. Es ist bemerkenswert, dass es sich dabei um nichts weiter handelt als die Demos einer New Yorker Garagenband, und noch bemerkenswerter, dass diese Aufnahmen zunächst nicht in den USA, wohl aber in Großbritannien erscheinen. Später kann man das als ein Indiz dafür sehen, dass die schon bald losrollende Welle kein Epizentrum hat. Aber was heißt schon Welle, Anfang 2001? Noch kennen die meisten ja nicht einmal den Namen der Band, die hinter der EP steckt: The Strokes.

Das ändert sich schnell. Durch alle Indie-Zirkel verbreitet sich die Kunde von der wundertätigen neuen Band, und als die Strokes im Frühjahr auf erste Promo-Touren durch England und Nordamerika gehen, spielen sie fast jeden Abend vor ausverkauftem Haus. Weil sie so offen mit ihrem No-Glam-lmage kokettieren. Weil sich daheim in ihren Plattenschränken, man hört es heraus, Smiths-, Stooges-, Television- und Velvet-Underground-Alben stapeln. Und vor allem: weil sie mit ihrer Musik der jungen desillusionierten Rock-Generation neues Selbstbewusstsein geben, ihr vormachen, wie man mit spärlichen technischen Möglichkeiten und ohne das ganz große Können die Leute trotzdem berührt: Rebellisch, roh, unverbraucht klingen sie. Provozierend unterproduziert. Ihre Gitarren dürfen, nein, sollen sägen, ihre Drums scheppern und klirren, was das Zeug hält. Und wie kratzig dieser Julian Casablancas seine Textzeilen ins Mikro singt … Mehr davon, bitte!

Die fünf New Yorker sind freilich nicht die Ersten, die so etwas machen, dreieinhalb Jahrzehnte nach der großen Garage-Rock-Welle der Sechziger. The Jon Spencer Blues Explosion, Make Up, The Hives, Glucifer, The White Stripes – Monate, teils Jahre vor den Strokes haben sich Bands von den gleichen juvenilen Kräften treiben lassen und mithin großartige Alben herausgebracht. Fernab derbreiten Öffentlichkeit allerdings. Springt erst der zündende Funke über, wird dieses Stil-Revival zu einem Selbstläufer. In den nächsten Monaten schließen sich rund um die Welt unzählige, vom neuen alten Rock infizierte Jungmusiker zusammen: The Vines in Australien, The Von Bondies in Detroit, The Datsuns in Neuseeland, Black Rebel Motorcycle Club in San Francisco, The Libertines in London – um nur ein paar zu nennen. Und da sie neben der inneren Aufbruchstimmung und ihrem sympathisch schludrigen Äußeren zumeist auch den englischen Artikel vor dem Bandnamen gemeinsam haben, bekommt der lange Zeit namenlose Hype am Ende doch noch so etwas wie einen Namen: Die Presse schreibt von einer globalen Invasion der „The-Bands“ und darüber, wie sie den siechenden Rock retten.

Dann kommt der 11. September und mit ihm ein moralisches Nachbeben, das auch die Popkultur erreicht. Konzertabsagen, Krisensitzungen, vermeintlich anstößige Plattencover, die entschärft oder gar nicht erst veröffentlicht werden. Als wenige Tage nach den Terror-Anschlägen mit dem Strokes-Debüt is this it das wohl sehnlichst erwartete Album des Jahres in die US-Läden kommt, fehlt darauf das angekündigte Hohnlied „New York City Cops“ weil es die Band „aus Pietätsgründen „im letzten Moment wieder heruntergenommen bat. Insgesamt aber zeigt die beispiellose Welle der Selbstzensur und Zügelung nur wenig Wirkung auf den neuen Rock. Eine politisch motivierte Bewegung wie Punk hätte es schwer gehabt nach 9/n – dieser aber kommt nun zugute, dass sie ihren Antrieb weniger aus einem politischen als vielmehr aus einem künstlerischen Verdruss nimmt. So lässt sich auch Ende des Jahres das eigentlich unvermarktbare Etikett „Garage Rock“ weiter als Teil einer popkulturellen Bewegung handeln. Auch mit der rotzigsten LoFi-Produktion ist plötzlich ein Plattenvertrag bei einem Majorlabel möglich – schließlich zeigt der Markt einstweilen noch keine Anzeichen von Übersättigung. Dennoch wird es bereits im ersten Jahr des großen Rock-Revivals zunehmend schwer, aus dem Wust neuer Namen diejenigen herauszufiltern, die es sich zu merken lohnt. Zumal selbst für die herausragendsten Bands die wirkliche Bewährungsprobe erst noch ansteht, wenn sie demnächst ihren gefeierten Debüts ebenbürtige Alben folgen lassen sollen. Immerhin dort sieht man inzwischen klarer: Bands wie The Strokes, The Von Bondies und The White Stripes haben mit ihren jüngsten Veröffentlichungen unterstrichen, dass man sie weiter auf dem Zettel haben muss. Sie und andere Newcomer, die vom anhaltenden Garagenrock-Boom, zumindest indirekt, profitieren: Bis in die Topregionen der Charts schössen etwa die Debüts von Kings Of Leon und Franz Ferdinand. Undenkbar wohl ohne 2001.

Mit der Veröffentlichung von Jürgen Teipels Doku-Roman „Verschwende deine Jugend“ läuft 2001 auch im deutschen Pop eine Rückbesinnung auf wavige alte Zeiten an, die sich mehr und mehr zu einem Revival auswächst. Beim Stichwort Revival darf man einen nicht vergessen „der dieser Tage alles, was er anfasst, zu Gold macht: Robbie Williams schiebt mit seinem Album SWING WHEN YOU RE WINNING eine Swing-Nostalgiewelle an und festigt damit endgültig seinen Status als größter Popstar seiner Generation.