Der Londoner Marquee Club wird 30 Jahre


Alle waren sie hier. Ob Stones, Hendrix, Who, Zeppelin, Pink Floyd, Bowie oder Police - auf der Bühne des Londoner Clubs machten sie alle ihre ersten Gehversuche. So klein das Marquee auch war, so groß war seine Faszination. Phil Collins etwa, gerade 15 Jahre alt, kam täglich vorbei, um den Boden zu schrubben. Zum 3O. Jubiläum förderte ME/Sounds-Mitarbeiter Mat Snow noch einige andere Anekdoten aus der bewegten Club-Geschichte ans Tageslicht.

Ich bin geradewegs nach draußen gelaufen und habe das erstbeste Fenster zerschlagen, so beeindruckt war ich!“, schwärmt David Goodman, heute einer von Londons führenden Konzertveranstaltern. The Who und das Marquee hatten sich gefunden, um gemeinsam ein Stück Rockgeschichte zu schreiben.

„Es war das Lauteste, was ich je in meinem Leben gehört habe“, erinnert sich der ehemalige Pink Floyd-Chef Roger Waters an das denkwürdige Ereignis. Der Auftritt der Who verwandelte den feuchten, verschwitzten Club in einen feuchten, verschwitzten Wallfahrtsort, der die Entwicklung der Rockmusik so nachhaltig prägte wie wohl kein anderer Club.

Die Gruppe um Pete Townshend hatte sich im Laufe des Jahres 1964 eine beträchtliche Mod-Anhängerschaft aufgebaut, brauchte aber dringend Auftrittsmöglichkeiten im Londoner West End, um von Trendsettern und den Talentscouts der Plattenfirmen entdeckt zu werden. Das Marquee stimmte widerwillig zu, sie als Vorgruppe an einem Donnerstag auszuprobieren – dem unattraktivsten Abend der Woche, der ansonsten den Dixieland-Traditionalisten vorbehalten war.

„Anfangs war es schon ein wenig eigenartig“, erinnert sich Who-Bassist John Entwhistle. „Da standen all diese Jazz-Fans, schauten fassungslos aus der Wäsche und trollten sich dann wieder.“

Während der Auftritte mischten sich die Who-Manager unter das spärliche Publikum und gaben Whiskev aus, um die Stimmung zu heben.

„Das Management des Marquee war Anfangs doch eher skeptisch. Hinter vorgehaltener Hand spekulierte man wahrscheinlich darauf, daß wir ein Flop werden würden“, lacht Entwhistle, „aber nach ein paar Wochen hatten wir den Donnerstag zum beliebtesten Tag der Woche gemacht.“ Mit ihren Op Art-Klamotten und dem spektakulären Zerschmettern von Gitarren und Schlagzeug waren The Who die Sensation des Jahres 1965.

Sie waren das komplette Kontrastprogramm zu den Bands, die den Marquee Club während seiner ersten Inkarnation bevölkerten. Vor 30 Jahren nämlich entschieden sich die Besitzer des „Marquee Tearoom“, ihr Kellergewölbe in der Oxford Street einem einträglicheren Verwendungszweck zuzuführen: Sie wollten den Club zu einem Treffpunkt der traditionellen Jazz-Freunde machen.

Gegründet von Barbara und Harold Pendelton, die selbst aus dem Jazz-Lager kamen, behielt der Club seine bonbonfarbenen, falschen Markisen und die kitschigen Ornamente. Die Jazz-Traditionalisten waren hier unter sich und fühlten sich gleich wie zu Hause. Für diese Fans von Humphrey Lyttelton und Ken Coyler gab es nur eines, was schlimmer war als moderner Jazz – und das war Rock’n‘ Roll. Das ungeliebte Baby jedoch, das den Dixieland mit Haut und Haaren verschlingen sollte, wurde zu diesem Zeitpunkt bereits genährt, und zwar am Busen von einem der Ihren.

Bandleader Chris Barber, später Mitbesitzer des Marquee, war nämlich fasziniert von einem rhythmischen, bluesorientierten Verwandten des Jazz, den er „Skiffle“ nannte und als Finale seiner Konzerte zu spielen pflegte. Der Name blieb hängen – und eines seiner Bandmitglieder, Lonnie Donnegan, führte den Skiffle (mit der Leadbelly Nummer – „Rock Island Line“) gar bis an die Spitze der Charts. Ein anderes Bandmitglied entwickelte eine völlig neue Variation des Skiffle, die sich so populär erwies, daß sie zu einer weltweiten Rock-Explosion führen sollte. Sein Name: Alexis Korner.

Alexis wurde zu einer der bekanntesten Stimmen in England. Ihr angenehm kratzender Klang zierte zahllose TV-Spots, bis er 1984 unerwartet an Krebs starb. Wichtiger jedoch war seine Arbeit als Bandleader, Gastgeber für US-Musiker auf Durchreise, Förderer junger Talente und Pate des britischen Blues.

„Eigentlich wurde fast jeden Abend traditioneller Jazz im Marquee gespielt, vielleicht ab und zu mal einen Abend lang Skiffle oder Rhythm & Blues. Eine Gitarre sah man dort ziemlich selten“, erinnert sich der DJ und Sänger Paul Jones, der seinen ersten Durchbruch (unter seinem richtigen Namen P. P. Pond) als Sänger in Alexis Korners Band Blues Incorporated hatte. Anfangs wollte kein Club im West End mit dieser kleinen, aber stetig wachsenden Gruppe von jungen Musikern zu tun haben, die solch obskure amerikanische Blues-Pioniere wie Big Billy Broonzy, Muddy Waters und Sleepy John Estes verehrten. Im Jahre 1962 aber, als die Anziehung des Jazz zu schwinden begann, sah sich Harold Pendelton gezwungen, seine Vorurteile über Bord zu werfen. Konkurrierende Clubs wie das „Crawdaddy“ oder „Eel Pie Islands“, wo der R&B bereits florierte, gaben ihm zu denken. So dauerte es nicht lange, bis die erdigen Klänge der Chicago South Side auch in der vornehmen Umgebung des Marquee widerhallten.

Die ersten Stars, die der Club ans Tageslicht förderte, waren die Rolling Stones. Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones (der unter dem Namen Elmo Lewis auftrat) – Bill Wyman und Charlie Watts kamen erst einige Monate später dazu – standen am Donnerstag, dem 12. Juli 1962, als Vorgruppe von Long John Baldry erstmals auf der Bühne des Marquee.

Schon ihr Name sorgte anfangs für hochgezogene Augenbrauen. „Jazz News“ zitierte einen Satz des damals noch ganz puristisch eingestellten Mick Jagger, der meinte: „Ich hoffe, die hallen uns nicht für eine Rock’n‘ Roll Truppe.“ Aber trotz aller Beteuerungen sorgte Harold Pendelton dafür, daß die Stones im Marquee nicht alt wurden. Sie machten einfach zu viel Lärm, und Pendelton buchte sie nur als Notnagel, falls in letzter Minute eine Band ausfiel. Seine miserable Meinung von diesen verpickelten Jugendlichen, besonders dem segelohrigen Keith Richards, war allseits bekannt.

Neun Jahre später bekam Keith die Gelegenheit zur Rache, als die Stones, mittlerweile die größte Rockband der Welt, im Marquee einen Auftritt filmen wollten. „Keith Richards kam irgendwann während der Aufnahmen barfuß an – und war ziemlich, na ja sagen wir… daneben. Er ließ seinen Bentley mitten auf der Wardour Street mit offenen Türen stehen und verursachte im ganzen West End ein Verkehrschaos“, erinnert sich Jack Berrie, heute Geschäftsführer im Marquee. Während einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Pendelton und der Filmcrew, in der es um die Einblendung des Bühnenhintergrundes ging, holte Keith mit seiner Gitarre nach Pendelton aus, zielte aber derartig daneben, daß er nicht nur sein Ziel verfehlte, sondern obendrein noch flach auf seinem Rücken landete.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Marquee bereits sein Quartier gewechselt und war in eine umgebaute Lagerhalle in der Wardour Street gezogen. Das Line-up der Bands, die bei der Neueröffnung am 13. März 1964 spielten, umfaßte die Yardbirds (mit den Gitarristen Jeff Beck, Eric Clapton und Jimmy Page), den gerade in England gastierenden Bluesman Sonny Boy Williamson sowie Long John Baldry und seine Hoochie Coochie Men. Im Vergleich dazu zog der rivalisierende „Flamingo Club“, der nur ein paar Häuser weiter lag. mit dem urbanen, fingerschnippenden Stil eines Georgie Farne und den Blue Flames ein weitaus intellektuelleres, arrivierteres Publikum an, Cool-Jazz-Fans zum Beispiel, aber auch die modebewußten Londoner Mods.

Sänger Paul Jones, der inzwischen in der Manfred Mann Band gelandet war, erlebte die Stammesrivalitäten in Londons blühender Musikszene am eigenen Leibe: „Es gab zu der Zeit ständig Reibungen innerhalb der Manfred Mann Band- zwischen enthusiastischen Bluesem wie mir einerseits und den cooleren Jazzern wie Mike Hugg andererseits.“

Mit den Who als Stamm-Band wurden die Mittsechziger zur Blütezeit des Marquee, die 1967 in dem Auftritt der Jimi Hendrix Experience (mit The Nice als Vorgruppe) ihren Höhepunkt fand. Das Konzert zog eine endlose Schlange von Menschen an, die die ganze Wardour Street entlanglief und sich erst am Cambridge Circus langsam auflöste.

Flachmänner, die sehr in Mode gekommen waren, hielten die Kehlen der zusammengepferchten Gäste geschmiert; eine Alkohollizenz erhielt das Marquee nämlich erst Jahre später. Zum „Ship Pub“, der quasi zur inoffiziellen Oase des Marquee avancierte, war es zum Glück nur einige Schritte.

„Damals gingen Stars noch in Kneipen, heute ziehen sie sich in ihre gotischen Landhäuser zurück“, amüsiert sich Lemmy, der damals Roadie für Hendrix war und später mit Motörhead den Weg ins Rampenlicht fand. „Aber im ,Ship‘ sah man Hendrix und seinen Bassisten Noel Redding am einen Ende der Bar – und Keith Moon und John Entwhistle waren viel zusammen unterwegs – ein furchterregendes Gespann, dem man nachts nicht gern begegnen wollte.“

Jahrelang konnte jeder Rockfan Stars wie Hendrix, die Who, die Yardbirds oder Rod Stewart im „Ship Pub“ bei einem Drink treffen – und

anschließend im Marquee live sehen. Danach feierte man oft bis in den Morgen in (sperrstundenfreien) Clubs wie The Scotch, dem Bag O’Nails, dem Speakeasy, The Cromwellian oder Blaises, wo die Stars zum gemeinsamen Trinken und Jammen aufkreuzten.

Mit dem Aufstieg der Hippie-Bewegung aber war der Zauber vorbei.

„Flower Power kam in Mode, und bei Konzerten machten es sich die Leute auf Stühlen bequem“, erinnert sich der in England lebende US-Soulsänger Geno Washington, der mit seiner Ram Jam Band eine der größten Live-Attraktionen war.

„Ich stand mehr auf Party-Atmosphäre, aber das gab’s plötzlich nicht mehr. Jeder nahm bewußtseinserweiternde Drogen, zog sich Trips rein – die wollten sich nur noch zurücklehnen und nicht mehr bewegen. „

Mit den nüchternen 70er Jahren zogen sich auch die Rockstars aus der Londoner Nachtclubszene völlig zurück und ließen sich stattdessen in den eleganten Landhäusern der umliegenden Grafschaften nieder. Aber selbst als die Marquee Garderoben übersäht waren mit Graffiti und die Toiletten vor Altersschwäche fast zusammenbrachen, warteten noch immer Menschenschlangen auf Einlaß in den Ort, der für viele nach wie vor als das Mekka des Rock V Roll galt.

Als ZZ Top vor zwei Jahren durch englische Stadien tourten, wollten sie unbedingt das Marquee besichtigen, das auch in den USA als Geburtsstätte des englischen Rock’n-‚Roll gilt. Sie betraten die düsteren Räume und wollten es nicht glauben. Das sollte es sein?! “ Vor drei Tagen hatten wir einen Umkleideraum, der größer war als dieser ganze Laden!“

In einem neuen Gebäude an der Charing Cross Road geht das Marquee dieses Jahr in sein viertes Jahrzehnt. Das neue Zuhause ist zwar erschreckend geräumig, aber gottseidank zeigen die Garderoben schon die ersten ermutigenden Zeichen von Abnutzung. „Die Düse an der Dusche fehlt – das ist ja perfekt“, stellt Lemmy bei einem Ortstermin mit Freude fest. „Und da kannst du dir sicher sein, es kommt auch nie mehr eine neue hin.“