Titelgeschichte

Depeche Mode: Auf die Barrikaden, Kameraden!


Depeche Modes noch immer aktuelles Album SPIRIT erschien 2017. Nun, da Andy Fletcher mit nur 60 Jahren gestorben ist, aktualisieren wir unsere damalige Titelstory. Darin hieß es: Depeche Mode sind zurück mit SPIRIT, einem Album, das politisch aufgeladen ist, wie keines zuvor. Wir trafen Songschreiber Martin Gore in Santa Barbara, wo die neue Platte entstand. Der Mann macht sich Sorgen um das Wohl der Welt – und Witze darüber, dass sie ihn vielleicht bald rausschmeißen aus seiner kalifornischen Residenz.

Man könnte auch lachen oder sich aufregen über die Rockstars in den teuren Lederjacken, die fragen: „Who’s making your decisions? You or your religion, your government, your countries? You patriotic junkies.“ Und doch liefern diese Zeilen einen besseren Diskursansatz, als man von den meisten Millionenacts heutzutage bekommt. Gore hat acht der zwölf neuen Songs auf SPIRIT geschrieben, unter anderem auch diese Single. Es ist nicht der einzige Track auf dem Album, der einen politischen Unterton hat. Bei allem Interpretationsspielraum: Es ist dieser Tage praktisch unmöglich, sich nicht zu bekennen – in den USA schon gleich gar nicht, Gores Wahlheimat, wo nun Donald Trump zum Präsidenten vereidigt worden ist. Seitdem rauscht beinahe täglich ein neues Inkompetenz-Statusupdate aus Washington durch die Medien. Oder Trump selbst lässt seinen Verbalschutt niederhageln. Wer einen halbwegs ausgerichteten moralischen Kompass besitzt, der kann das nicht ignorieren, auch nicht als Popmusiker.

Auf dem Album sind viele Stücke, die vielleicht nicht dezidiert politisch sind, aber eine Art gesellschaftskritischen Unterbau haben. Mit welchen Vorzeichen sollte ich das neue Album anhören?

Martin L. Gore: Wir können uns sicher glücklich schätzen, dass das Album und vor allem die Single gerade jetzt erscheinen. Obwohl wir diese Songs 2015 und 2016 geschrieben haben, lag damals ja schon was in der Luft. Die Leute sind unzufrieden. Bei dem, was momentan in der Welt passiert, ist das das denkbar passendste Szenario, um das Album anzuhören.

Wie sehr interessiert Sie das alles? Verfolgen Sie die Nachrichten ganz genau?

Ich lese jeden Tag die „New York Times“ …

Wenn Sie das so genau … 

… die Nachrichten machen mich depressiv. Nachrichten an sich machen immer etwas depressiv, würde ich behaupten. Aber momentan zieht mich das wirklich total runter.

Sie leben seit 17 Jahren hier in Santa Barbara, das ist jetzt der dritte Präsident, den Sie erleben. War bei Bush damals die Stimmung auch so schlimm?

Eine ganze Reihe von Problemen, mit denen wir zurzeit im Nahen Osten zu kämpfen haben, stammen aus dieser Zeit. Natürlich war Saddam ein Bösewicht. Aber da einzumarschieren und ihn zu beseitigen, hat die ganze Region nachhaltig verändert. Ich bin mir sicher, dass Syrien jetzt kein Thema wäre, hätten wir Saddam damals nicht abgesägt.

Sind Sie eigentlich inzwischen US-Bürger?

Nein, ich besitze nur meinen britischen Pass. Ich habe allerdings eine Greencard. Die sie mir, falls ich noch ein paar mehr Interviews gebe zu dem Thema, wahrscheinlich wegnehmen. (lacht)

Dann müssen Sie zurück nach Brexit–Britannien.

Herrje, noch so eine furchtbare Entscheidung. Danach war ich auch depressiv. Das hätte man nie in die Hände der britischen Bürger legen dürfen. Wenn sie eine Volksbefragung machen, dann bitte mit einer Quote: rechtskräftig ab 70 zu 30 oder 60 zu 40 – und nicht 51 zu 49. Das ist eine viel zu weitreichende Entscheidung, als dass man sie diesen paar Prozentpunkten überlässt.

Das war damals, wie auch hier die US-Wahl im November, eine Entscheidung, bei der Rassismus eine große Rolle gespielt hat. Die Leute tun so, als ob das nicht der Fall war, aber sie machen sich was vor. Die ersten Dominosteine sind gekippt. Als Nächstes ist Frankreich dran, dann die Wahlen in Deutschland. Nach Brexit und Trump rechne ich mit dem Schlimmsten.

Heißt: Wohin führt das noch?

Das klingt, als ob ich hier Werbung für unsere Single machen wollen würde, aber ich glaube tatsächlich, dass Amerika nicht weit von einer Revolution entfernt ist. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen fiel auf Hillary Clinton. Das sind vernünftige Menschen, die werden sich diese Politik nicht lange angucken. Wenn Trump noch mehr Executive Orders unterzeichnet, wird das nur noch mehr Menschen auf die Straße treiben zum Protestieren. Ich verstehe gar nicht, wie der Durchschnittsrepublikaner das aushält. Ein paar von seinen Maßnahmen sind schlichtweg grauenvoll. Die ganzen christlichen Fundamentalisten: Ist euch Abtreibung denn so wichtig, dass ihr den Rest einfach mitmacht?!

Auf „Where’s The Revolution“ heißt es „Come on people, you’re letting me down“ – können Sie verstehen, wenn da Kritik kommt und es heißt: Wie niedlich, der Rockstar mit dem leichten Leben hier in Santa Barbara will uns von seinem Elfenbeinturm aus wachrütteln.

Sicherlich wird es Kritik geben. Aber mir ist das alles nicht egal, und dann kann ich mich auch dazu äußern. Und wenn die Revolution dann da ist, werde ich mich anschließen und durch die Straßen marschieren. (lacht) Aber im Ernst: Gewalt ist offensichtlich furchtbar, aber da wird ein Punkt kommen, an dem die Menschen sich gegen die Tyrannei auflehnen. Mich würde es nicht wundern, wenn irgendwann Blut fließt.

„Wie es aussieht, werde ich hier eh rausgeschmissen“ – Martin Gore

Wenn man durch das beschauliche Santa Barbara spaziert, hat man nicht das Gefühl, dass hier die spitzesten Mistgabeln des Landes geschliffen werden. Auf den ersten Blick ist es eine gemütliche Welt aus Strand, Sonne, Palmen und ein bisschen Shopping. Mittendrin: Gore. Während Dave Gahan mit seiner ausufernden Heroin-Sucht zu kämpfen hatte, war Gore bis vor ein paar Jahren schwerer Trinker. Alkohol rührt er heute gar nicht mehr an. Der grüne Gemüsesaft auf dem Tablett am Tisch ging natürlich auf Gores Bestellung. Nicht nur, munkelt man, weil die Band am Nachmittag hier ums Eck noch im Studio für die anstehende Tournee proben will und da ein bisschen Vitamine nicht schaden können. Auch das Alter spielt ja eine Rolle. Gore erzählt stolz, als er über seine Töchter redet, die die Wahl von Trump genauso interessiert verfolgt hätten wie er, dass sein jüngster Sohn fast eins sei – und jetzt sogar noch ein Baby unterwegs sei: „In ein paar Wochen ist es so weit, mehr kann ich nicht verraten.“

Hat der Titel des Albums irgendeine höhere Bedeutung? Muss man SPIRIT sogar religiös deuten? „Das Album ist nicht sonderlich religiös, nein. Es geht eher um einen spirituellen Weg, den man einschlägt. Die Menschheit ist irgendwie, irgendwann von diesem Pfad abgekommen. Und wenn das Album und die Texte bloß ein kleiner Wachrüttler sind, habe ich nichts dagegen. Wir sind so auf Technologie fixiert, dass da die emotionale Intelligenz auf der Strecke bleibt – und so etwas führt meist zu schlechten Entscheidungen.“

In Santa Barbara hat der Regen immer noch nicht aufgehört. Die Assistentin huscht ums Eck und gibt Bescheid, dass das Interview zu Ende gehen müsse. „Die Proben, tut mir leid …“ Noch eine schnelle Frage zum Schluss: Fühlt Gore sich hier zu Hause? Oder hat er die Schnauze voll von den USA? „Wie es aussieht, werde ich hier eh rausgeschmissen“, sagt er noch einmal und lacht. „Ich würde zurückgehen, aber ich habe noch einen 14 Jahre alten Sohn. Wenn der mit der Schule fertig ist, gehe ich vielleicht zurück nach Europa. Ich denke definitiv darüber nach.“

Gore steht auf, seinen Mandelmilchkaffee hat er nicht angerührt. Er begleitet uns zur Tür. „Martin, willst du den Saft noch?“, fragt seine Assistentin. „Vielleicht später“, sagt er. Dann bedankt er sich für das Interview, sagt auf Wiedersehen – und streckt zur Verabschiedung die rechte Hand aus.


Die Depeche-Mode-Titelgeschichte ist in der Mai-Ausgabe 2017 des Musikexpress erschienen.