Depeche Mode: Auf die Barrikaden, Kameraden!
Depeche Modes noch immer aktuelles Album SPIRIT erschien 2017. Nun, da Andy Fletcher mit nur 60 Jahren gestorben ist, aktualisieren wir unsere damalige Titelstory. Darin hieß es: Depeche Mode sind zurück mit SPIRIT, einem Album, das politisch aufgeladen ist, wie keines zuvor. Wir trafen Songschreiber Martin Gore in Santa Barbara, wo die neue Platte entstand. Der Mann macht sich Sorgen um das Wohl der Welt – und Witze darüber, dass sie ihn vielleicht bald rausschmeißen aus seiner kalifornischen Residenz.
Als Depeche Mode sich 1980 in Essex gründeten, waren die vier Bandmitglieder wahnsinnig jung. 17, 18, 19 Jahre alt. Die Punk-Hochphase wurde Ende der 70er-Jahre schon wieder in einen industriellen New-Wave-Sound eingeschmolzen. Elektronisch musste man klingen, gern auch melodisch, weniger heroisch wie die Punk-Rebellen. Auch Depeche Mode gingen mit der Zeit und wurden eine Synthesizerband. Für die ersten Studioalben legte die Band ein Beatles-Pensum an den Tag: sechs Platten in sieben Jahren. Frage an Gore, den Hauptsongwriter der Band: Kamen die Songs damals einfach schneller als jetzt, oder müssen sie das heute bei seinem Kontostand schlichtweg nicht mehr? Gore packt ein verlegenes, wissendes Lächeln aus. „Zwischen SPEAK & SPELL und MUSIC FOR THE MASSES waren wir alle, na ja, nicht alle … fast alle Singles. Keiner hatte Familienpflichten. Und natürlich war das Leben aufregend mit 19, 20. Ich weiß nicht, wie das heute ist, aber zu der Zeit war es außerdem wichtig, dass einen die Öffentlichkeit nicht aus den Augen verliert.“
Vom Fluch der Aufmerksamkeitsökonomie, mit dem wir uns jetzt, fast 40 Jahre nach den Anfängen von Depeche Mode, rumschlagen, wird später noch die Rede sein. Um die jungen Musiker erst einmal in die richtigen Bahnen zu lenken, brauchte es eine übergeordnete Figur. Wer hat als 19-Jähriger schon groß Lust, seinen 19-jährigen Freunden die Richtung vorzugeben?
Daniel Miller ist diese Figur im Depeche-Mode-Kosmos. Der Gründer und Labelchef von Mute Records co-produzierte die ersten sechs Alben mit der Band. Für die Plattenfirma wurden Depeche Mode zu einer Art goldenen Gans, die der Boss höchstselbst mit Ideen, Rat und Unterstützung stopfte. Noch heute agiert er als ihr Mentor, obwohl Depeche Mode ihre Musik inzwischen bei Sony veröffentlichen. Den Arctic-Monkeys-Hofproduzenten James Ford zu engagieren, war zum Beispiel Millers Idee. „Es war das erste Mal, dass wir längere Zeit im Studio zusammen verbrachten“, sagte Miller einmal über die Arbeit am ersten DeMo-Album in einem Interview mit dem „Guardian“: „Ich habe ab da erst gemerkt, wie talentiert die Band wirklich war. Zu der Zeit war Vince Bandleader. Dave war der Frontmann, aber Vince schrieb die Songs und die Arrangements. Martin hat sich ein wenig um die Melodien gekümmert, aber es was die Band von Vince, er war die treibende Kraft.“ Als Vince Clarke nach Veröffentlichung des Debütalbums die Band verließ, musste Gore als Songwriter einspringen. „Zwangsläufig, ja“, sagt Gore heute, „weil Vince uns mitgeteilt hatte, dass er aufhört, noch bevor die Platte im Laden stand. Wir hatten das Gefühl, dass wir gleich weitermachen und etwas aufnehmen müssten, weil man uns sonst sofort abgeschrieben hätte, wenn der Songschreiber auf einmal die Band verlässt.“
„Natürlich war das Leben aufregend mit 19, 20. Es war außerdem wichtig, dass einen die Öffentlichkeit nicht aus den Augen verliert.“ – Martin Gore
Hat sich die Art, wie er Songs schreibt, verändert über die Jahrzehnte? „In den ganz frühen Tagen war ich ja ein vollkommener Anfänger. Obwohl ich schon mit 13 meine ersten Songs geschrieben habe, die ja auch nicht sonderlich gut waren, hatte ich trotzdem keine Vorstellung davon, dass ich einmal Songs für eine Band schreiben würde, die in die Charts einsteigt und Erfolg hat. Das zweite Album, ohne Vince, war nicht ganz einfach. Wir haben alle dazugelernt. Wahrscheinlich ist es auch deshalb diese seltsame Ansammlung aus ganz unterschiedlichen Songs geworden.“
Es klopft. Gores Mandelmilch wird in einer winzigen Milchkanne serviert. Gore und Depeche Mode haben längst einen Status erreicht, der ihnen nach oben hin nicht mehr viel Spielraum lässt. Das Vorgängeralbum stieg in zwölf Ländern auf Platz 1 der Albumcharts ein, sie haben alle möglichen Preise gewonnen, auf ihrer Welttournee spielen sie vor Millionen Fans. Vielleicht muss man irgendwann von Kuh- auf Mandelmilch umsteigen. Dinge anders machen. Das Kleine im Großen betrachten, mal rauszoomen. Als Musiker kann man das machen, indem man andere Instrumente benutzt, sich in unbekannten Genres ausprobiert. Als Person, als Mensch kann man sich wandeln, indem man anders auf die Welt blickt und die Geschehnisse in einen neuen Kontext packt. Vielleicht mehr reflektiert als spekuliert, mehr opponiert als akzeptiert.
Ob man Popmusik oder auch konkreter: die Songs von Depeche Mode in einem politischen Kontext betrachten kann, könnte man problemlos ausdiskutieren. Martin L. Gore antwortet, wenn man ihn nach der Bedeutung einzelner Liedaussagen fragt: „Das Gute an den Texten ist, dass sie jeder für sich interpretieren kann.“ Dieser Logik folgend aus der aktuellen Single vom neuen Album dann gleich die Systemfrage herauszulesen, wäre allerdings etwas zu viel des Guten. „Where’s The Revolution“ (nur echt ohne Fragezeichen) ist im strikten Sinne nicht radikal oder umstürzlerisch.