Denker mit Drive


Brille im Musikbusiness? Dahinter verbirgt sich immer ein kluger Kopf. Gut nur, dass Heinz Rudolf Kunze sich bei allem Bemühen um intelligente Texte das Herz eines Rock'n'Rollers bewahrt hat.

Hausbesuch bei Heinz Rudolf Kunze. Der Lyriker unter den deutschen Rockmusikern lebt mit Frau und zwei Kindern in einem Haus in der Wedemark, nur zehn Minuten entfernt vom Flughafen Hannover. Kunze bittet in den ersten Stock, das Reich des Dichters und Denkers: „Ich stehe immer ungefähr um zehn Uhr morgens auf. Dann mache ich meinen Tee-Automaten an, fange gegen halb elf an zu telefonieren und gehe anschließend nach oben in mein Arbeitszimmer.“ Hier sind auf 100 Quadratmetern Abertausende von CDs und Büchern alphabetisch geordnet. Hier steht auch der ausladende Schreibtisch, an dem alles entstand: die Übersetzungen der Musicals „Miss Saigon“, „Les Miserables“, „Joseph und seine Brüder“ und „Rent“, die Songtexte für Milva, die Kompositionen für Mario Adorf und Herman van Veen, die Eindeutschung der Lieder des einstigen Van-der-Graaf-Generator-Kopfes Peter Hammill sowie Features, Polemiken und Rundfunksendungen. Hier schrieb Kunze alle seine Lieder und Gedichte – es müssen inzwischen Tausende sein: „Ich bin ein Tagsüber-Täter. Und die besten Ideen beginnen bei mir – ganz klischeehaft – unter der Dusche. Brecht hat mal gesagt: ‚Ich bin ein Tagesarbeiter und möchte nach 20 Uhr nicht mehr schreiben müssen, sondern entweder Theater machen oder Freunde empfangen‘. Das finde ich gut. Ich glaube nicht an Schreiben unter Alkohol und Drogen. Solange ich nüchtern bin, habe ich die besten Ideen. Ich genieße es allerdings sehr, mich nach dem Erfolg, nach dem Gelingen eines Textes zu besaufen. Aber ich habe es nie erlebt, dass ich im angeschickerten Zustand irgendwas Gutes zu Stande gebracht hätte. Am nächsten Morgen war es immer Mist.“

Ganz anders „Halt“, Kunzes hoch gelobtes neues Album, „eine Platte, die sich wie eine Schlange mehrfach gehäutet hat“, wie HRK die mühevolle Enstehung von „Halt“ beschreibt. Fast anderthalb Jahre bosselte Kunze mit seinem Kreativpartner, dem Produzenten, Gitarristen und Songschreiber Heiner Lürig, an seinem 21. Album. Auch andere Geburtshelfer sorgten dafür, dass „Halt“ am Ende doch noch das Licht der Welt erblickte. Unter ihnen Carol von Rautenkranz aus dem Umfeld von Blumfeld und den Sternen. Mastermind Heinz Rudolf Kunze über die Zusammenarbeit mit von Rautenkranz: „Carol ist meines Wissens 33 Jahre alt. Ich bin 44. In der Rockmusik ist das ein Unterschied von fast einer Generation. Dass Carol bei den Aufnahmen von ‚Halt‘ für vier Titel dazukam, hat dazu geführt, dass Heiner Lürig und ich überprüfen konnten, wie wir dastehen mit Mitte 40. Das Ergebnis ist, finde ich, dass wir gut dastehen.“

Dennoch, zwei von 15 fertigen Tracks für „Halt“ fielen bei Kunzes Plattenboss durch: „Er sagte: ‚Lass sie bitte weg. Mach keine 15 Songs, sondern 13. Das stärkt das Album.‘ Das ist jetzt halt die Verantwortung von meinem Chef. Mein Chef ist kein schlechter Chef. Ich habe den Fluch, mit einem Chef gesegnet zu sein, der sich immer wieder als Fan von mir bezeichnet hat.“ Der „Chef“, WEA-Geschäftsführer Bernd Dopp, wollte auch, dass das Album „Halt“ heißt. Ursprünglich sollte es nach dem Titel „Jesus Tomahawk“ benannt werden, „denn“, so Kunze, „‚Jesus Tomahawk‘ ist der Anker, der dieses Album mit dem Vorgänger ‚Korrekt‘ verbindet. Das ist der Anknüpfungspunkt. Der Text ist eine Fortsetzung von ‚Brille‘, zehn Jahre später – noch enttäuschter, noch verbitterter, noch ratloser und noch einsamer. Was Heiner Lürig da mit der Gitarre gemacht hat, diese Tricks, wie er da beim Spielen das Band beschleunigt hat – Respekt, Hut ab.“

Lürig wohnt zwei Dörfer von Kunze entfernt, betreut das gemeinsame Studio und werkelt dort an den Sounds, während HRK am Schreibtisch sitzt und über Songtexte nachdenkt. Dabei läuft den ganzen Tag die Glotze: „Aber ohne Ton! Ich höre Thelonious Monk, Radiohead oder Robert Wyatt.“ So entstand auch „Talk Show Schmutz“, eine Zernichtung nachmittaglichen Sendemülls. „Es konnte nicht ausbleiben“, meint Kunze, „dass ich irgendwann mal was dazu sagen musste.“ In seiner vielseitigen Musikalität ist „Halt“ ein Meilenstein der deutschsprachigen Popmusik. Fast verblüfft nahm Heinz Rudolf Kunze in den vergangenen Wochen zur Kenntnis, dass etliche Rezensenten ebenso denken. Denn Kunze, der Mann mit den implantierten Qualitätskriterien, der so gut auszuteilen weiß, ist sich in Sachen Kunze nie so ganz sicher. Doch auch diesbezüglich befindet sich HRK in guter Gesellschaft. Ein Flerr Kafka wollte vor nicht mal 100 Jahren gleich alles verbrennen, was er so von sich gegeben hatte. Kunze empfiehlt zu diesem Thema Guy Debord: „Ein Autor, den kaum jemand kennt. Dieser Mann hat eine so fundamentale Kritik an allem Bestehenden geschrieben, dass man es kaum aushalten kann. Er hat noch deutlicher als Adorno gesagt, dass alles, an das wir uns gewöhnt haben, falsch ist und dass es, wie Adorno so wunderbar zugespitzt gesagt hat, kein richtiges Leben im falschen gibt. Debord hat mich mit seiner Schrift ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘ angeregt, diese vergebliche Platte namens ‚Halt‘ zu machen. Er hat sich an meinem Geburtstag – am 30. November – erschossen. Deswegen habe ich ihn besonders ins Herz geschlossen. Ich hätte ihn wahrscheinlich nie gelesen, wenn ich nicht erfahren hätte, dass er sich an ausgerechnet diesem Tag das Lebenslicht ausgeblasen hat.“

Es ist ein Kreuz mit den Menschen – die schlauen treten ab, und die schlichten räumen ab. Womit wir beim Thema Oasis wären. Kunze: „Ich möchte mich jetzt mal maßvoll äußern. Seit Jahren heißt es in englischen Musikzeitschriften, Oasis seien die Band einer Generation – das wäre dann eine erbärmliche Generation. Ich kann es mir nur so erklären, dass die Industrie die Band sehr pusht und die Generation – selbst in England – nicht so schlecht ist wie dieses Ideal. Oasis, die Band, ist mittelmäßig gut. Als ehemaliger Lehrer würde ich ihnen eine Drei minus geben. Das Live-Album klingt allerdings wie ein einziger Brei. Was mich aberwirklieh erschüttert ist, dass man auf zwei Songs von den Beatles, nämlich auf ‚Rain‘ und Tomorrow Never Knows‘, tatsächlich seine gesamte Karriere aufbauen kann. Und dann spielt man noch ‚Heiter Skelter‘, und das war’s. Diese Band ist eine Schülerversion von den Beatles, nur lauter!“