Denk mal


Er will "in diesem Geschäft nicht zum Arschloch werden". Dazu bedarf es schon mal einer Denkpause. Jetzt zieht Westernhagen Zwischenbilanz.

Westernhagen hatte es vorher angekündigt: „Es wird“, so eröffnete er seinerzeit einem Reporter, „definitiv keine Stadiontour mehr geben.“ Die Abschiedsfeier fand dann vor großem Publikum und in noch grösserem Rahmen statt. Was sich da vor den Augen und Ohren der Zuschauer abspielte, halte wirklich wagnerianische Ausmasse. Die Bühne wog 570 Tonnen, die Beschallung mit 200.000 Walt hätte ausgereicht, um ein mittelschweres Erdbeben auszulösen. Dazu kamen ein ausgetüfeltes Lichtdesign, ein riesiger beweglicher Monitor-Satellit, auf den eigens gedrehtes Filmmaterial projiziert wurde und Cat-Walks, auf denen selbst ein Marathonläufer hätte trainieren können. Mit dieser Ausstattung setzte die „Radio Maria“-Produktion auch im weltweiten Vergleich Maßstäbe. Aber eins wurde klar: Sehr viel mehr konnte man nicht machen. Es ging nicht höher, es ging nicht breiter, und es ging nach dem Willen des Künstlers eben auch nicht mehr weiter. „Meine letzte Tournee hat mir wieder einmal klargemacht, wie sehr ich meinen Beruf liebe und auch brauche. Die Tour war von ungewöhnlich intensiver Emotion geprägt – die Konzerte eine spirituelle Erfahrung. Meine Mutter lag während dieser Zeit im Sterben, und meine Gedanken waren ständig bei ihr. Am Morgen nach meinem letzten Konzert starb sie dann. Es war, als hätte sie das Ende der Tour abgewartet. Da sind schon reichlich Tränen geflossen. Aber das gilt auch für den Abschied von den Stadionbühnen. Danach fiel ich in ein großes Loch. Ich wollte mindestens ein Jahr nicht mehr arbeiten. Dieser Wunsch hatte jedoch nur vier, fünf Wochen Bestand, und dann saß ich wieder am Klavier oder hatte eine Gitarre in der Hand. Ich musste feststellen, dass ich für meine Umwelt und für mich selbst ungenießbar wurde. Wenn ich rumsitze, fange ich an zu grübeln. Ich bekomme schlechte Laune und nörgle an allem und jedem herum. Ich muss einfach produktiv sein, sonst werde ich depressiv.“

Doch diese Gefahr besteht nicht, denn Westernhagen hatte nie vor, den Rest seines Lebens Golf zu spielen. Im Gegenteil. Am 27. November, gut zwei Jahre nach seinem letzten Stadionkonzert in Hamburg, erschien mit „so weit…“ die erste Best-Of-Compilation des umtriebigen deutschen Superstars: „Ich habe mich viele Jahre lang erfolgreich dagegen gewehrt, ein Best-Of-Album zu produzieren. Doch dann hatte ich mich entschlossen, meinen gesamten Backkatalog – dass heißt: alle 18 CDs – in London von Tim Young digital remastern zu lassen. Dazu war es nötig, dass ich alles, was ich in über 25 fahren musikalisch verbrochen hatte, intensiv durchhörte. Eine aufregende Erfahrung, da ich mir zu Hause ja nicht meine eigenen Platten auflege. Ich empfand diese Arbeit teils als amüsant, teils als schmerzlich, aber teils auch als durchaus erfreulich. Ich habe einige Titel wieder entdeckt, bei denen ich dachte: ‚Alle Achtung, das ist gar nicht schlecht!‘ Bei anderen Songs hingegen wundere ich mich im Nachhinein, warum man mich dafür nicht verjagt hat. Doch ich glaube, das macht eine Karriere aus. Es gibt immer wieder Entwicklungs- und Orientierungsprozesse, bis man dann endlich seinen Weg gefunden hat. So kristallisierte sich dann auch die Idee zu ’so weit…‘ heraus. Es wurde ja auch höchste Zeit für so ein Album, denn immerhin nehme ich jetzt seit über 25 Jahren Musik auf.“

Ein gutes Stichwort für den Blick zurück: Westernhagen, am 6. Dezember 1948 in Düsseldorf geboren, wusste früh, dass es mit Blick auf seine Berufswahl eigentlich nur zwei Möglichkeiten gab – entweder er würde Sportler (als Disziplinen kamen Eishockey oder Fußball infrage) oder Künstler (hier gab es Vorlieben für die Schauspielerei und die Musik). Der Sport hatte das Nachsehen, denn im Alter von 14 Jahren erhielt Marius seine erste Rolle, und zwar in dem von Wilhelm Semmelroth nach Scholem Aleichem gedrehten Film „Die höhere Schule“. Der Vater, Hans Müller-Westernhagen, bis zu seinem frühen Ende Mitglied im Düsseldorfer Ensemble des Theater-Titanen Gustaf Gründgens, hatte seinem Filius dieses Engagement verschafft. Es ist bezeichnend für die Vater-Sohn-Beziehung, was der todkranke Senior dem Sohn zum sich abzeichnenden Filmerfolg telegrafierte:

„Demut und Bescheidenheit. Dein Vater.“ Später erinnert sich Westernhagen an diesen Moment: „Dass ich nie zum Selbstzerstörer wurde, liegt an dem warnenden Beispiel meines Vaters. Als er aus Krieg und Gefangenschaft zurückkam, ist er in Suff und Tabletten abgeglitten. Ich musste für ihn auf Pump Schnaps besorgen. Seither habe ich eine Sperre gegen Exzesse.“ In punkto Leistungswillen und Disziplin wurde die „Löwenmutter“ zum Vorbild. Westernhagen: „Von Natur aus bin ich eigentlich faul. Aber ich habe schon sehr früh eingesehen, dass sich Disziplin und Fleiß bei der Arbeit auszahlen, je konzentrierter und disziplinierter du deine Aufgaben erledigst, desto früher bis du fertig. So einfach ist das.“ Marius‘ Mutter erzog ihren Sohn zwar zu einem unselbständigen Pascha, der sich gerne von Frauen verwöhnen lässt, aber sie war andererseits immer für ihn da: „Sie fuhr unsere Verstärker zum Übungsraum, obwohl sie uns für durchgeknallte Halbaffen hielt.“ Von der ersten Filmgage in Höhe von damals sensationellen 1500 Mark kaufte sich Marius noch eine Eishockey-Ausrüstung. Aber ein Jahr nach dem Tod des Vaters hatte die Liebe zur Musik den Traum von der Sportlerkarriere endgültig verdrängt. Bei Radio Bremen lief der „Beatclub“, die Lords landeten mit ihren ersten Hits in den Charts, und in jeder Stadt wurden Bandwettbewerbe abgehalten. Westernhagens Truppe Harakiri Whoom gehörte damals zu den Lokalmatadoren. Sie teilte sich im Rheinland den Rock’n’Roll-Ruhm mit Rabbit und den King Bees. Auf Wunsch der strengen Mutter hatte Westernhagen die Höhere Handelsschule absolviert und nebenbei zahlreiche Jobs ausprobiert: Aufnahmeleiter, Regieassistent, Journalist für „Twen“ und „Underground“, Satire-Autor. Marius, eigener Aussage zufolge damals „eine Art Mick Jagger und Rod Stewart für Arme“, zog 1972 nach Hamburg. Die Orientierungsphase war vorüber. Er war 24 Jahre alt.

In Hamburg – bis heute Wohnsitz von Westernhagen – begann nicht nur ein neuer Lebensabschnitt, dort wurde auch der Grundstein für die steile Karriere gelegt. Unter der Ägide von Produzent und Songschreiber Peter Hesslein sowie der Band Lucifer’s Friend entstanden drei Alben („Das erste Mal“, „Bittersüss“, „Ganz allein krieg ich es nicht hin“), die im Vergleich zu späteren Werken noch etwas richtungslos wirken. Man stösst zwar hier schon auf Repertoireklassiker wie „Taximann“ oder „Wir waren noch Kinder“, aber Hessleins üppige Produktionen wirkten stellenweise emotionslos. Westernhagen wunderte sich heute, dass er damals nicht heftiger attackiert wurde, sieht aber auch positive Aspekte: „Falsche Entscheidungen, aus denen Niederlagen resultierten, haben mich wahrscheinlich weitergebracht als jeder noch so triumphale Erfolg. Ich muss sie deshalb nicht lieben, aber ich respektiere sie. Ich werde sicher immer wieder mal Fehler machen, und wenn ich Glück habe, auch weiter Erfolge feiern. Aber entscheidend ist doch, dass ich in einem Business, das immer mehr von Ignoranz und Zynismus dominiert wird, nie vergesse, wer ich bin.“

Eine Zeit lang ist Westernhagen in erster Linie Schauspieler. Zahlreiche Rollen festigen seinen Ruf als Darsteller. Den großen kommerziellen Coup landet er als überdrehter Proll Theo Gromberg in dem Ruhrgebietsepos „Aufforderung zum Tanz“ unter der Regie von Peter F. Brinkmann. Die Kinofortführung „Theo gegen den Rest der Welt“ aus dem Jahr 1980 macht ihn endgültig zum Leinwandliebling – drei Millionen Zuschauer, zu dieser Zeit erfolgreichster deutscher Film der Nachkriegsgeschichte. Westernhagen erlebt zum ersten Mal, dass Erfolg nicht nur Lust, sondern auch Last sein kann: „Erfolg gibt einem ohne Zweifel eine größere Sicherheit. Aber andererseits ist nichts so trügerisch und so gefährlich wie der Erfolg. Er kann sehr leicht zum Gefängnis werden. Doch das Selbstbewusstsein wächst auch damit, dass man seine künstlerischen Ziele erreicht. Man bekommt einen klareren Blick für die eigene Qualität. Von Sting stammt die Geschichte, die die Widersprüchlichkeit beschreibt, mit der du als erfolgreicher Künstler in diesem Markt lebst. Während seiner größten Erfolge mit Police hat er sich gewünscht, dass der Rummel um ihn endlich aufhört und er sein Leben zurückbekommt. Auf der anderen Seite war er von der panischen Angst besessen, dass der Erfolg wirklich ausbleiben könnte. Diese Zwickmühle kann ich sehr gut nachempfinden!“ Die von Medien und Publikum betriebene Gleichmacherei nach dem Motto „Theo = Marius“ ging so weit, dass Westernhagen selbst die Entmystifizierung seiner Person betrieb.

Keine einfache Aufgabe, denn zwei Jahre vor dem Kinohit war dem Düsseldorfer mit „Pfefferminz“ auch der musikalische Durchbruch gelungen. An seiner Seite ein neuer Partner. Lothar Meid, Ex-Amon Düül und Passport, liess alles Überflüssige weg und legte die Rock’n’Roll-Wurzeln wieder frei: freche Texte, schnörkelloser Groove, alles stangengerade und voll auf die Zwölf. „Johnny W“, „Dicke“, „Mit 18“ – bis heute gilt „Pfefferminz“ vielen Fans als Soundtrack ihrer Jugend. Kurios: 21 Jahre nach Veröffentlichung wird das Album mit Dreifach-Platin ausgezeichnet: 1,5 Millionen verkaufte Exemplare. Acht Jahre und sieben Alben später endete die Zusammenarbeit mit Lothar Meid und ein weiterer Werkabschnitt. Experimente mit Funk- und Reggae-Rhythmen und dann auch mit synthetischen Klängen hatten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Im Nachhinein erscheinen diese Versuche in einem anderen Licht: „‚Lausige Zeiten‘ hat mich positiv überrascht“, sagt der Künstler beim Wiederhören, „mit diesem Album waren wir unserer Zeit ein gutes Stück voraus.“

Zu weit voraus – Westernhagen wurde von der Kritik gescholten, die Verkäufe ließen zu wünschen übrig: „Ich bin ja auch in meiner Karriere durch Talsohlen gegangen, in denen die Kritiker nicht gerade aufbauend waren. Doch das Wichtigste ist, dass man sich weder durch Lobhudelei noch durch destruktive Kritik irritieren lässt. Natürlich musst du dich ständig infrage stellen, aber man sollte nie sein Ziel aus den Augen verlieren und sich nicht verunsichern lassen. Nur dadurch entsteht Glaubwürdigkeit. Und das wird nach meiner Erfahrung vom Publikum honoriert.“ Eine Meinung, mit der Marius Recht behalten sollte.

1986 war das Wende-Iahr im Leben von Westernhagen. Er trennt sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin Katrin Schaake. Polly Eltes, seine Leinwandpartnerin im Brinkmann-Film „Der Schneemann“, bringt die gemeinsame Tochter Sarah zur Welt. Als das Kind geboren wurde, war die Liaison schon vorbei.

Westernhagen hatte bei einer Modenschau das Model Romney Williams getroffen, die er seine „Komplementärseele“ nennt: „Wir fühlen uns wie zwei Hälften eines Puzzles, die lange getrennt durchs Universum geflogen sind und dann angedockt haben. Wir mussten so lange nacheinander suchen, dass wir nun keinen gemeinsamen Tag versäumen wollen.“ Seit die grazile Schönheit in Westernhagens Leben getreten ist, klappt alles wie am Schnürchen. Sie nordete den oft zwiespältigen, introvertierten Künstler ein. Westernhagen wird der, der er immer war: ein Entertainer von Natur, ein Dompteur der Massen: „Sobald ich eine Bühne betrete, werde ich zu einem Medium. Ich diene dem Publikum als Projektionsfläche. Ich muss, wie man so schön sagt, „bigger than life“ sein. Doch wenn ich die Bühne verlasse, schrumpfe ich wieder auf die normale Größe. Alles andere wäre ungesund.“ Mit Romney an seiner Seite bekam Westernhagen diesen Drahtseilakt immer besser hin. Auch musikalisch übernahm er immer mehr die alleinige Verantwortung.

Das schlicht „Westernhagen“ genannte Album – Müller wurde ersatzlos gestrichen – erschien 1987. Rene Tinner, vormals Toningenieur von Can, fungierte als Koproduzent. Zusammen optimierten sie die Verbindung von Rock’n’Roll-Attitüde und zeitgenössischem Sound. Die Tourneen wurden immer größer, die Zahlen immer besser. Zu dieser Zeit entstanden Songs, die zu den Highlights jeder Westernhagen-Show gehören: „Freiheit“, „Ganz und gar“ oder auch das auf „so weit…“ in neuer Fassung vorliegende „Nimm mich mit“: „Aus heutiger Sicht kommt mir die Originalversion zu sehr als Rockhymne daher. Die neue Produktion ist sehr viel sensibler, more sophisticated, vielleicht auch erwachsener. Dieses Potenzial hatte der Song schon immer, letzt haben wir es rausgearbeitet. Vielleicht habe ich diese Sensibilität in der Musik vor vielen Jahren noch gescheut. Das ist auch eine Frage des Selbstbewusstseins.“ Daran mangelte es ihm nun nicht mehr. Keine halbseidenen Experimente mehr. Westernhagen rockt ohne Wenn und Aber. Immer häufiger taucht der Begriff Superstar im Zusammenhang mit seinem Namen auf. Marius relativiert: „Heute ist doch jeder ein Star, der zweimal in einer Soap Opera aufgetreten ist. Wer einmal eine Single in den Top Ten hat, wird gleich zum Megastar hochgejubelt. Dass der Begriff Star semantisch etwas mit Leuchtkraft zu tun hat, schert niemanden mehr. Aber die Vermarktung ist inzwischen stärker als die Realität. Der Preis für diese Politik ist die Aushöhlung jeglichen künstlerischen Wertes in der Popmusik.“ Stichwort „Big Brother“ und die damit einhergehenden musikalischen Verbrechen: „Ich kann darüber nur lachen. Aber ich sehe solche Typen wie Zlatko eher als Opfer. Streng genommen ist er doch eine an den Pranger gestellte arme Sau. Wäre man paranoid, könnte man ja fast vermuten, dass die Industrie diese Eintagsfliegen gezielt aufbaut, weil sie leichter zu kontrollieren sind als die ach so schwierigen Künstler.“

Westernhagen steht in dem Ruf, schwierig zu sein: „Ich gebe zu, dass Promotion und Interviews sicherlich der Teil meiner Arbeit sind, den ich am wenigsten mag. Ich bin, auch wenn man sich das bei meinem Beruf nur schwer vorstellen kann, eher introvertiert. Das mag merkwürdig klingen, weil ich ja vor Hunderttausenden von Menschen aufgetreten bin. Aber auf der Bühne findet eh eine Verwandlung statt, die ich nicht erklären kann. Was die Interviews betrifft: Da geht es doch sehr viel mehr um Dinge, die nichts mit meiner Arbeit zu tun haben. Daher fühle ich mich in solchen Situationen oft unwohl. Ich habe es mit der Zeit natürlich akzeptieren müssen, dass das ein Teil des Business‘ ist. Wenn du Platten verkaufen willst, musst du eben auch Interviews geben. Aber ich habe einfach kein Interesse daran, ununterbrochen in der Boulevard- und Regenbogenpresse präsent zu sein. Das mag überheblich klingen, aber ich gehöre dort nicht hin.“ Wo er hingehört, machte „Halleluja“ klar. Ganz nach vorne nämlich. Dieses Album schafft den Sprung von null auf Platz eins. Ein weiteres Novum: „Westernhagen Live“, eine Doppel-CD, behauptete ebenfalls die Pole Position der Media-Control-Charts. Ähnlich wie Boris Becker ist auch Westernhagen ein Superstar, ein household name.

Dahin kommt man, sagt er, nur mit Glaubwürdigkeit: „Glaubwürdigkeit setzt Nonkonformismus voraus. Ich bescheiße die Leute nicht. Ich verdanke meinem Publikum meine finanzielle Unabhängigkeit. Aber ich kann auch voller Überzeugung behaupten, dass ich ihm immer sehr viel zurückgegeben habe. Nimm meine letzte Tournee als Beispiel. Sie wurde in der Branche als eine ‚Geld-Vernichtungs-Maschine‘ belächelt. Aber was ist für mich im Endeffekt denn wichtiger? Eine Show auf die Bühne gestellt zu haben, die die Zuschauer vielleicht nie vergessen werden, oder auf Kosten des Publikums an allen Ecken und Kanten gespart zu haben, um den größtmöglichen Profit zu erzielen.“ Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser Branche, dass das Publikum den „Armani-Rocker“ immer noch als Kumpel sieht. Westernhagen hat zwar ein Haus in Italien, aber man sieht’s nicht in „Gala“ oder „Schöner Wohnen“. Er hat zwar Geld, dreht aber noch heute jeden Pfennig um. Er könnte, wenn er wollte, auf jede Party gehen, aber Auftritte außermusikalischer Art sind eher die Ausnahme. Zu dem Angebot, im Formel-1-Doppelsitzer von McLaren-Mercedes über den gesperrten Kiez zu rasen, konnte er allerdings nicht nein sagen: „Da bin ich blindwütiger Fan. Schon seit Jahren habe ich davon geträumt, mal im Doppelsitzer mitfahren zu können, aber es hat sich nie ergeben. Doch dann bekam ich durch meine guten Kontakte zu Mercedes und meine Freundschaft mit Mercedes-Sportchef Norbert Haug endlich die Chance dazu. Dass das aber einen derartigen Presserummel auslösen würde, war mir in meiner grenzenlosen Naivität nicht bewusst. Plötzlich hatte ich jede Menge Mikrophone und Kameras vor dem Gesicht und war live auf Sendung. Was hätte ich tun sollen? Ich konnte ja schlecht einfach alle beiseite schieben. Aber in diesem Boliden mitfahren zu dürfen, hat mich für alles entschädigt. Ich habe großen Respekt vor der Leistung der Formel-1-Piloten. Allein schon die Tatsache, dass sie sich noch kurz vor dem Start diesem Zirkus auf der Pitlane aussetzen müssen. Das könnte ich nicht. Ich brauche vor einer Show die Muße zur Konzentration, und ich bin froh, dass es einen Backstage-Bereich gibt, in dem ich ungestört sein kann.“

Bei Sportthemen wird der sonst eher wortkarge Westernhagen gesprächig. Er ist ein kundiger Fußball-Fan (BVB) und davon überzeugt, dass Matthias Sammer „auch als Trainer seinen Weg machen wird“. Und den Ritt auf dem Boliden von McLaren-Mercedes beschreibt er so: „Wenn man auch nur im Geringsten zu Klaustrophobie neigt, sollte man die Finger davon lassen. Die Bezeichnung ‚Doppelsitzer‘ ist eine süße Lüge, denn du wirst regelrecht in das Auto hineingebaut. David Coulthard saß direkt zwischen meinen Beinen, und ich konnte Kopf, Arme und Beine kaum bewegen. Und dann bekommst du noch so beruhigende Sätze wie ‚Mach dir keine Sorgen, wir kriegen dich immer in zwei Minuten aus dem Auto raus‘ mit auf den Weg. Im Vorfeld musste ich unglaublich viele Papiere unterschreiben, um zu dokumentieren, dass ich mich auf eigene Verantwortung auf den Spaß eingelassen habe und niemanden für eventuelle Unfälle haftbar mache. Außerdem ist eine eingehende Untersuchung Pflicht. Neben einem Belastungs-EKG muss auch die Wirbelsäule geröntgt werden. Du musst verhältnismäßig fit sein, um in so einem Geschoss mitfahren zu dürfen. So ein Fahrzeug beschleunigt in zwei Sekunden von null auf 100 Meilen. Das ist ein gewaltiger Schub!“

Einen gewaltigen Schub bekam auch Westernhagens Karriere in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. Rekorde, wohin man auch schaute: drei Echo-Preise, ein Bambi in der Kategorie Pop, ein Silver Screen Award für das Musikvideo „Krieg“. Alle im „JaJa“-Jahr 1992. Westernhagen wird ein Stadion-Act und zeigt, was Zahlen und Stimmung angehen, in seinem Revier selbst den Stones die lange Nase. Man gewöhnte sich daran, dass er oben war und oben blieb. Doch er selbst hatte bei jedem Album olympisches Fieber und machte sich ernste Gedanken: „Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als durch Qualität zu überzeugen. Bisher gab es ja immer noch genügend junge Leute, die in unser Publikum nachgewachsen sind, das ohnehin unglaublich loyal ist.“

Auch bei „Affentheater“ das gewohnte Bild: 700.000 Vorbestellungen, Platz eins. Westernhagen, der seil Jahren mit seiner englischen Mannschaft in London produziert und musiziert, füllt 15 Stadien. Die Tour wurde von dem Dokumentarfilmer Donn Alan Pennebaker und seiner Partnerin Chris Hegedus fürs Kino aufbereitet. Dank Romneys Hi-8-Aufnahmen und der Cinema-Verite-Technik von Pennebaker gelang sogar der Blick hinter die Kulissen und in den sonst total abgeschotteten Backstage-Bereich. Trotzdem wurde der Film kein Erfolg. Sehenswert aber (es gibt ihn als Video) bleibt er allemal. Man kann miterleben, wie es ist, rauszugehen zu diesem Raubtier Publikum. Westernhagen: „Ich gehe auf die Bühne, und da warten 100.000 Menschen auf mich, und ich muss ihre gebündelte Energie reflektieren. Da ist es ganz natürlich, dass ich während einer Tour an Day-Off-Tagen manchmal Heulkrämpfe bekam. Das hat nichts damit zu tun, dass ich etwa unglücklich oder traurig war. Der angestaute Druck suchte sich einfach ein Ventil. Und das ist auch gut so.“

„Radio Maria“ erscheint 1998. Während seiner Abschiedstournee wird Westernhagen 50. Zeit für eine Zäsur: „Der Schritt, von den Stadionbühnen abzutreten, ist mir letztlich viel schwerer gefallen, als ich es mir vorgestellt habe. Mir wurde plötzlich klar, wie viel es mir und wie viel es auch dem Publikum bedeutete.“

Nun also zieht der kreative Unruhegeist mit dem Best-Of-Album Zwischenbilanz. Die Song-Compilation ist in zwei Versionen erhältlich: als Einzel-CD mit 18 Tracks und als Doppel-CD im Digipack mit 29 Tracks. Frage: Bedeutet das Best-Of-Album das Ende von Westernhagens Karriere? „Um Gottes willen! Natürlich nicht!“ Auf eine mögliche Fortsetzung seiner Karriere als Schauspieler angesprochen, antwortet Marius im Stile Beckenbauers: „Schau’n wir mal.“ Wie immer Westernhagen sich auch entscheiden mag, seine Grundeinstellung dürfte sich kaum ändern: „Ich will in diesem Geschäft nicht zum Arschloch werden. Ich will als Mensch und Künstler wachsen.“

TEXT: TEDDY HOERSCH/RALPH PACKERS FOTOS: OLAF HEINE