Debbie Harry – Blondie am Spieß
Noch ehe am Donnerstag die Maschine der British Airways in München zur Startbahn rollt, habe ich mäne erste Begegnung mit Debbie Harry. In der Reihe vor mir sitzt an junger Mann, vertieft in die Lektüre des "Daily Mail". Die Schlagzeile des Tages: BLONDIE IS A BROWNIE darunter an Foto von Debbie bei ihrer Ankunft in London. Und tatsächlich: schulterlange, braune Locken. Vier Tage später allerdings ist diese Meldung schon wieder Schnee von gestern.
Freitag. Presseparty für Debbie in London. Schauplatz ist das „Sanctuary“, ein Fitnessclub für Frauen. Mit sanfter Gewalt zieht der Leibwächter mit dem Kreuz eines Möbelpackers den Star durch ein Spalier von illustren Gästen. Vorbei an Bob Geldof, Hazel O’Connor, einigen Stranglers, Ultrafüchsen, Visagisten und Spandauer Ballettänzern. Flüchtiges Kopfnicken an alle, Blondie mit giftgrüner Mähne!
Samstag. Debbie heute mit David Bowie’s „Aladin-Sane“-Haarschnitt: leuchtendes Rosa, durchzogen von einigen blonden Strähnen.
Sonntag. Diesmal pechschwarzes Haar – der arme Friseur!! Immerhin verzichtet Debbie während der gesamten vier Tage auf die Schaschlik-Spieße, die ihr der Schweizer Surrealist H.G. Giger fürs Cover von KOO-KOO durch die Backen geschoben hat. Denn die wirbelten ohnehin schon einigen Staub auf: Die Londoner Verkehrsbetriebe weigerten sich standhaft, die Plakate mit Debbies malträtiertem Portrait in ihre Subways zu kleben.
Giger selbst, im Schlepptau von Debbie und Chris Stein, hat den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als jedem, der es nun wissen will (oder nicht), minutiös zu erklären, warum er Debbie überhaupt aufgespießt habe. „Für mich war Debbie schon immer die Königin des Punk. Und Punk heißt doch wohl, sich diese … wie heißen sie noch ?… Sicherheitsnadeln durch die Haut zu stecken. Ich selbst bin auch mal akkupunktiert worden, als ich neulich krank war. Akku-Punk-Tur, alles klar? Außerdem habe ich ein Buch von Thor Heyerdahl gelesen, „Aku-Aku“ heißt es. Heyerdahl war auf den Osterinseln, wo es ja diese Steine gibt, die mit magischer Energie aufgeladen sind. Chris und Debbie haben mir auch erklärt,‘ KooKoo – das heißt soviel wie „ein bißchen verrückt sein, crazy…“, so habe ich es jedenfalls verstanden. Aber ich glaube, das Bild verliert nur an Wirkung, wenn ich zuviel darüber erzähle.“
Debbie Harry sitzt derweil gelangweilt auf dem Sofa, ihre Katzenaugen wandern unbeteiligt umher, während Giger unermüdlich und trotz gegenteiliger Beteuerungen sein Kunstwerk zu erläutern sucht. Wir erfahren, daß jede Nadel ihre spezifische Bedeutung hat, „es sind die vier Naturelemente, Erde, Feuer, Wasser und Luft…“ Der gute Mann findet einfach kein Ende.
Rosa ist heute bei Debbie angesagt Das rosaschwarz gestreifte Micro-Minikleid ist perfekt auf ihre rosa-blonden Haare abgestimmt. Hin und wieder schiebt sie sich einen Riegel Schokolade in das rosa geschminkte Schmollmündchen; die weiche Cremefüllung schmeckt ihr offensichtlich am besten.
Wie immer der eloquente Surrealist das Cover auch deuten mag, fest steht jedenfalls, daß sich die Musik dieser Platte erheblich von bisherigen Blondie-Klängen entfernt hat. Das auf der Hülle abgedruckte Zitat aus Edgar Allen Poes „The Raven“ darf wohl als Attacke gegen jene Kritiker verstanden werden, die in Debbie nur eine Marionette sehen, die von Maestro Chris Stein bedient wird. „Doubtless“, said I, „what it utters is only stock and store.“
Sollte das als Aufbäumen gegen ein festgefahrenes Image gedacht sein … ?
„Ein wenig schon“, erwidert Debbie, „wir haben unser Image zwar selbst in die Welt gesetzt, aber es ist eben auch oft mißverständlich interpretiert worden. Es war daher eine Herausforderung, gänzlich neue Wege zu gehen.“
KOOKOO, so betont sie mit Nachdruck, sei keinesfalls ihr Soloalbum, sondern vielmehr das Ergebnis der Zusammenarbeit mit den drei Chic-Mitgliedern Nile Rodgers, Bernard Edwards und Tony Thompson, die sie zur Creme der heutigen Musiker zählt. Rodgers und Edwards schrieben die Hälfte des Materials, sie spielten auf allen Tracks und haben das Album überdies auch produziert. Ihre Mitarbeit, so sagt sie, sei für sie auch insofern wichtig gewesen, als sie Teil ihres privaten Kreuzzuges sei, das weiße Rockpublikum von der Bedeutung der neuen schwarzen Musik zu überzeugen. Denn zumindest in den USA liefen die weißen Kids noch immer mit den leidigen „Disco Sucks“-T-Shirt herum.
„Schon Blondie ist in gewisser Weise in diese Richtung gegangen. „Heart Of Glass“ und besonders „Rapture“ haben wir ganz bewußt als Verbeugung vor den schwarzen Kids gemacht. Die Leute von Chic kennen wir schon seit Jahren, wir respektieren gegenseitig unsere Musik, und so war es denn ganz natürlich, auch einmal gemeinsam zu arbeiten. In gewissem Sinne war es sogar viel einfacher, mit Chic als mit Blondie ins Studio zu gehen. Chic ist einfach eine kompakte Einheit, in der jeder seine präzisen Aufgaben
hat. Bei Blondie hingegen geht es oft genug konfuser zu, weil sich die Funktionen in der Gruppe überlappen. Mike Chapman hat uns als Produzent sicher enorm gehollen, den „Wall of Sound“ zu linden, der für Blondie so typisch wurde. Aber seine Arbeitsmethode ist doch reichlich kompliziert. Mit Niles und Edwards läuft alles viel spontaner, weil sie auf dem Album selbst mitspielen.
Die Chic-Produktion hat offensichtlich auch dazu beigetragen, Debbies stimmliche Möglichkeiten entscheidend zu erweitern. Die jazzigen Phrasierungen bei Jump Jump“ zB. oder die Ballade „Now I Know You Know“ zeigen Nuancen, die vorher einfach nicht vorhanden waren. Die Schrillheit und Lolita-Süße früherer Aufnahmen ließ man dezent unter den Tisch fallen.
„Sicher, Singen ist eine Übungssache, ein Muskeltraining. Ich merke, wie ich ständig besser werde. Andererseits kann ich meinen Entwicklungsstand nicht so recht beurteilen, denn es hängt viel davon ab, wie ein Produzent meine Stimme einsetzt, wie er sie verändert und elektronisch verfremdet. Aber es stimmt, ich trainiere meine Stimme regelmäßig. Ich habe gelernt, daß der Brustkorb ein Resonanzkörper ist – und daß ich durch spezielle Atemtechnik mehr aus meiner Stimme herausholen kann.“
Debbie würde KOOKOO gerne auch live präsentieren, bezweifelt allerdings, daß dies auf herkömmliche Weise möglich sein wird .Die Auftritte müßten etwas Besonderes sein, ein spontanes Happening. Beispielsweise einfach vor einem Supermarkt aufzutauchen, den Cassetten-Recorder aus dem Kofferraum zu holen und zu einigen Tapes zu rappen. Ich möchte vor allem meinen Spaß haben, es geht mir nicht ums Geldverdienen. Diese Mammut-und Money-Tourneen sind doch nur Streß, entsetzlich für Publikum und Band. Ich frage mich langsam, was das überhaupt noch soll? Ich habe keinen Bock mehr darauf, daß Tikkets auf dem Schwarzmarkt 100 Dollar kosten, ich habe keinen Bock mehr darauf, wenn die Kids in die Absperrungen gequetscht werden und ohnmächtig werden. Ich möchte, daß die Leute Spaß haben, tanzen oder was trinken können, anstatt von brutalen Ordnern wieder auf ihren Platz gedrückt zu werden.“
Hat es dir denn mehr Spaß gemacht, als die Band noch auf dem Weg nach oben war?
„Hmm, ich weiß nicht, es war jedenfalls nicht gerade besonders angenehm. Wir hatten viele Probleme und kein ausreichendes Equipment, jedes Konzert war ein Vabanque-Spiel. Darauf kann ich heute gerne verzichten. Wenn man ein halbes Jahr auf Tournee ist, ist man von so vielen Faktoren abhängig. Die Musik an sich ist schon eine wichtige Sache, die den Leuten wirklich etwas gibt, aber Konzerte… ich weiß nicht. Chic geht im Winter auf Tournee, vielleicht mache ich da ein paar Konzerte mit. Wir haben das übrigens schon mal gemacht, bei einem New Yorker Benefiz-Konzert für James Chances Freundin Anya Phillips. Wir haben ein paar Stücke vom Album vorgestellt, ohne große Proben, ganz spontan. Es klappte ausgezeichnet. „
Rapping ist ein anderes Thema, das Debbie offensichtlich am Herzen liegt. Für die Londoner Präsentation von KOOKOO flog man eigens Rap-Spezialist Kurtis Blow ein, der sich pflichtbewußt der Plattenspieler bemächtigte und demonstrierte, was es denn mit dem get down nun auf sich habe. Für meine englischen Ohren gab es da kaum einen Unterschied zu anderen Rap-DJs aus New York, aber für einige Anwesende war Kurtis augenscheinlich die Offenbarung.
Debbie hatte ihre erste Begegnung mit Rapmusik, als die Gruppe das Video von »The Hardest Part“ drehte, in dem eine Street-Gang namens „Fab Five“ eine New Yorker U-Bahn mit Graffiti dekorierte.
„Einer der Jungs kam mit Rap-Tapes, die in den finstersten Vierspur-Studios in Brooklyn aufgenommen waren. Katastrophale Qualität, aber wirklich cooler Funk. Wir gingen daraufhin einmal zu einem Rapper-Treffen in der Bronx und lernten ein paar von ihnen kennen. OK, die Musik mag nicht neu sein, aber sie ist frisch. Für viele schwarze Kids ist es einfach eine neue Ausdrucksform. Es ist cool und es ist hip, jeder kann es und jeder macht es. Man braucht ja nicht einmal ein Instrument spielen zu können. Ein Ende dieser Bewegung ist noch überhaupt nicht abzusehen.“
Rappin‘ – schön und gut, aber was passiert eigentlich mit Blondie?
„Keine Ahnung“, gesteht Debbie, „ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen wird Ich erzähle lautend den Leuten, daß Blondie nicht auseinander ist. Aber momentan macht eben jeder sein eigenes Ding, und es ist unwahrscheinlich, daß wir in absehbarer Zukunft wieder zusammenarbeiten werden.“
Was ihre eigenen Pläne betrifft, so ist sie nach „The Foreigner“, „Unmade Beds“, „Roadie“ und „Union City“ – weiteren Filmplänen durchaus aufgeschlossen. Außerdem steht Filmmusik auf dem Programm: Chris und Debbie haben kürzlich den Soundtrack für „Polyester“ geschrieben, den Underground-Filmer John Waters („Pink Flamingoes“) drehte. Ein weiteres Projekt ist ein gemeinsames Buch, in dem Chris und Debbie die Erfahrungen mit Blondie aus ihrer Sicht schildern wollen. Chris Stein wird dann wohl zum ersten Mal ausgiebig Gelegenheit haben, „die Medien zu manipulieren* – wie er es so gerne ausdrückt. Oh ja – die Presse! Dieses leidige Thema taucht wohl in jedem Blondie-Artikel auf – sei es das Buch von Lester Bangs, sei es der Rolling Stone, sei es…
„Ich glaube, daß ich grundsätzlich meinen Erfolg ganz gut verdauen kann, weil er bei mir später kam als bei anderen Leuten im Rockgeschäft. Ich halte mich für recht stabil, ich stehe mit beiden Füßen auf dem Boden. Meine Beziehung zu Chris gibt mir die nötige Ruhe und Stärke. Mir macht es daher nichts aus, Interviews zu geben. Ich rede über alle Themen, die der betreuende Journalist anschneidet. Das einzige was mich wirklich nervt, ist der Fall, wenn die Schreiber meine Worte absichtlich verdrehen oder falsch interpretieren. Das tut weh, und deshalb habe ich auch aufgehört, Interviews oder Reviews meiner Platten zu lesen.“
Taktvoll wie ich nun mal bin, wechsle ich das Thema: Ein so wesentlicher Bestandteil von Blondies Musik – auch von KOO-KOO — dreht sich um New York, musikalisch wie textlich gesehen. Könntest du dir überhaupt vorstellen, an irgendeinem anderen Platz auf dieser Erde zu leben?
„Vorstellen kann ich mir das schon, aber ich will es einfach nicht. Wenn, dann höchstens in Hongkong oder Bangkok. Ich liebe diese Ameisenhaufen. Ich habe selbst eine Ameisenhaufen-Mentalität. Warum, weiß ich nicht. Vermutlich ist es die Spannung, die Aktivität. Und vielleicht auch das Gelühl der Anonymität. Das ist wichtig für mich. Aber dummerweise sind wirklich gute Ameisenhaufen heutzutage rar.“