ME.Helden

Unser Mann im Himmel


Wie David Bowie David Bowie wurde und die ganzheitliche Popmusik erfand, wie wir sie lieben. Eine Hymne auf sein Frühwerk, zuerst erschienen in unserem Jahresrückblicksheft 2013.

David Bowie kam zwölf Jahre später auf die Welt als Elvis Presley, auf den Tag genau. Den Rock’n’Roll hat er als Kind erlebt in einer Zeit, in der man sich noch nach der Zukunft sehnte, und in einem Kosmos, dem man noch durch Kunst entkam. Die Eltern waren aufgeschlossene Kleinbürger in Bromley, in der Londoner Vorstadt. H. G. Wells, der Science-Fiction-Pionier, kam aus Bromley wie später der harte Kern der Punk-Kulturrevolte. Bereits in den Fünfzigern traf dort der wertkonservative Arbeiter auf den asiatischen Migranten. In der 1993er-Fernsehserie „Buddha aus der Vorstadt“ nach einem Roman von Hanif Kureishi wurde Bromley so noch in den Siebzigern gezeigt in seiner starren und stabilen Ordnung, zur Musik von David Bowie. Jeder wollte fort und hoch hinaus, zumindest in den Tagträumen. Der kleine David Jones wurde mit fünf von einem Song erweckt, der in der Popmusik mehr Spuren hinterlassen haben dürfte als jeder kanonische von Elvis. „The Inch Worm“ von Frank Loesser wurde 1952 im Kinofilm „Hans Christian Andersen und die Tänzerin“ gesungen. Ein trauriges Kinderlied über Raupen und Zahlen mit einfachen, aber seltsamen Harmonien. John Coltrane hat „The Inchworm“ geblasen, Paul McCartney hat es zuletzt auf seinem Nostalgiealbum KISSES ON THE BOTTOM gesungen. Vor zwölf Jahren hat Bowie mit Kate Moss im britischen „Q Magazine“ darüber gesprochen: „‚Inch Worm‘ hat mich getröstet. Der Sänger klang, als wäre er verletzt worden, und so was mag ich. Künstler, die ihren Schmerz wegsingen. Kaum jemand würde glauben, wie viele meiner Songs ihren Ursprung in diesem Song haben.“ Eindeutig „Aladdin Sane“ und „Life On Mars?“ etwa.

Vor über sechzig Jahren, als das Fernsehen über die Menschheit kam, war Bowie jung genug, um nachhaltig davon berührt worden zu sein. Mit sechs sah er die Krönungsmesse von Elisabeth II. und dann alle abwegigen Sci-Fi-Serien, in denen Außerirdische die anderen waren, Homosexuelle, Kommunisten oder Jungs, die sich zu Höherem berufen fühlten in der schönen neuen Welt da draußen. Er war acht, als er James Dean im Kino sah, in „Jenseits von Eden“ als unverstandenen Kleinstadt-Helden. Kurz darauf war James Dean tot, ein männlich-weiblicher Rebell im Himmel. Neun war Bowie dann, als ihm sein Vater Little Richards Single „Tutti Frutti“ schenkte. „Ich platzte fast vor Aufregung“, entsinnt sich Bowie. „Die Musik füllte den Raum mit Energie, Farbe und einem skandalösen Trotz.“ Die zweite musikalische Initiation. Im Kino sah er Little Richard und erfasste, frühreif oder altklug wie er war, sofort die Dimension dieser Erscheinung: Hier spielte ein schwuler Schwarzer die entartete Musik der Zeit für Weiße. Mit zwölf suchte sich Bowie einen Saxofonlehrer und fand ihn in Ronnie Ross von den Jazzmakers. Später sollte Ross das Solo in Lou Reeds „Walk On The Wild Side“ blasen, in den ausklingende Fünfzigern war er damit befasst, einem beflissenen Schüler der Bromley Technical High School beizubringen, was Musik bedeutet und sich musikalisch auszudrücken. Zu seinem Idol erkor der junge Bowie allerdings den Amerikaner Gerry Mulligan, bei dem auch die Frisur zur Eleganz der Stücke passte.

An der Schule konzentrierte Bowie sich auf das Fach Kunst bei Owen Frampton, Vater von Singer/Songwriter Peter Frampton, und aufs Gründen kurzlebiger Bands. Er las buddhistische Schriften, Beat-Literatur und Colin MacInnes’ „Absolute Beginners“ für den subkulturellen Überbau. Mit 16 ging er von der Schule ab, erfolglos, wie es sich gehört für einen kommenden Künstler. Owen Frampton brachte ihn bei JWT unter, der angesehenen Werbeagentur, als „Junior Visualizer“. Bowie hielt sich öfter im Dobell’s, Londons größ- tem Plattenladen, an der Charing Cross, als oben im Büro auf, und legte sein Gehalt in Alben von Bob Dylan und John Lee Hooker an. Die Paradigmen wechselten minütlich. Einerseits emanzipierte sich die britische Musikkultur mit Gruppen wie den Shadows. Andererseits bekannten sich die Mods von London, zu denen sich Bowie zählte, lieber zum traditionellen Blues als zum damals modernen Britpop. Noch war Bowie sich nicht klar darüber, welche Art der Kunst er als Beruf ergreifen wollte. Neben Kamera und Skizzenblock trug er sein Saxofon und bald auch die Gitarre bei sich. Er studierte den Stil des neuen Spielfilms und das Schauspiel Michael Caines. Begeistert spielte er das Saxofon und sang im Hintergrund bei George And The Dragons. 1963 nahm er mit den Konrads seinen ersten eigenen Song auf, zwischen Doo Wop, Beat und freiem Jazz. „I Never Dreamed“ ist für den Diskografen Nicholas Pegg der Heilige Gral in Bowies Schaffen. Bootleg-Ritter müssen ihn heute nur bei YouTube suchen.