Das Wort zum Sonntag
sollen jene verkünden, die sich berufen fühlen. Das Wort zum Jahresende aber hat Heinz Rudolf Kunze, Preuße von Geburt, Freigeist von Natur. GESPRÄCHSPARTNER: ULI HOFFMANN FOTOS: PETER BADGE
Die Fernsehnation beschäftigte sich im zurückliegenden Jahr vor allem mit einem ganz bestimmten Thema. Wie steht Heinz Rudolf Kunze zur Big-Brotherisierung unseres Landes?
Das ist ja kein rein deutsches Phänomen mehr. Ich habe in Belgien, beim Abmischen des neuen Albums, mal hineingeschaut. Woanders ist die Sendung spaßiger, dynamischer, lustiger. Es scheint zum deutschen Nationalcharakter zu gehören, zu grübeln und zur Melancholie zu neigen. Erschreckend finde ich, dass die Mehrheit der Menschen offenbar ein so ödes Leben führt, dass sie sich die Öde anderer ansieht.
Für Furore sorgte anno 2000 auch ein ganz bestimmtes Wort, für viele ist es sogar das Unwort des Jahres: die deutsche Leitkultur. Hast du verstanden, was das ist?
Friedrich Merz wollte damit sicherlich polarisieren. Ich finde, dass „Leitkultur“ keine „braune Spur“ hat, wie es auf den Demo-Spruchbändern stand. Es gibt einfach Werte, an denen sich jeder orientieren sollte, der hier bei uns leben will. Man kann nicht wüste Religionsgemeinschaften absolute Menschenrechtsverletzungen begehen lassen und dann wegschauen und sagen, das fällt unter religiöse Toleranz.
Andererseits laufen die neuen Nazis fast ungestört mit hochgerecktem Arm durch deutsche Innenstädte.
Nie haben die wirklichen Nazis von 1933 so barbarisch offen gesagt: Wir wollen die Juden abschlachten; Vergasen macht Spaß. Die waren viel behutsamer, taktischer. Heute bricht sich eine diffuse Wut auf sehr pubertäre Art Bahn. Schröder hat nicht oft Recht, aber diese Leute schaden mit ihrer „Vaterlandsliebe“ unserem Land extrem, sie beschädigen das Ansehen ihres so geliebten Deutschlands in der ganzen Welt. Erstaunlicherweise erfährt man so wenig von den eigentlichen politischen Zielen des harten rechten Kerns. Kein Politiker diskutiert öffentlich mit denen und fragt die Funktionäre: Liebe Freunde, wie stellt ihr euch das eigentlich vor? Wollt ihr wirklich Deutschland in den alten Grenzen, mit Elsass-Lothringen, Ostpreussen und Sudetenland, und Österreich und die Schweiz am besten noch dazu? Das ist ein irrsinniger Traum, da wäre Deutschland am nächsten Tag nur noch eine Atompilzwolke.
Du wohnst im Umfeld Hannovers, kennst du unseren Kanzler?
Ich kenne ihn. Es ist schwierig, etwas Verbindliches über ihn zu sagen. Er ist superpragmatisch und flexibel. Es gelingt ihm, dass die großen Grundwerte-Worte wie Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit bei ihm besonders biegsam klingen, weil er sie instinktiv mit dem füllt, was die Leute gerne haben wollen.
Apropos haben wollen: Die Menschen möchten Websites. Kennst du dich mit den neuen Informationstechnologien aus? Betreust du zum Beispiel deine eigene Website?
Nein! (lacht befreit) Die haben glücklicherweise Fans und Freunde gestaltet, und sie scheint sehr umfangreich und gut geworden zu sein. Meine Texte schreibe ich mit der Hand; ich brauche einen materiellen Kontakt zur Entstehung von Sprache.
Hast du dennoch den Streit um Napster mitbekommen?
Ich fand es immer selbstverständlich, dass man für Musik bezahlen muss. Die Kollegen sind da zum Teil sehr verlogen. Die sich da angebiedert haben, beschäftigen wahrscheinlich die teuersten Anwälte. Wovon bezahlen die denn sonst ihre unglaublich protzigen Ludengoldketten? Es ist einfach ungerecht: 30 Mark für eine CD sind – im Vergleich mit den Preisen für aktuelle Modeartikel, aber auch im Verhältnis zu der Arbeit und den Kosten-absolut gerechtfertigt.
Hast du nie Songs aus dem Radio mitgeschnitten?
Doch, klar. Die Hitparade von Radio Luxemburg. Aber die Soundqualität war so schlecht. Das war eher eine akustische Gedächtnisstütze dafür, was ich mir kaufen wollte.
Im deutschen Fernsehen herrscht Spaßterror – wir lachen uns zu Tode. Jede Geschmacklosigkeit ist recht. Ein schrecklicher Werteverfall?
Da gibt es hochbegabte Erscheinungen: Ingo Appelt. Der ist hochintelligent, aber unglaublich obszön. Piet Klocke ist ein göttliches Urtalent. Wenn die neue Comedy es möglich gemacht hat, dass Sat 1 jede Nacht Monty Python in der Endlosschleife zeigt, dann finde ich das super. Leider haben nicht alle Komiker soviel Takt wie Wiegald Boning, der seine Truppe nach fünf Jahren auflöste.
Was hältst du von der neuen Generation deutscher Musiker?
Ich habe schon vor langer Zeit deutschen Rap und HipHop vorhergesagt, als ich „Sicherheitsdienst“ gemacht habe. Die deutsche Sprache eignet sich dafür sehr gut, besser als für langgezogene Töne.
Welche deutschen Nachwuchskünstler magst du?
Xavier Naidoo, der hat eine märchenhafte Stimme, der kann richtig singen. Blumfeld hab ich immer gern gehört, auch manche Ostbands, zum Beispiel Das Auge Gottes. Und „Du trägst keine Liebe in dir“ von Echt ist eine klasse Popnummer – wenn schon Pop, dann so!
Von Echt bis Britney sind manche mit 17 schon Stars. Was hast du mit 17 gemacht?
Ich saß in meinem Kellerzimmer in Osnabrück und habe mit einem Freund, der leider nicht mehr lebt… (stockt) …der hat mir immer Tonbandmaschinen geliehen. Und dann habe ich im Playbackverfahren riesige popsymphonische Werke wie Mike Oldfields „Tubular Bells“ aufgenommen.
Was hältst du von bewusst bösen Bands wie Eminem, Slipknot, Korn, Rammstein oder Papa Roach?
Ich habe überhaupt nichts dagegen. Das erinnert mich an meinen Song „Die Fütterung“, wo ich meine Mutter umbringe, auf „Der schwere Mut“. Ich habe damals noch extra darunter geschrieben, dass das Lied nicht von meiner wirklichen Mutter handelt. Aber Muttermord ist immer ein spannendes Thema, das macht man in der Literatur gerne. Ich finde, die künstlerische Freiheit reicht sehr weit.
Aber das Publikum ist streckenweise zu dumm, das zu begreifen?
Da zitiere ich Hegel: „Das ist umso trauriger für die Wirklichkeit.“ Wenn nicht der eindeutige Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist, dann muss man jemanden schon machen lassen. Ein Künstler kann nichts dafür, wie dämlich die Welt ist.
Die europäische Bevölkerung ist plötzlich von einem Phänomen betroffen, das du wahrscheinlich gut kennst: unsichere Arbeitsplätze. Früher fing man bei AEG an und hörte bei AEG auf. Jetzt zieht man fürs Internet-Startup nach München, und ein Jahr später ist die Firma pleite. Wie hält man diese Unsicherheit aus?
Lafontaine hat in seinem Buch dargelegt, dass Flexibilität auch ein Fluch sein kann. Ich selbst habe das Risiko nicht bereut. Mit einer Spatz-in-der-Hand-Strategie wäre ich verzweifelt. Ich kenne die Ängste, die ein so völlig ungeschützter Weg mit sich bringt. Aber was man an Glück zurückbekommt, und was man an Selbstbestimmung durchhalten kann, ist enorm! (grinst) Und eine gewisse Portion Beklopptheit und Weltfremdheit, ohne die man so einen Beruf ja gar nicht ausüben würde, helfen auch.
Du bist seit 20 Jahren bei derselben Plattenfirma, warum?
Ich habe ja auch immer noch dieselbe Frau! Ich neige zur Stetigkeit, und sie haben mich lieb. Ich bin dort der nicht schlecht bezahlte literarische Hofnarr. das ist meine Nische. Ich bin eben der Haus-Dylan.
2000 war das Jahr der musikalischen Auferstehungen: Duran Duran, A-ha, Santana, Lionel Richie…
Dass Santana wieder Erfolg hat, freut mich sehr. Warum nicht, wir leben in einer Retro-Zentrifuge. Das Zitatenkarussell dreht sich immer schneller. Frank Zappa schrieb in seiner Autobiografie: Irgendwann kommen die Musik und die Weltgeschichte zum Stillstand, dann wird etwas erfunden und ist gleichzeitig seine eigene Retrospektive – und das ist das Ende der Welt.
Aber noch ist es ja nicht so weit. Noch gibt s Neues. Auch in der Musik. Vor diesem Hintergrund die Frage: Welche Platte ist für dich die beste des hinter uns liegenden Jahres?
„Kid A“, das Album von Radiohead! Ein gelungener kommerzieller Selbstmord, aber ich find’s wunderbar! Es erinnert mich an eine meiner fünf Lieblingsplatten, „Rock Bottom“ von Robert Wyatt. Eine ganz sphärische, autistische, lallende, nach Äther riechende Platte.
Guckst du Musikfernsehen, MTV oder Viva?
Nein. Diese schnellen Schnitte machen mich nervös.
Das Jahr 2000 wartete mit zwei großen Sportereignissen auf, mit der Fußball-EM und den Olympischen Spielen – alles nur noch Show?
Ich bin Sportfan! Ein Pass von Günther Netzer hat schon was von einem gelungenen Satz. Ich gucke mir eigentlich nur noch Nachrichten, behäbige deutsche Krimis und Sport an. Was die EM angeht, war die Substanz nicht so schlecht, dass sie sich hätten dermaßen unter Wert abschlachten lassen müssen. Das war ein Schock: Früher gab es nur Brasilien, Italien und Deutschland. Aber Erich Ribbeck, der mich früher mit seinem eleganten Auftreten sehr beeindruckt hat, war wohl überschätzt. In Sydney sagte Blacky Fuchsberger, der ja schon ein humorvoll gutgelaunter alter Mann ist, und alte Männer sind oft mutiger live im Fernsehen: „Wir wollen alle ständig Spitzenleistungen sehen, also warum geben wir dann nicht die Drogen frei? Sonst haben wir die grössten Rekorde gesehen, mehr geht einfach nicht! Wenn die Leute sich schaden wollen, um uns zu gefallen, bitte sehr.“ Der Moderator war völlig fertig und gab kommentarlos zur nächsten Sportart ab. (lacht)
Das bringt uns zum Thema Daum und Drogen. Was war da eigentlich los?
Ich blicke da nicht durch, aber ich habe das Gefühl, der wurde reingelegt. Daum wurde vorgeworfen, nicht als Vorbild für die Jugend geeignet zu sein, aber diese Vorwürfe kamen von Hurenböcken und Saufköppen aus den Vereinsvorständen. Moralisch fragwürdige Gestalten legen sehr enge Maßstäbe an ihren Cheftrainer an. Ich finde, das unterschätzt die Jugend auch sehr. Ich selber habe keine Drogen außer Alkohol und Nikotin probiert, und zwar vor allem deshalb, weil ich befürchte, es könnte mir zu gut gefallen. Ich stelle allerdings mit Freuden fest, dass Leute mir oft unterstellen, ich hätte Drogen genommen, wenn sie meine Text lesen.
Was hast du im letzten Jahr gelesen?
Die gesammelten Schriften des Literatur- und Kunstkritikers Albrecht Fabri, erschienen bei 2001. Das ist eine Art Adorno, den jeder lesen kann. Ludger Ludgerhaus‘ Geschichte des Nihilismus, ein dickes Buch, auf dem in goldenen Lettern „Nichts“ steht. Die Nietzsche-Biografie von Rüdiger Safranski. Und natürlich Harry Potter! (ganz begeistert.) Ich bin mitten im vierten Band. Es war für mich eine Überwindung, meine Kinder fanden’s auch nicht so, aber meine Frau ist voll drauf abgefahren. Und nachdem ich letztes Jahr gute Erfahrungen mit ihr gemacht hatte, als sie mir die Krimis von Donna Leon empfahl, habe ich es probiert – das sind tolle Charaktere, da kann jeder jemanden finden, mit dem er sich identifizieren kann.
Wirst du noch von Schulerzeitungen interviewt?
Sicher. Viele sind sehr gut vorbereitet, andere fragen nur: Lieblingsfarbe? Lieblingstier?
Und? Welches Tier magst du am liebsten?
(begeistert) Ein Nacktnasenwombat. Ein australisches Tier, das aussieht wie das niedlichste Flußpferdbaby! Ein bisschen wie das Sams.
Zurück zur Musik: Hast du im Jahr 2000 irgendwelche tollen Konzerte besucht?
Lou Reed in Hamburg. Elton John solo. Den habe ich immer gemocht, und wer meine Klavierballaden kennt, weiss warum. Und das schönste Konzert war Bob Dylan in Topform-gutgelaunt, inspiriert. Bei „Tangled Up In Blue“ und „Like A Rolling Stone“ hab ich doch sehr feuchte Augen gehabt.
Thema Film: Bist du 2000 im Kino gewesen?
Ich bin kein Kinofreund, ich mag Filme nicht mit anderen Menschen teilen. Wenn’s gerade packend wird, reißt einer die Erdnusstüte auf!
Eingetütet wurde auch einiges an der Börse, speziell am neuen Markt. Hast du Aktien?
Wenig. Mein Steuerberater hat einige für mich gekauft. Ich habe das Auf und Ab belustigt im Fernsehen verfolgt. Das entspricht nicht meinem Sicherheitsdenken. Aktien sind mir zu anstrengend. Ich bin nur beruflich ein Spielertyp, (macht eine Pause) Aber ich habe eine Lieblingsaktie: Poet. Wegen des Namens.
Man trägt wieder Hut: Madonna zum Beispiel und ihr Cowboyhut. Ein ähnliches Teil trägt auch Kai Wingenfelder von Fury In The Slaughterhouse. Heinz Rudolf Kunze dagegen sieht man öfter mit diesen indisch anmutenden Käppis. Warum?
Ich habe die Mützen zuerst bei Thelonious Monk gesehen, den ich sehr gerne höre. Und auf der Expo habe ich dann an einem pakistanischen Stand gleich 7 oder 8 gekauft.
Manche Musiker sind ziemlich eitel. Wie ist das bei dir? Ist dir überhaupt wichtig, wie du auf die Bühne gehst?
Ich schwitze wie ein Tier, also muss es bequem sein. Einmal bin ich mit Heiner Lürig in Hannover in einen Trendladen einkaufen gegangen. Die hatten auch so Schwulen- und Sadomaso-Klamotten. Und da fragt mich eine bizarr angezogene Paradiesvogelverkäuferin, was ich suche, und ich sage: „Hemden, aber sie müssen sehr belastbar sein.“ Daraufhin guckt die uns beide von oben bis unten an und fragt: „Was habt ihr denn vor, ihr beiden?“
Wie war das Jahr 2000 für dich insgesamt?
Für mich war es ein Jahr, das nach Belohnung schreit. Wir haben seit Januar an dem neuen Album gearbeitet (erscheint zu Beginn des Jahres 2001; Anmerkung der Redaktion). Das ist ein unglaublich langer Anlauf. Da überholt man sich manchmal selbst. EU