Das Pop-Meisterwerk


The Beach Boys

The Smile Sessions

Capitol/EMI

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Pop: Nach 44 Jahren unter Verschluss erscheint das verschollene Beach-Boys-Album endlich offiziell.

Nichts stimuliert die Fantasie mehr, als ein Mythos gepaart mit Verschwörungstheorien. Im Pop gibt es da zwei beliebte Varianten: zum einen ein früher Tod, zum anderen Alben, die nie oder erst Jahrzehnte später offiziell das Licht der Welt erblicken. Legendenstatus in letzterer Kategorie erwarb ausgerechnet die LP, die dem ohnehin als Meilenstein gefeierten Pet Sounds der kalifornischen Beach Boys nachfolgen sollte: Smile.

44 Jahre mussten vergehen, bis das ambitionierte Projekt von Brian Wilson und Texter Van Dyke Parks endlich veröffentlicht wurde. Eine nicht ganz so magische Neueinspielung des Werks, Brian Wilson Presents Smile, aus dem Jahr 2004 bahnte letztendlich den Weg für das Original. Mehrere angekündigte Termine verstrichen 2011, ohne dass das Album erschien. Bis zuletzt standen Befürchtungen im Raum, Wilson könne doch noch einen Rückzieher machen, weil er das zwischen August und Dezember 1966 in hunderten Studiostunden mit zahllosen Sessionmusikern umgesetzte Werk noch immer als unvollendet betrachte.

Zeitweise hieß es sogar, dass das bestgehütete Pop-Geheimnis gar nicht mehr existiere, weil Brian Wilson die Masterbänder zerstört hätte. Ausgerechnet die beiden Beachs-Boys-Gründungsmitglieder Al Jardine und Mike Love sprachen sich für die Veröffentlichung aus. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrte, weil das Aus für Smile seinerzeit aufgrund gleich mehrerer Faktoren zustandekam: interne Bandquerelen, Mike Loves vehemente Interventionen, Vertragsschwierigkeiten mit der Plattenfirma Capitol sowie Brian Wilsons angebliche Befürchtungen, das Album könne im psychedelischen „Summer Of Love“ für obsolet gehalten, bzw. als Plagiat von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles missverstanden werden.

Wilsons damalige Behauptung, Smile sei nur ein Fragment, widerlegten jahrzehntelang nicht nur illegale Bootleg-Ausgaben in astreiner Aufnahmequalität. Kontinuierlich tauchten nämlich Smile-Songs auf Alben und 1993 auch auf dem Box-Set Good Vibrations auf, die bestätigten, was Insider längst wussten – dass es sich bei Smile um einen durchweg hochwertigen, wenn auch in Teilen versponnenen, skurrilen, abgründigen bis absurden Songzyklus handelt: „Heroes & Villains“, „Good Vibrations“, „Vegetables“, „Wind Chimes“, „Wonderful“ sowie „All Day“ unter dem Titel „Whistle In“ und „He Gives Speeches“ als „She’s Goin‘ Bald“ landeten 1967 auf Smiley Smile. „Mama Says“, einst Teil von „Vegetables“, fand in veränderter Form im selben Jahr den Weg aufs Nachfolgewerk Wild Honey. „Diamond Head“ erschien 1968 auf Friends, „Cabin Essence“ und „Our Prayer“ folgten ein Jahr später auf 20/20. „Cool, Cool Water“erschien im Jahr 1970 auf Sunflower. Für „Surf’s Up!“ schlug die Stunde im Jahr 1971 auf dem gleichnamigen Album.

Die erst kürzlich in Los Angeles fertiggestellten The Smile Sessions sind als 2-CD-Set, als Doppel-LP sowie als digitales Album erhältlich. Smile entstand mit einem immensen Aufwand und durch monatelange Studioarbeiten. Das lässt sich besonders anschaulich anhand der limitierten Deluxe-Fassung nachvollziehen. Die Box enthält fünf CDs, eine Doppel-LP, zwei 7-Inch-Singles sowie ein 60-seitiges Hardcoverbuch mit raren Fotos, Memorabilia und Essays von Al Jardine, Mike Love, Brian Wilson, Bruce Johnston und Beach-Boys-Kenner Domenic Priore. Auf den CDs finden sich Demoaufnahmen, Work-in-Progress-Versionen, Instrumentals und Studiodialoge. Bleibt die entscheidende Frage: Wird das Album Smile seinem legendären Ruf gerecht?

Regie bei den sowohl im hauseigenen als auch diversen anderen Studios in Sisyphusarbeit entstandenen Experimenten führte der hochsensible Brian Wilson, der sich nach einem Nervenzusammenbruch 1965 vom strapaziösen Tourstress verabschiedet hatte. Doch als Komponist, Arrangeur und Produzent hielt der immermehr zum Exzentrischen tendierende Brian die Fäden fester denn je in der Hand. Wilsons Refugium, das Studio, wurde zum kosmischen Abenteuerspielplatz mit Psychiaterfunktion, die Songs zu seelisch überfrachteten Mini-Pop-Sinfonien, angetrieben von der vermeintlichen Rivalität zwischen den Beach Boys und den Beatles, aber auch von ordentlichen Portionen der halluzinogenen Droge LSD. In einem Interview von 1966 beschrieb Wilson Smile hochtrabend als „A teenage symphony to God.“

Eine uramerikanische Pop-Suite spukte Brian Wilson und Van Dyke Parks in den Köpfen, konzipiert um die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft – ein fantasievolles Gegenstück zur britischen Pop-Übermacht jener Jahre. Ans Werk ging es mit noch unausgereiften Techniken, die Jahrzehnte später im Digital-Zeitalter leicht, 1966/67 jedoch nur schwer umzusetzen waren. Gezieltes Cut-Up, endloses Editieren, die Einbeziehung unterschiedlichster Musikstile, das Untermischen kleiner Ausschnitte von US-Songstandards sowie der unorthodoxe Einsatz exotischer Instrumente zum fünfstimmigen Gesang der Beach Boys lassen nach mehr als vier Jahrzehnten nur einen Schluss zu: Smile als zeitloses Meisterwerk der Extraklasse zu bezeichnen.

7 Fakten über The Smile Sessions

* Brian Wilson mischte die achtspurigen Mastertapes in Mono ab, weil er glaubte, das Ergebnis klinge besser auf Autoradios – aber auch, weil er auf dem rechten Ohr taub ist.

* „Good Vibrations“ sollte ursprünglich schon auf Pet Sounds dabei sein, entwickelte sich dann zum Brückensong, der zu Smile überleitete.

* „Heroes And Villains“ basiert auf einem variierten Fragment aus George Gershwins „Rhapsody In Blue“.

* Der ursprüngliche Titel von Smile lautete „Dumb Angel“.

* Versteckt in den Songs von Smile finden sich kleine Ausschnitte von Klassikern aus dem American Songbook wie „You Are My Sunshine“, „I Wanna Be Around“ und das Thema zu „Woody Woodpecker“.

* Im Dezember 1966 erhielt Capitol ein handschriftliches Tracklisting mit zwölf Songs für das Backcover. 2006 stellte sich heraus, dass die Liste nicht von Brian Wilson, wahrscheinlich aber von seinem Bruder Carl oder von Diane Rovell, Wilsons Schwägerin, stammte.

* Brian Wilson ließ sich während der Smile-Sessions im Wohnzimmer Sand unter seinem Flügel aufschütten, um ein „Strandgefühl“ zu bekommen.