DAS MÄDCHEN AUS DER HIT-FABRIK


Das Erstaunlichste an der insgesamt sehr erstaunlichen Geschichte von Sia Furler ist, dass einem die einzelnen Kapitel so schmerzhaft bekannt vorkommen: Der lange gehegte Traum. Der plötzliche Erfolg. Die Welt da draußen. Der Schmerz da drin. Der Suff und der ganze, schrecklich vorgezeichnete Kladderadatsch. Tausendmal so passiert, tausendmal so aufgeschrieben. Und doch fügt sie sich in keine Form, diese Geschichte voller Widersprüche, von der nicht einmal klar ist, ob sie ein Happy End hat oder nicht.

Die 38-jährige Sia Furler -geboren im australischen Adelaide, wohnhaft in L. A., blonder Bob, zierlicher Körperbau, riesengroße Stimme -begegnet dem Unterhaltungsbetrieb mit leiser Abscheu. Aber sie verdient gutes Geld mit Hits für Pitbull, David Guetta und Flo Rida. Sie gibt kaum Interviews, weil es ihr beinahe körperlich zusetzt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber wenn sie spricht, dann offen von den Wirren, den Katastrophen, den Menschen in ihrem Leben. 2011 hat sie ihre Solokarriere beendet, weil ihr alles einfach zu viel wurde. Dieser Tage veröffentlicht Sia nun trotzdem ihr sechstes Album. Sie hat es 1000 FORMS OF FEAR betitelt.

Dazwischen hat Sia Furler eine überraschende Zweitkarriere als Songwriterin hingelegt. Sie ist weit aufgestiegen in der Hierarchie der Hitmanufakturen, auf eine Stufe mit den Linda Perrys, Tricky Stewarts und Dr. Lukes dieser Welt. Sie arbeitet mit Britney, Beyoncé, Shakira, Christina Aguilera. Das aktuelle Album von Kylie Minogue hat sie mitproduziert. Für Rihanna hat sie einen der größten Popsongs der letzten Jahre erdacht: „Diamonds“, angeblich in weniger als einer Viertelstunde. Sia kann das: eine Emotion in eine Metapher packen, die so griffi g ist, dass sie jedem sofort ein Bild vor Augen zaubert, und doch vage genug, dass dieses Bild bei jedem Menschen ein anderes sein kann.

Was sie nicht so gut kann, ist dieses Talent für sich selbst auszunützen. Sia ist nie warm geworden mit dem Ruhm, der sie 2006 plötzlich ereilte, als ihr Song „Breathe Me“ durch den Einsatz in der Serie „Six Feet Under“ zum Hit wurde. 2010 unternahm sie, geplagt von Schicksalsschlägen und Sucht, gar einen Selbstmordversuch. Die Arbeit als Schreiberin rettete sie. Vielleicht, weil sie genau das war: Arbeit. Warum sie wieder eigene Musik aufnimmt, hat Sia nie schlüssig erklärt. Die Songs auf 1000 FORMS jedenfalls künden peinvoll ehrlich von den Brüchen eines Lebens. Gleichzeitig sind sie unverkennbar das Werk einer Frau, die tatsächlich in 15 Minuten einen Welthit aus dem Ärmel schütteln kann. Man möchte sagen: eine perfekte Kombination. Wenn man nur nicht wüsste, dass die Puzzlestücke in Sias Leben noch selten perfekt zusammengepasst haben.

Albumkritik S. 97