Das Haus am Meer


Wir hielten. Das Licht der Ampel zeigte auf Rot und Andy zündete sich eine Zigarette an.

„Willst Du Dir wirklich diese Bruchbude ansehen“, fragte er mich zürn fünftenmal an diesem Tag und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich begreif Dich nicht. Lass‘ uns unseren Urlaub in einem hübschen, komfortablen Hotel verbringen, ich habe Prospekte zu Hause. Du brauchst sie Dir nur einmal anzusehen. Stattdessen willst Du in ein stinkendes, altes Haus einziehen und unseren Urlaub ver derben!“

„Das Haus liegt am Meer“, versuchte ich ihm zu erklären. „Es ist nicht schön, das gebe ich zu, aber die Gegend ist wunderbar und wir sind allein“. „Ich hab‘ das Haus gesehen“, meinte er. „Eigentlich hätte ich Dir einen besseren Geschmack zugetraut!“

Ich schwieg und wir fuhren weiter. Er verstand mich nicht, er konnte mich nicht verstehen, denn er wusste nichts von dem Haus.

Als ich In der Zeitung las, dass das Haus am Meer zu mieten war, stand mein Entschluss fest: Ich wollte dort meinen Urlaub vorbringen. Mit oder ohne Andy Vielleichi würden dann die Erinnerungen an die vergangenen Jahre nicht mehr so weh tun. Vielleicht konnte ich dann vergessen. Krampfhaft hielt ich die Annonce in meiner Hand, ich klammerte mich an das Stückchen Papier wie eine Ertrinkende an den letzten Strohhalm. Andy parkte und stieg aus. Er kam nicht mit, denn ich wollte allein sein. Er wusste nicht, dass ich die Umgebung kannte und dass ich schon hundertmal den ausgetretenen Pfad entlanggelaufen war, der zum Eingang führte.

Es hatte sich nichts verändert. Die Haustür hatte die gleiche, undefinierbare Farbe von damals und es befand sich noch stets kein Namensschild an der Tür, Ich ging hinein. Ich sah die rissigen Wände, die zerbrochene Fensterscheibe und die schmutzige Tapete. Plötzlich löste sich eine Gestalt aus dem grossen Schaukelstuhl, der am Fenster stand. Arno… Er schien nicht erstaunt, mich zu sehen. Zwei Jahre hatten wir nichts voneinander gehört, er hatte sich nicht verändert Plötzlich war mir, als hätte ich den Raum nie verlassen. Das Zimmer war mir vertraut, es roch genau so wie damals und draussen rauschte das Meer…

DER SOMMER GING ZU ENDE

Auch damals rauschte das Meer und der Wimi wehte uns den Sand ins Gesicht, v.enn wir am Strand entlanggingen. Wir hatten dieses alte Haus am Meer gemietet. Arno, Mirjam, Oliver und ich. Die Miete war nicht hoch, das Haus nicht schön, doch es hatte Atmosphäre und wir liebten es. Auch der Strand war nicht so gepflegt wie in den Kurorten. Er war steinig und grau. Dafür aber gehörte er uns.

Wenn es kälter wurde, sassen wir abends vorm Kamin und wärmten uns die Hände. Arno las meistens und Oliver klimperte auf seiner Gitarre. Es war eine schöne Zeit. Mirjam war meine beste Freundin. Sie war ein lustiges, zierliches Mädchen, dessen Fröhlichkeit ansteckte Auch Arno war stets lustig, ich hatte ihn noch nie mürrisch gesehen. Sie passten gut zusammen, Mirjam und er.

Oliver war anders, verträumter und oft melancholisch. Ich hatte ihn noch nie laut lachen hören. Trotzdem mochte ich ihn, oder vielleicht mochte ich ihn gerade deshalb, weil er anders war. Drei Jahre lang lebten wir zusammen, lebten von einem Tag zum anderen und dachten nicht an die Zukunft.

Dann kam der Tag, an dem unsere Freundschaft ein jähes Ende nahm. Schon Wochen vorher spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Es war etwas zwischen uns. das ich nicht verstand. Mirjam war nervös, Oliver zog sich noch mehr zurück und Arno schwieg. „Was ist los“, wollte ich wissen, doch Mirjam wich mir aus. Sie erzählte mir nichts und allmählich fragte ich auch nicht mehr danach.

Ein paar Tage später waren Mirjam und ich allein im Haus. Oliver und Arno waren in der Stadt. Mirjam hatte sich die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und trug eine alte Jeans. Sie schrubbte den Fussboden und ich putzte die Fenster. „Eine undankbare Aufgabe“, sagte ich in die Stille hinein, „bei diesem Wetter Fenster zu putzen ist wirklich kein Vergnügen!“ Mirjam schwieg noch immer. Sie hatte kleine Schweisstropfen auf der Stirn. Plötzlich blieb sie stehen und rieb sich den Rücken. „Ich mochte Dir etwas sagen“, begann sie leise. Ich rutschte von der Fensterbank und sah sie an. „Ich hau‘ nächste Woche ab. Ich habe keine Lust mehr. Meiner Schwester habe ich schon geschrieben, ich kann bei ihr wohnen, bis ich ein neues Zimmer habe!“ Zuerst verstand ich sie nicht, doch dann begriff ich. „Das ist doch nicht Dein Ernst? Und Arno, willst Du ihn im Stich lassen? Das kannst Du nicht!“ „Doch, das kann ich…“ Sie griff wieder nach dem Schrubber und putzte heftiger als zuvor. Sie wollte nicht mehr darüber sprechen, für sie war das Thema erledigt. Ich hätte ihr gern geholfen. Ihr und Arno, denn er hatte sie gern, das wusste ich sicher. Vielleicht konnte ich zusammen mit Arno einen Ausweg finden.

ES WAR SEINE SCHULD

Zwei Tage später erwischte ich Arno, allein. Er sass vorm Fenster im Schaukelstuhl und hielt ein Buch in der Hand, Ich merkte, dass er nicht las, sondern aus dem Fenster starrte. Als er mich sah, lächelte er. „Komm, setzt‘ Dich zu mir“, sagte er freundlich. „Ich sehe, Du willst mir etwas sagen“. Ich begriff seine Ruhe nicht. „Mirjam will weg“, fiel ich mit der Tür ins Haus i und ärgerte mich sofort, dass ich es nicht diplomatischer angepackt hatte. ; „Ich weiss“, sagte er, „sie. hat es mir gesagt“. „Und Du lässt sie gehen“, fragte ich; fassungslos, „magst Du sie nicht mehr?“ „Ich liebe sie, das ist mein Problem!“ ; „Das versteh ich nicht…“

„Weisst Du wirklich nicht, was los ist?“ Er sah mir ins Gesicht und plötzlich schien es mir, als hätte er Mitleid. „Nun“, fuhr er fort, „ich will es Dir sagen, Mirjam bekommt ein Kind!“ „Das ist es also“, sagte ich, „warum hat sie es mir nicht erzählt und warum heiratest Du sie nicht?“ „Das Problem ist… Oliver ist der Vater“. „Wir müssen uns damit abfinden“, hatte Arno zu mir gesagt. „Wir werden damit fertig werden und in ein paar Jahren alles vergessen haben. Oliver und Mirjam aber müssen damit leben. Ich sah Mirjams Gesicht vor mir… es war ihr nicht leichtgefallen, mir nichts zu erzählen Jetzt ging sie fort – um mir nicht wehzutun. Es war Olivers Schuld, nicht die ihre.

Als sie ihre Koffer packte, ging ich zu ihr. „Willst Du wirklich gehen?“ fragte ich. Sie antwortete nicht aber ich sah, dass sie weinte. „Ich weiss alles“, bemerkte ich ruhig. „Und ich bin Dir nicht böse. Was passiert ist, ist passiert, wir können nichts mehr daran ändern. Pack‘ Deinen Koffer wieder aus. Du gehörst hierher. Wenn jemand überflüssig geworden ist, dann bin ich es…“

ER HATTE BLÄULICHE SCHATTEN UNTER DEN AUGEN

Plötzlich gewahrte ich, dass Arno neben mir stand und die Wirklichkeit nahm wieder Form an. Der Raum hatte seine Schönheit verloren. Ich sah die rissigen Wände, die zerbrochene Fensterscheibe und die schmutzige Tapete.

„Du hast Dich also nicht von der Vergangenheit lösen können“, sagte er leise. Ich bemerkte, dass er mager geworden war und bläuliche Schatten unter den Augen hatte,

„Wie geht es Mirjam“, fragte ich, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Keine Ahnung, ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Sie haben damals geheiratet. Kurz darauf kam das Baby. Ich hätte sie auch geheiratet, aber sie wollte Oliver. Du kennst Oliver und Du weisst, dass er kein Typ ist, der Verantwortung übernehmen kann. Er hatte nie für jemanden sorgen müssen. Als das Kind da war und sie kein Geld hatten, begannen die Schwierigkeiten. Vor ein paar Monaten trennten sie sich endgültig. Sie lebt jetzt bei ihrer Schwester“.“.Und Oliver…?“ „Oliver? Oliver ist überall und nirgends Ich weiss nicht genau, was er jetzt treibt. Er hadert mit sich und seinem Schicksal, ansonsten ist er wie früher. Mirjam und Oliver haben sich damit abgefunden und die Vergangenheit überwunden. Wir aber, Du und ich, können jenen Sommer nicht aus unserem Gedächtnis streichen, sonst wärst Du jetzt nicht hier. Wenn ich Dir einen guten Rat geben darf: Vergiss dies Haus, den Sommer und unsere Freundschaft. Nur dann kannst Du glücklich werden“. Er gab mir die Hand. „Versprich es mir“. „Okay“, sagte ich, „Ich will es versuchen…“

Andy sass im Auto und wartete auf mich. „Ich dachte, Du wärst schon eingezogen, brummte er. „Was hast Du in Himmelsnamen so lange dort gemacht 7 „Ich traf einen alten Bekannten“, erwiderte ich.

„Hast Du wenigstens eingesehen, dass das Haus scheusslicb ist?“ „Ja“, murmelte ich, „Du hattest recht, es ist nur ein altes, hässliches Haus, voller Erinnerungen“.

„Was sagst Du?“

„Oh, nichts, ich habe nur laut gedacht, es war nicht wichtig“.

Andy startete den Motor. Er schien etwas von meiner Traurigkeit gemerkt zu haben und gab mir eine Zigarette. Dann legte er seinen Arm um meine Schulter. „Mach‘ Dir nichts draus“, sagte er, „vergiss das Haus. Du fährst mit mir nach Hause und dann suchen wir zusammen ein hübsches Hotel aus, okay?“ „Okay…“

Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette. Sie schmeckte bitter.