Gedanken zum Gegenwärtig*innen

„Dang!“: Warum selbst das Ende der Welt ein Share-Pic ist


Julia Friese referiert über die Tücken der sozialen Medien und erklärt, was sich hinter dem Begriff Empörungs-Peristaltik verbirgt.

Drei Beobachtungen:

1. in eigener Sache

Es gab mal eine Zeit – theoretisch war die Welt damals genauso gut und schlecht wie heute – da war die Währung Instagrams Ästhetik. Man sah: Sonnenuntergänge und Schaumkaffee. Selfies zu posten, hatte noch etwas Schambehaftetes. Viel hat sich getan seit 2009. Die Währung aller Social-Media-Kanäle ist nun die Kontroverse, die zumeist über Moral gespielt wird. Denn wie soll man sich sonst Gehör verschaffen, wenn man nicht nur mit seinen zwanzig besten Freund:innen, sondern theoretisch mit zwei Milliarden User:innen kommuniziert?

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„In der Daueranspannung zwischen Individuum und Masse, (…) muss sich jedes Ich, das nicht untergehen will, enorm auflasen“, schreibt die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrer Social-Media-Kritik „Alles und nichts sagen“ (KiWi, 2023). Sie führt die Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey an, die in „Gekränkte Freiheit“ (Suhrkamp, 2022) beschreiben, wie Social Media einen Charaktertypen begünstige, den „libertär-autoritären“ Typen, der sich in seiner Expertise und Deutungshoheit arg selbst überschätze, bei seinem demokratischen Gegenüber aber weder plausible Werte noch nachvollziehbare Interessen sehe. Die eigene Perspektive wird als absolut gesetzt.

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Alle Aussagen und Handlungen müssen aus genau den Gründen vollzogen worden sein, die das absolutistische Ich in sie hineininterpretiert. Die Kontrahent:innen müssen für ihre Verfehlungen also nun – Zeitgeistsprech folgt – „outgecallt“ werden. Auch innerhalb des eigenen politischen Spektrums ist man unüberbrückbar verfeindet, weil man rassistische, frauenfeindliche, antisemitische, antimuslimische, queer- oder transfeindliche Denkweisen diagnostiziert, derer man selbst ja nur dann völlig frei sein kann, wenn man sie in anderen erkennt – und sie über diese dann stellvertretend vernichtet. Dann fällt ein Moral-Up vom Himmel. Und 10.000 neue Follower:innen.

Auf zum nächsten Level, bei dem nur die App gewinnt. Denn die „outgecallte“ Person ist natürlich niemals wirklich vernichtet. Im Gegenteil, sie wird sich in reflexhafter Abwehr in ihrer Haltung radikalisieren.

2. jetzt wisst ihr, was ihr anstelle eurer großeltern gemacht hättet

Durch das Internet sind alle Expert:innen, vertrauen aber gleichzeitig Expert:innen immer weniger. Man lebt in diffuser Überforderung. Die Nachrichten der Welt kommen schließlich direkt zu einem auf das Handy, die Uhr. Die ganze Welt scheint einen unmittelbar selbst zu betreffen. Moralisch gesehen sowieso und faktisch ist man ja auch oft allein – mit diesem Internet.

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Die eigene Perspektive wird durch die Empörungs-Peristaltik der Sozialen Medien verformt, welche Ängste und Aggressionen auf die Straße ausscheidet, welche wieder über die medialen Blasebälge aufgenommen und noch größer gemacht werden, wodurch sich die Fronten immer weiter zementieren. Bis man ein Thema irgendwann nicht mehr sehen kann. Eine andere Krise scheint dann dringlicher, wird neuer Lieferant für frische Aggressionen, die das Engagement kickt.

3. dang!

Wie sich das anfühlt, sich im Sekundentakt selbst mit zugespitzten Meinungen, Fakes, Outcalls, Nachrichten, Ängsten und den beruflichen Erfolgen anderer Menschen zu bombardieren, zeigt Caroline Polacheks Power-Point-Auftritt zu „Dang“ (2023) in der „Live Show with Stephen Colbert“. Wie eine Dozentin steht sie vor einer Leinwand, wird beschossen von Blitzlichtern, Schlaglichtern. „Dang!“ (auf Deutsch so was wie „verdammt“) entfährt ihr jedes Mal. Sie klickt sich durch ihre Präsentation von Share-Pics: Wie sich die Welt durch den Mensch verändert im Vorher-Nachher-Vergleich, der Verbrauch von Feuerwerkverkäufen in verblüffender Korrelation zur Globalen Temperatur. „Dang!“ Alles ist ein Share-Pic. Auch das Ende der Welt.

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Sie singt: „Maybe its forever, maybe its just shampoo“. Es folgt Humpty Dumpty, das zerbrechliche Ei aus Lewis Carrolls „Alice – Hinter den Spiegeln“ (1871). Worüber sprach der noch mal mit Alice? Ach ja, über Semantik. „Wenn ich ein Wort verwende“, sagte Humpty Dumpty, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse und nichts anderes.“ Nach einer Minute und 59 Sekunden mündet Polachecks Bilderbeschuss in ein spitzes, wie eine Schiefertafel herab kratzendes Schreien.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 1/2024.