Dancefloor am Scheideweg: Gelingt der Sprung auf die Bühne?


Der Dancefloor dominiert die derzeitige Popszene wie selten zuvor. Doch der Boom könnte sich schon bald das Grab schaufeln. Die anonymen Dancefloor-Produzenten sehen sich vor die Frage gestellt, wie sie aus Eintagsfliegen Dauerbrenner machen können, wie aus Retortenprodukten Stars zum Anfassen werden. ME/Sounds-Mitarbeiter Michael Relnboth ging nun der Frage nach, ob der Ausweg über die Bühne führen wird.

Die Frage ist nicht neu: Sind wir letztlich nicht alle Sklaven der Bits und Bytes? Ist die traditionelle, die handgemachte Musik nicht schon längst ein Relikt aus der Rock ’n‘ Roll-Frühzeit?

Bereits vor Jahren beantwortete Kraftwerk diese Frage mit einem eindeutigen „Ja“. Als die Düsseldorfer Computer-Kultband bei ihrer letzten Live-Tour Anfang der 80er Jahre als Roboter auf die Bühne kamen, schien das Verhältnis Mensch = Maschine für die musikalische Zukunft vorgezeichnet zu sein.

Bands wie Heaven 17 und die Pet Shop Boys, die sich alle mehr oder minder auf Kraftwerk bezogen, taten zunächst gut daran, konsequent auf Live-Auftritte zu verzichten. Schließlich war es nicht zu umgehen, daß ihre elektronischen Musikbausteine auf der Bühne überwiegend vom Band kommen mußten.

Die Alternative allerdings war auch nicht rosiger: Wer nicht live auftritt, ist kaum präsent. Und wer nicht präsent ist, ist schon morgen der Ladenhüter von gestern.

Die weitere technische Entwickj lung sollte dieses Problem noch verschärfen: Der Sampler hauchte plötzlich Leben in die verkabelten Gestalten. Man fummelte zwar weiter am Computer, aber die eingespeisten Sounds waren irgendwann einmal leibhaftig eingespielt worden. Der Sampler simulierte Musik von Fleisch und Blut. Er machte es möglich, daß aus einem individuellen Sound eine multikulturelle, organisch-synthetische Suppe nach jedermanns Geschmack zusammengerührt werden konnte. Und die, die solche Musik am Reißbrett entwarfen, waren keine identifizierbaren Musiker, sondern hauptsächlich anonyme DJs.

Für diese Musik aus der Konserve – ein riesiges stilistisches Feld, das von Stock, Altken, Waterman-Chartware über HipHop bis Acid House reicht – stellt sich inzwischen die Frage der Live-Präsentation stärker denn je. Will man nicht in der Anonymität versacken, muß man neben Platte und Video eben auch live etwas bieten.

Täglich kommen heute Dutzende digital manipulierter Danceprodukte auf den Markt, umrankt von einer autorenlosen Aura, umnachtet von einer artifiziellen Verrücktheit. „Ich bin damals auf den ersten Acid House-Partys völlig ausgeflippt“, strahlt der 21jährige Keyboard-Wizzard und Acid House-Raver Adam Tinley, besser bekannt unter dem Namen Adamski. „Ich kannte kein einziges Stück, und selbst wenn ich die Platte besaß, wußte ich nicht mehr, welche der DJ nun gerade spielte.

Solche gesichtslosen, abstrakten Platten haben durchaus ihren Reiz. Ich wußte jedenfalls, daß ich das auch machen konnte, und daß jeder andere auch Adamski hätte sein können.“

Gesagt, getan. Adamski, der Solo-Musiker, trat in Konkurrenz zu Adamski, dem DJ. Auf meist illegalen House-Parties, sogenannten „Raves“, spielte er „live“ House-Instrumentals, assistiert von einer Drum Machine, einem Sampler und einem Keyboard, geladen mit vorgefertigten Bass- und Rhythmuslinien. Kritiker behaupten, Adamski sei nur ein Floppy-Disc-Jockey, andere wiederum jubeln, das sei die Zukunft des kreativen DJs.

Adamski dazu: „Was ich live spiele, ist nie gleich. Ich kann spontan aufs Publikum reagieren, Stimmungen beeinflussen, je nachdem wie ich oder die Leute drauf sind, je nachdem welche Diskette ich gerade einschiebe. Einerseits arbeite ich wie ein DJ, andererseits aber eben auch wie ein Musiker.

Ich habe Club-Auftritte von Technotronic und Black Box gesehen, die haben mich tödlich gelangweilt. Die lassen ungeniert die Masterbänder ablaufen und tun dabei so, als würden sie singen. Das ist das Ende von House. Ich möchte in Rock-Arenen auftreten. Adamski in Concen, mit 3-D Kameras, Sängern, Tänzern und Rappern. „

Wenn man ihn reden hört, glaubt man, das sei tatsächlich die Zukunft: die Entwicklung eines manufakturierten Sounds hin zum Rock-Event. Aber soweit ist es noch nicht. Es ist lediglich die erste menschliche Bewegung eines von Kabeln, Platinen und Knöpfen besetzten Roboters, wie ihn seinerzeit Kraftwerk symbolisch und treffend darstellte.‘ „Erstmal finde ich es wichtig zu ßhlen, daß Dance-Musik wieder ein Hen besitzt, dann aber ist es ebenso wichtig zu sehen, wie es live vor einem Publikum schlägt“, sagt der populäre „Raver“ Guru Josh.

Obwohl seine Hit-Single „Infinity“ ein reines Sample-Produkt ist, klingt sie doch erstaunlich organisch. Irgendjemand schrieb, es sei die Verquickung der bombastischen Gefühlswelt von U2 mit Acid House. Genau das ist es. Bevor Guru Josh auf den Acid-Trip kam und mit seinem Keyboard von Houseparty zu Houseparty zog, spielte das Keyboard-Kid in einer Pub-Rock-Band.

„Das ganze Dance-Club-Ding stagniert. Es reicht heute nicht mehr aus, mit ein paar Tänzern und Playback auf Tour zu gehen. Wenn du Erfolg haben willst, mußt du inzwischen flexibel sein, das heißt, eine angemessene Balance zwischen Maschinen und Musikern finden.

Ich arbeite jetzt mit meinem alten Bandsaxophonisten Mad Mick sowie einem Sänger und Rapper. Und wahrscheinlich kommt auch noch ein Gitarrist dazu. So baue ich mir langsam eine Live-Band auf, die dann meine Stücke begleiten können.“ Rave ’n‘ Roll nennt er das.

Das alte Konzept, die Maschinen die Arbeit machen zu lassen und dann mit Playback und Lippen-Synchronisation eine Show abzuziehen, verärgert auch immer mehr das zahlende Publikum, „Is it live or is it Memorex“ ist auch bei Rap-Konzerten die meistgestellte Frage. HipHop, das Haupt-Dance-Genre der 80er. brachte weitestgehend traditionelle Musik-Geschicklichkeiten, sprich Rare Groove-Samples, auf Bandschleifen, die dann per Knopfdruck nach Art der Collage zusammengesetzt wurden.

Das Resultat war, daß die studiogebundene Arbeit live eher schlecht als recht dargeboten wurde. Tanz-Crews, Scratch-Einlagen und „Say Hoo“-Geschwafel mußten die Show dann irgendwie retten.

Als das hochgelobte Rap-Trio De La Soul im letzten Herbst in London sein Europa-Debüt gab, war die englische Plattenfirma Big Life gewarnt und verteilte in weiser Voraussicht keine Frei-Tickets an Musikjournalisten und verhängte Foto-Verbot für eine Vorstellung, die sich dann in der Tat als äußerst flau erwies.

„Eine furchtbare Vorstellung, auf die Bühne zu gehen, über deine eigene Platte zu rappen – oder aber einen Song nicht spielen zu können, weil dummerweise die Computer-Diskette nicht geladen ist“, sagt Rock TE The Godfather, unmschränkter Herrscher der Monster-Rap-Funk-Truppe Boo Yaa Tribe. „Boo Yaa funkin alive“, brummt er ins Mikrophon – und hinter ihm dröhnen Baß. Schlagzeug und Gitarre.

Ihre Musik ist erdverbunden und kraftvoll wie kein anderes Hip-Hop-Produkt. Kein Plattenspieler und kein Keyboard steht auf der Bühne, sondern zwölf angsteinflößende Schwergewichtler, die Muskeln und Saiten spielen lassen. „Es macht uns keinen Spaß, hinter Computern zu sitzen und Sampimg-Programme auszutüfteln. Sowas gehört doch längst der Vergangenheit an“, meint Lead-Rapper Ganxta Ridd.

The Godfather glaubt sogar, daß die Szene derzeit am Scheideweg steht: „Playback-Performer sind austauschbar und immer nur so gut wie ihr aktueller Hit. Die meisten Rapper wandern doch wie armselige Würstchen über die Bühne. Das ist so steril und austauschbar wie eine Quiz-Show im Fernsehen. Nichts für uns, wir sind Musiker.“

In die gleiche Kerbe schlagt die 20jährige Betty Boo, die von ihrer englischen Plattenfirma bereits als „zweite Neneh Cherry“ gefeiert wird. „Ich bin in der gegenwärtigen Szene wohl eher die Ausnahme als die Regel: ein weiblicher Rapper, der Songs schreibt, Musik macht und an Knöpfen dreht. Die meisten Mädchen sind nicht daran interessiert, sich so weitgehend zu engagieren.“ Damit spielt sie auf ihre ehemaligen Kolleginnen The She Rockers an, die auf Verlangen der Plattenfirma in die Hände der Euro-Technokraten Technotronic fielen und kaum noch Kontrolle über ihr eigenes Produkt haben.

Solche Marktmechanismen sind offensichtlich üblich geworden. „Der Dancefloor-Sektor ist unglaublich unflexibel geworden“, klagt Betty Boo. „Entweder du füllst in die Hände von übermächtigen Hitfabrikanten – oder du gehst wohl oder übel deinen eigenen Weg.“

Ein Sprungbrett für diesen Sprung ins kalte Wasser ist das „featuring“ geworden. Sängerinnen wie Yazz oder Lisa Stansfield, beide von Coldcut „gefeatured“. Kym Mazelle durch Dr. Robert und den Blow Monkeys, Caron Wheeler durch Soul II Soul, sie alle haben so ihre eigene Karriere gestartet. Betty Boo ihrerseits katapultierte sich mit „Hey DJ“, „gefeatured“ von den Beatmasters, erstmals ins Rampenlicht. Mit ihrem Solo-Debüt „Doin‘ The Do“ tummelt sie sich nun munter in den britischen Charts.

„Ohne den Gastauftritt bei den Beatmasters“, gibt sie denn auch ehrlich zu, „hätte mich wohl keine Menschenseele registriert.“

Produzenten-Teams wie etwa die Beatmasters sind ihrerseits aber ebenso angewiesen auf das singende (und meist auch optisch attraktive) Aushängeschild. Ohne dieses Gesicht im Rampenlicht blieben die anonymen Produzenten das, was sie letztlich sind: anonyme Produzenten, die beim Publikum nie eine personelle Identifizierung auslösen können. Ob es nun das schmollmündige Fotomodell Catrin bei Black Box ist oder Turbo B und Jackie Harris bei Snap (hinter denen das Logic-Produzenten-Team aus Frankfurt steht) – das Dilemma der computerisierten Dancefloor-Ware tritt auch hier ganz deutlich zu Tage.

Ob nun ein Weg aus dieser Sackgasse führen kann, wird sich vielleicht schon in den nächsten Wochen herauskristallisieren. Am 11. September beginnt in England die lang erwartete Debüt-Tournee von Soul II Soul – mit DJs und Plattenspielern, aber ebenfalls mit Musikern aus Fleisch und Blut. Auch Caron Wheeler und Victoria Wilson-James, die auf den beiden bisherigen Soul IT Soul-Alben „gefeatured“ wurden, sollen auf der Bühne für menschliche Wärme sorgen.

Wie meinte doch schon Betty Boo: „Ich glaube, nackte Sample-Musik mit Gesang zum Halbplayback, das ist schon ziemlich vorbei, man muß heute einen Schritt weiter gehen. Entweder man treibt das perfekte Theater mit Synthesizern, Computern und Plattenspielern auf die Spitze – oder aber man kehrt zum traditionellen Live-Auftritt zurück.“

Womit wir wieder bei Kraftwerk wären. Kürzlich gaben die Initiatoren der elektronischen Popmusik in der House-Domäne Italien ein unangekündigtes Live-Konzert, um ihre Computer-Klassiker in einer House-Version vor einem Live-Publikum zu testen. Haben die das nötig?

„Wäre schon toll, wenn diese Leute wieder auf Tour gehen würden“, meint Guru Josh, „aber eine House-Version von ‚Computerliebe‘ oder ‚Tour De France‘ spiel ich du live auch vor – ohne mit der Wimper zu zucken.“

Life ist eben nicht live.