Crystal Castles im Ritter Butzke, Berlin
Zu krass für diese Welt oder ihrer Zeit voraus? Die Module spielen wieder verrückt.
Was war das, vor allem britische, Geschrei groß, als dieses kanadische Technoterroristen vor zwei Jahren auf Europa losgelassen wurden: „Die Sex Pistols ihrer Generation!“ „Die Beatles treffen Atari Teenage Riot!“ Die Berichte im „NME“ lasen sich, als hätten die Kollegen ihrer Druckertinte Redaktionssperma beigemengt. Dann strauchelte das Debütalbum auf Platz 47 der UK-Charts. Die übercoolen T-Shirts mit der lädierten Madonna waren an den Merchandise-Ständen der Tour hingegen verlässlich ausverkauft. Das ist bis heute das Problem von Ethan Kath und Alice Glass: Jeder will sie nach außen tragen, doch für das stille Kämmerlein sind sie dann doch zu heftig.
Dieses Verhältnis wird sich auch mit Album Nummer zwei der Band (Zufall, dass das Mädchen auf dem Cover, das am Grab seiner Mutter steht, wie Lourdes Ciccone aussieht?) nicht ändern. 1970 stellte man sich so wohl die Zukunft der Popmusik vor: minimalistisch, apokalyptisch, entmenschlicht. 2010 hört man aber immer noch lieber Bands, die wie 1970 klingen. Zumindest ist die Mehrheit des (vom minderjährigetochterbegleitenden Vater bis zum Extrem-Scenester reichenden) Publikums offensichtlich überfordert von der hysterischen Performance der Alice Glass. Wie sie zu den gnadenlosen Drumsounds des stoischen Kath wie von einem böswilligen Marionettenspieler manövriert über die Bühne geschleudert wird. Wie sie das Saalstroboskoplicht mit einem eigenen Stroboskop bekämpft. Wie ihre bewusst nach hinten gemischte Stimme scheinbar nur schrille Vokale hervorbringt. Dabei ist das Duo 2010 deutlich zugänglicher als noch 2008. Melodiöser, abgerundeter als ihre gängigste Vergleichsgröße, ihre ehemaligen Partners-in-Crime(wave) Health. Doch außer in den ersten Reihen des mäßig gefüllten Clubs herrscht Ruhe im Fußbereich. Guckt der Nachbar rüber, wird schnell der Kopf genickt. Man will ja zu erkennen geben: Man versteht diesen Wahnsinn, man darf das Madonna-Hemd tragen. Was sind Crystal Castles also? Zu krass für diese Welt? Ihrer Zeit voraus? Wird ihre große Stunde in dreißig Jahren auf Oldie-Festivals kommen? Immerhin kommt man der Beantwortung dieser Fragen nach diesem Abend etwas näher: Crystal Castles verfügen über viel mehr Inhalt, als man ihnen nach ihrem ersten Style-über-Substanz-Album zugetraut hatte. Womöglich schreiben sie für ihr nächstes Album sogar Songs statt Tracks. Oder remixen die nächste Madonna-Single. Man weiß ja nie. Diese Unberechenbarkeit, aus der sich eine gute Portion Gefährlichkeit speist, ist das große Talent dieser Band.
Albumkritik S. 74
www.crystalcastles.com