Kritik

„Cherry” auf AppleTV+: Krieg, Traumata und Sucht in gekünstelter Marvel-Ästhetik


Eigentlich erzählt „Cherry“ von politisch brisanten Themen: Irakkrieg, posttraumatische Belastungsstörungen, Opioidkrise. Doch die „Avengers“-Regisseure Anthony und Joe Russo übersetzen Nico Walkers stark autobiografisch inspirierten Roman in ein visuell aufgeblasenes Filmkonstrukt, das ausgerechnet an die Künstlichkeit von Marvel erinnert.

Ein namenloser, gerade mal 21-jähriger Mann mit Holden-Caulfield-Attitüde zieht in den Irak-Krieg, als seine Freundin ihn verlässt. Er entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung und in deren Zuge wiederum eine schwere Tablettensucht, die schließlich zur Heroinsucht wird, als nichts anderes mehr wirkt. Und um diese Sucht zu finanzieren, wird er schließlich zum Bankräuber.

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Eigentlich erzählt „Cherry“ von politisch Brisantem, von unverarbeiteten Ereignissen der jüngsten US-amerikanischen Geschichte, der mittlerweile vieldiskutierten, mangelnden psychologischen Betreuung traumatisierter Veteran*innen und der Opioidkrise, die laut Schätzungen fast einer halben Million Menschen das Leben kostete.

Eigentlich. Denn tatsächlich ernstnehmen, gar als kritischen filmischen Beitrag zu diesen Debatten verstehen, kann man die jüngste Regierarbeit von Anthony und Joe Russo wahrlich nicht. Dass sich die beiden Brüder der Verfilmung des gleichnamigen, stark autobiographisch inspirierten Romans von Nico Walker angenommen haben, mag karrieretaktische Gründe haben.

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Verantwortlich für „Avengers: Endgame“, den finanziell erfolgreichsten Blockbuster aller bisherigen Zeiten, und einige andere „Avengers“- beziehungsweise „Captain America“-Titel, könnte die Adaption eines mehr oder weniger heiklen, aber in jedem Falle schweren, eigentlich komplexen Themas, der Beweis des eigenen Talents jenseits des nicht für künstlerischen Anspruch bekannten „Marvel Cinematic Universe“ sein.

Könnte. Denn dieser mutmaßliche Plan geht natürlich nicht auf, wenn das Drehbuch von Angela Russo-Otstot und Jessica Goldbergman die simplifizierende Logik, die typisch für besagte Filmreihen ist, auf eine der realen Welt entsprungenen Geschichte anwendet und sie so ihrer natürlichen Vielschichtigkeit beraubt. Zu allem Übel wird auch noch die eigentümliche Künstlichkeit der Marvel-Ästhetik übernommen – dass mit Tom Holland ausgerechnet Spider-Man persönlich in die Hauptrolle schlüpft, rundet das aseptische auf Hochglanz polierte Blockbuster-Erlebnis ab.

Erzählerisch inkohärent, visuell zu opulent

Wie die Romanvorlage ist auch die fast zweieinhalbstündige Filmadaption in mehrere Kapitel unterteilt, durch die ein nahezu durchgängiges Voiceover Hollands führt. Dabei durchbricht er gleich schon zu Beginn die vierte Wand, wenn er den Zuschauer*innen auf dem Weg zu einem Banküberfall erklärt, dass er trotz seiner 23 Jahre (er ist gerade von seinem zweijährigen Einsatz im Irak zurückgekehrt) keine Ahnung hätte, was das Ganze eigentlich soll. „Cherry“ zeigt seinen Protagonisten zuerst kurz vor seinem absoluten Tiefpunkt, und bricht nach diesem Prolog, der sich zu sehr darum bemüht, ihn als gleichgültigen Kerl zu zeichnen, um ihm seinen Nihilismus wirklich abnehmen zu können, zunächst in die Vergangenheit auf.

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Zurück im College, im Jahr 2002, setzt der Film wiederum alles daran, diese absolute Indifferenz als reines Ergebnis des Kriegseinsatzes zu erzählen und versucht seine Hauptfigur auf den stereotypen „Good Guy“ zu reduzieren, der eher zufällig in den Abgrund rutscht. Als solcher verliebt er sich einerseits Hals über Kopf in Emily (Ciara Bravo) und verpflichtet sich nur aufgrund ihrer kurzzeitigen Trennung für die Army – durch besagtes Voiceover gibt der Film indirekt ihr die Schuld für das folgende Trauma – mixt aber andererseits trotzdem auch ohne ihr Zutun bereits munter Xanax-Tabletten mit Ecstasy.

Spätestens ab hier werden dann auch alle Register an filmischen Spielereien gezogen: Unter dem Einfluss besagten Mischkonsums färbt sich seine Welt zunächst grau, nur Emily ist koloriert – doch sobald sie miteinander sprechen, färbt sich auch die Umgebung wieder bunt. Nein, weder eine stringente Charakterzeichnung noch eine nuancierte Bildsprache gehören zu den Stärken von „Cherry“.

Mannigfaltige Fehlbesetzungen

Nach einem Kapitel zur Grundausbildung, das seit „Full Metal Jacket“ abermals rezipierte Bilder von hysterischen Drill-Sergeants wiederholt und mit weiteren wahllos scheinenden Spielereien, wie dem Einblenden gebrüllter Beleidigungen, zusätzlich überfrachtet, folgt schließlich der Kriegseinsatz selbst. Und obwohl die Erlebnisse, die der Protagonist dort macht, Drastische sind, bleibt jedes Mitgefühl aus. Dafür ist die artifiziell wirkende Marvel-Ästhetik zu omnipräsent, das Gefühl es eigentlich mit einem Superhelden zu tun zu haben, dessen Kräfte sich im nächsten Moment enthüllen werden, zu penetrant.

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Auch als der der Protagonist nach über 250 Einsätzen als Sanitäter aus dem Irak nach Hause kommt, und mit Ehefrau Emily allmählich in die Sucht abgleitet, ändert sich nichts an der Unnahbarkeit, mit der die Geschichte präsentiert wird. Im Gegenteil: Spätestens, wenn sich die Handlung in einen Strudel aus Sucht und Überfällen wandelt, gerät Tom Holland an seine schauspielerischen Grenzen. Mit übertriebener Mimik, einer Mischung aus nervösen Zuckungen und leerem Blick, nimmt man ihm den verzweifelten Abhängigen leider nie wirklich ab. Damit fühlt sich „Cherry“ letztlich als vertane Chance an – die Vorlage hätte durchaus das Potenzial für einen spannendes, vielschichtiges Drama geboten. Doch durch mannigfaltige Fehlbesetzung wurde draus eine substanzarme Pseudo-Comicverfilmung.

„Cherry“ mit Tom Holland in der Hauptrolle läuft seit dem 12. März auf Apple TV+ im Stream.

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