Nachruf

Zum Tod von Charlie Watts: It’s Only Rock’n’Roll (But He Liked It)


Am Dienstag verstarb Charlie Watts. Er war der Rockdrummer, der nicht schwitzte. Der cool, standhaft und treu war. Im privaten wie beruflichen Leben. Ohne ihn wird es die Rolling Stones nicht mehr geben. Ein Nachruf von André Boße.

Bei den unzähligen Bildern, die nach dem Tod von Charlie Watts am Dienstag, dem 24. August, gepostet, gedruckt oder aus den Erinnerungen geholt wurden, fällt eine Sache besonders auf: sein Blick. Watts schaut wie jemand, der das Spiel durchschaut, aber durchaus Spaß daran hat. Der sich aber erstens eine gewisse spöttische Distanz zu dem gockelhaften Geschehen nicht verkneifen kann. Und zweitens Grenzen zieht, wenn es sein muss.

The Rolling Stones: Charlie Watts ist tot

Das bekam Mick Jagger zu spüren, in einer von den vielen Begebenheiten, die jetzt, nach seinem Tod, nacherzählt werden. 1984, Amsterdam, Jagger kommt nach einer nächtlichen Orgie auf die dumme Idee, frühmorgens um fünf bei Charlie Watts im Hotelzimmer anzurufen und fordernd zu frotzeln: „Where’s my drummer?“ Watts legt wortlos auf. 20 Minuten später erscheint er, angezogen, parfümiert, und sagt: „Never call me your drummer again.“ Kunstpause. „You’re my singer.“ Mick, der besoffene Schuljunge. Charlie, der Große.

Die Rolling Stones sind Geschichte

Schlagzeuger in Rockbands können sich solche Paraden eigentlich nicht leisten. Sie sind, böse gesagt, Austauschmaterial. Die Rock-Parodie „Spinal Tap“ visualisierte diesen Umstand anhand von Drummern, die explodierend verschwinden. Oasis füllten diese Parodie mit Leben. Wer ein wirklich trauriges Buch über den Rock’n’Roll lesen möchte, der lese Tony McCarrolls „Die Wahrheit über Oasis: Mein Leben als Drummer von Oasis“.

Der Drummer und sein Sänger: Mick Jagger und Charlie Watts 2017 in London.

Vielleicht würde es Oasis heute noch geben, hätten sie einen Schlagzeuger wie Charlie Watts gehabt. Eine standhafte und stilbewusste Persönlichkeit, die sich darauf verstand, eine Rockband zusammenzuhalten, immerhin das fragilste Gruppengebilde auf Gottes Erden. Seine Rolling Stones waren der Prototyp einer Rockband – die Vergangenheitsform ist bewusst gewählt, die echten Fans stellten es nach der Todesnachricht als erste fest: Diese Band ist Geschichte.

Man nannte Charlie Watts „the glue“

Die Stones boten: gigantische Egos, gigantische Mengen an Drogen. Eine Band voller Gift. Charlie Watts brachte nicht nur als Drummer die Songs dieser Gruppe ins Rollen. Mit seinen Blicken, seiner Haltung sorgte er dafür, dass die Rolling Stones nie ins Lächerliche drifteten. „The glue“ nannte man ihn. Der Klebstoff, der die Gruppe zusammenhielt. Ihre Musik. Ihr Gefüge. Ihre Würde.

Watts, geboren 1941, stammte aus einer Familie der englischen Arbeiterklasse, der Vater war als Lastwagenfahrer auf Achse. Sein Sohn entwickelte ein Arbeitsethos, das es im Rock’n’Roll nur selten gibt. Wer Angst um die Rolling Stones hatte, wer befürchtete, die Band könne zerfallen, die nächste Tour nicht durchstehen, miese Konzerte spielen, der tröstete sich mit drei Dingen: Mick Jagger wird niemals seine drahtige Form verlieren. Keith Richards ist aus irdisch nicht nachvollziehbaren Gründen unzerstörbar. Wenn aber mal doch mal was schieflaufen wird, dann ist Charlie Watts da. Der Rockdrummer, der nicht schwitzte. Der aus dem Jazz kam – und immer dann, wenn es persönlich oder professionell schwierig wurde, zum Jazz zurückkam. Was Jagger und Richards dazu motivierte, fit zu bleiben, nicht umzukippen? Eine trotzige Reaktion auf die Erscheinung des Drummers: „Schau, Charlie, uns kriegt der Rock’n’Roll auch nicht kaputt, obwohl wir viel mehr drinstecken als du.“

Sein Spiel hat die Rolling Stones unterscheidbar gemacht

Beatles-Fans werden andauernd nach ihrem Lieblingsbeatle gefragt. Bei den Stones gibt es dieses Abstimmungsritual nicht. Vielleicht, weil der Ausgang so erwartbar wäre: Klar, Mick und Keith, großartig, ein paar Spaßvögel nennen die Bassisten Ron Wood oder Bill Wyman, und diejenigen, die sich über Distinktionsgewinn definieren, erinnern an Brian Jones. Aber Charlie Watts wäre die Nummer eins. Keine Frage. Das ist nicht nur Folklore, sondern musikalisch begründbar: Sein Spiel hat die Rolling Stones unterscheidbar gemacht.

Wie The Rolling Stones zur größten Rockband der Welt wurden

Watts‘ Drumset war keine Rock-Batterie, selbst in den größten Stadien spielte er mit einem Schlagzeug, wie man es auch in den kleinen Jazzclubs findet. Einzigartig, wie er die Hi-Hat bediente, dieses Schnappbecken für Fuß und Hand, das gewöhnliche Drummer durchprügeln, während Watts die Hi-Hat gerne aussetzte, wenn er auf die Snare schlug. In einem Interview aus dem Jahr 1990 erzählte Watts, er mache das unbewusst, vielleicht, um dem Snare-Schlag mehr Wucht zu verleihen. Das Resultat war dieser Offbeat-Effekt, der dem Rock’n’Roll der Stones genau die körperliche Luftigkeit gab, die Mick Jagger auf der Bühne nachtanzte. Übrigens, wer die Alben hören möchte, auf denen Watts‘ Spiel besonders gut zur Geltung kommt, greift zu den LPs der 80er-Jahre – selbstverständlich nicht die beste Dekade der Rolling Stones, aber der Groove auf TATOO YOU oder DIRTY WORK, der ist fantastisch.

Die Rolling Stones ohne Charlie Watts? Man sagt, jeder sei ersetzbar. Doch das ist Quatsch. Der 24. August 2021 geht als weiterer „day the music died“ in die Geschichte ein. Don McLean besang in seinem Song „American Pie“ den Flugzeugabsturz, bei dem Buddy Holly und Ritchie Valens ums Leben kamen, als junge Männer. Charlie Watts ist 80 Jahre alt geworden, verstarb friedlich, ohne lange Krankheitsgeschichte. Das ist ein Trost. Jedoch: Der Verlust ist so irrsinnig groß.

Zu Gast in der TV-Show „Ready Steady Go!“ im Juni 1964: Stones-Drummer Charlie Watts imitiert das Logo seiner Band
Dave J Hogan
Stanley Bielecki/ASP Getty Images