Caravan – Canterburys Kultband Nummer 1
Wie um kaum eine andere Band in Europa ranken sich um Caravan Legenden und Mythen. Sie gehören zu den wenigen Kult-Gruppen, die noch existieren. Ein Hauch von Underground und poppiger Märchenwelt umgab sie von jeher, und ihre ersten Auftritte in Deutschland sind allen, die sie damals sahen und hörten, unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Unnachahmlich die Musik, die Texte und das Feeling, das sie beim Spielen umgab.
In keinem Artikel über Caravan sollte das Wort „Canterbury“ fehlen, die Gegend, aus der sie alle stammen. In diesem südöstlichsten Zipfel Englands entstand zu Beginn der sechziger Jahre eine Musik, die mit nichts zu vergleichen ist, und deren Musiker zu einer fest umrissenen Clique gezählt werden müssen. Soft Machine gehört dazu, die wohl bekannteste unter ihnen, dann Caravan, der lockere Kevin Avers, Matching Mole, Robert Wyatt’s alte Band, und die erst vor zwei Jahren ins Leben gerufenen „Enkel“, Hatfield and the North. Von weniger populären Beispielen wie Egg einmal ganz abgesehen.
Von Märchen und Melodien
Ihnen allen ist eines gemeinsam: Die Eigenwilligkeit der Musik und die verspielten Texte. Musikalisch fallen sie in die Abteilung“.romantisch, melodiös und feinsinnig“, Eigenschaften, die vor allem die älteren Caravan- und Ayers-LP’s auszeichnen. Im Laufe der Zeit blieb natürlich auch die Canterbury-Szene nicht von fremden Einflüssen verschont. So wirkt Kevin heute (leider) disziplinierter, die Softs (wieder) elitärer und Caravan nicht zuletzt wesentlich rockiger. Schade, mögen jetzt viele sagen, aber wo gibt es schon eine Stilart, die sich über (fast genau) zehn Jahre hin, ihre anfängliche Originalität bewahren konnte, und der es leicht gefallen wäre, alle neuen Einflüsse mit einem geringschätzigen Lächeln beiseite zu schieben.
Der neue Weg bei Caravan begann sich mit der 1972 erschienenen, fünften Platte zu artikulieren. „The Girls Who Grow Plump In The Night“ unterschied sich ganz gewaltig von ihren Vorgängern. Sehr viele alte Fans waren wie vor den Kopf gestoßen: Das war nicht ihre Caravan, und dann diese rockigen Töne . . . Was sollte das alles? Bereits bei der vorhergehenden LP hatten sie die Nase gerümpft und sich Gedanken gemacht, obwohl man sich damit noch einigermaßen identifizieren konnte. Aber das hier, nein, das ging wirklich zu weit! Ein Großteil der Leute kündigte ihnen die Freundschaft. Für sie stießen allerdings erheblich mehr neue Anhänger zur Gruppe, so daß sie inzwischen wieder auf einen festen Stamm von Verehrern zurückblicken kann.
Es kriselt in der Band
Der musikalische Wandel rührte sicherlich hauptsächlich vom personellen Wandel her. Die langjährige Beständigkeit begann zu zerbrökkeln. Vor den Aufnahmen zu „Girls Who Grow …'“ gaben sich Musiker ständig die Klinke in die Hand, während Dave Sinclair, der fantastische Organist, bereits vor „Waterloo Lily“ ausgestiegen war. Sein Ersatz, der jazzigere Steve Miller (nicht verwandt oder verschwägert mit dem amerikanischen), saß ebenfalls nur wenige Monate auf dem Keyboardstuhl, und als Dave’s Vetter Richard schließlich auch noch das Weite suchte, standen Pye Hastings, Gitarrist und Sänger, und der Drummer Richard Coughlan plötzlich allein auf weiter Flur. Sie fanden zwar in den Studiomusikern Derek Austin und Stuart Evans neue Leute, aber es gab kein geschlossenes Bild mehr. Die beiden verschwanden denn auch schnell wieder aus den Caravan-Stammbüchern.
Ein neuer Anfang
Richard und Pye hörten von einem Geiger und engagierten ihn vom Fleck weg, obwohl jener Geoff Richardson noch keine sonderlich weitgespannten Erfahrungen in Sachen Rockmusik besaß. In John Perry wurde kurz darauf ein glänzender Ersatz für Richard’s Bassspiel an Land gezogen. Trotz einer Australientournee hielten die Vier fortwährend Ausschau nach einem geeigneten Organisten. Da aber einfach keiner zu finden war, entschieden sie sich dafür, noch mal bei David vorzusprechen. Der war inzwischen natürlich vorsichtig geworden und willigte nicht sofort ein. Erst nach einigen duften Sessions ließ er sich überreden, die Formation wieder zu vervollständigen.
Treue Fans
Caravan war noch nie eine leicht verkäufliche Band. Zwar gab es vor Jahren mal einen Top 20-Hit. der aber mehr oder weniger auf einer Reihe von Zufällen zurückzuführen war. Sie gehören nicht zu den Typen, die ihr Zimmer mit „Goldenen“ tapezieren, eine Rolls-Royce-Sammlung oder eine Jacht im Mittelmeer ihr eigen nennen. Sie leben eher zurückgezogen, reiten gerne, trinken gerne und törnen sich auch sonst gerne an. Im Gegensatz zu den meisten Modebands können sie aber seit Jahren mit einem gleich großen Potential an Anhängern rechnen, genug, um gut damit über die Runden zu kommen und um sich eine feste Zahl von Plattenkäufern zu sichern.
Die Klassik-Einlage
Die Möglichkeiten, die sich aus der Zusammenarbeit mit einem großen Orchester ergeben, hat schon etliche Bands gereizt. Procol Hamm, Deep Purple und Rick Wakemans Monster-Spektakel sind nur einige Beispiele dafür. Und 1974 war es auch bei Caravan so weit. Sie wollten ebenfalls den Versuch wagen, zumal ihre Musik seit jeher ein gewisses Maß an Orchestralem besessen hatte. Mit dem New Symphonia Orchestra ging die Sache in London über die Bühne. Ein volles Haus, begeisterte Zuhörer und Lobpreisungen der Presse sollten eigentlich für allseits zufriedene Gesichter sorgen. Aber nichts dergleichen: „Es war ein Versuch, nicht mehr! Es lief nicht sonderlich gut, und wir würden die ganze Sache gerne vergessen. Wir hatten zu wenig Zeit für die Vorbereitungen und waren beim Konzert daher ziemlich unsicher. An sich war es gar nicht so übel, aber das ist für Caravan eben nicht genug!“
Endlich zusammen
Vielleicht war dieses Experiment einer der Gründe, warum John Perry die Gruppe einige Zeit darauf wieder verließ. Da half kein Bitten und kein Betteln, im Frühjahr ’74 ging er seiner Wege. Sein Platz wurde von Mike Wedgewood, der bereits bei Curved Air, der Kiki Dee Band und den alten Overlanders gespielt hatte, besetzt, der einen vollwertigen Ersatz darstellt. Diese fünf Musiker wuchsen fest zusammen, und die letztjährige, erste USA-Tournee, die überraschenderweise mehr als erfolgreich war, schweißte sie vollends aneinander. Sie besteht noch heute in unveränderter Form. Sie sind eine echte Gruppe geworden. Eine Band, in der zwar jeder seine langen Soli ‚rausspielen kann, in der aber einzig die Gruppe als Ganzes zählt. In diesen Momenten der Dichte, des totalen Zusammenseins sind sie unübertroffen.
-h3-Canterbury-Legenden
Das war immer so, und daran hat Gott sei Dank keine Besetzungsänderung rütteln können. Insbesondere ihre eisten drei Alben „Caravan“, „If I Could Do It All Over Again“ und „The Land Of Grey And Pink“ erweisen sich als Musterbeispiele für Rock-Klassiker. Wer sie besitzt, sollte stolz darauf sein und sie nicht aus den Augen lassen. Pye’s märchenhaft anmutende Kompositionen, seine kindlich-naiv wirkende Stimme, die sensible Orgelbegleitung von Dave Sinclair und die melodiösen Bassfiguren von Richard machen sie zu Goldstücken einer jeden Plattensammlung. Pye’s Bruder Jimmy Hastings, ein Musiker vom BBC. wirkt auf jeder der Platten als Gast mit, und die Cover erscheinen fast so verträumt wie die Musik. Trotz aller Bemühungen erreicht Caravan heute nur mich selten diese frühere, ausdrucksstarke und eigenwillige Stilart. Aber schließlich sind neue Musiker hinzugekommen, und sie haben dabei ja auch noch ein Wörtchen mitzureden …
Canterbury heute
Zugegeben, die Canterbury-Szcne hat sich gewandelt. Ihre Eigenständigkeit hat sie dennoch nicht eingebüßt. Man hat nach wie vor mit ihr zu rechnen, obwohl Soft Machine inzwischen nicht mehr unbedingt dazugerechnet werden kann und sich Matching Mole schon vor langer Zeit aufgelöst hat. Kevin Avers. Robert Wyatt und Caravan lassen allerdings die neuen Varianten der „Canterburys“ in altem Glanz erstrahlen. Man höre sich nur die letzte LP von ihnen an, die „Cunning Stunts“ heißt und Caravan von der besten Seite zeigt. Die Zeit der „Wild Flowers“, der Canterbury-Urgruppe mit Mitgliedern aller hier aufgezählten Bands gehört zweifellos endgültig der Vergangenheit an, und mehr als eine wehmütige Erinnerung sollte man nicht an sie verschwenden. Jetzt ist die nächste Generation am Drücker.
Richard Sinclairs neue Formation Hatfield and the North ist mehr als ein Trost und beweist mit ihren beiden herrlichen Alben, daß sie das kostbare Erbe und das Banner Canterburys hochzuhalten gedenken. Canterbury ist tot, es lebe Canterburv!!!