Bruce Springsteen
Die Rocknacht am 28. März hat er abgesagt, da er Fernsehen im allgemeinen nicht mag und im besonderen — wie wir meinen zu Recht — glaubt, daß die Intensität seiner Bühnenarbeit nicht über den Bildschirm kommt. Trotzdem schade. Ob Bruce Springsteen innerhalb seiner Europa-Tournee nun wirklich Deutschland besucht, stand bis zum ME-Redaktionsschluß leider noch nicht fest. Fest steht aber, daß es eine Tour mit dem MUSIK-EXPRESS wird, sollte er doch sein heiß ersehntes 'Ja' geben. Die Hallen wurden von seinen Ingenieuren schon begutachtet...
The littie girls understand. Wenn sich der Mann da oben vier Stunden – vier Stunden! – lang die Seele aus dem Leibe spielt, will er danach nichts anderes mehr, als sich hinter der Bühne in seinem Umkleideraum flach auf den Rücken legen und die Decke anstarren, bevor er zur nächsten Etappe der 28-Städte-Tour weiterfährt. Er will weder mit all den Stars backstage zu tun haben (bei der Party in der Sports Arena von Los Angeles tummelten sich Rocker wie Tom Petty, der ständig vor den Kameras in Deckung ging, geringere Stars, die sich geradezu vor die Linsen drängten, Dutzende und nochmals Dutzende von satinbejackten Schallplattenbossen, die -ziemlich verloren aussahen ohne ihren Ehre’ngast) – noch mit den Mädchen. Die müssen ihre Chance wahrnehmen, solange noch Gelegenheit dazu besteht.
Von der Bühne führen ein paar Treppen ins Publikum. Bruce spaziert ganz gern einmal durch die Gange, singt von einem Sitz aus und laßt sich dabei auf den Rücken klopfen. Er hat sich nie vor dem engeren Kontakt gefürchtet. Bei einem Springsteen-Konzert werden die Ordner arbeitslos. In Cleveland, am zweiten Tag seiner Mammuttour durch die Staaten, stürmte ein Mädchen die Treppen hinauf auf die Bühne, direkt in seine Anne. Und da stand sie nun, hing an ihm wie ein Stein, während zwei starke Roadies versuchten, sie wieder fortzuheben. Bruce sah zunächst geschockt aus, lächelte dann, um sich mit der Tatsache abzufinden, daß sich mit einem jungen Mädchen im Mund schlecht singen läßt. Bock ’n ‚Roll Ecstasy nennt er es. Junge, der Job wird von Tag zu Tag härter“, schrie er dann in den Jubel der Jungs hinein, die in ihm nicht den Boß, sondern die Verkörperung ihrer jugendlichen Träume sehen wollen: den täglichen Krampf und die Routine hinter sich zu lassen und groß herauszukommen.
„Ich bin ein Romantiker“, gibt er zu. „Ich stelle mir unter einem Romantiker jemanden vor, der täglich die Realität sieht, die Realität täglich lebt und der sich trotzdem über die Möglichkeiten im klaren ist. Du darfst die Träume nicht aus den Augen verlieren. Das bedeutet guter Rock für mich – er läßt den Traum möglich erscheinen.“
Springsteen besitzt diese grandiose, hypnotische Wirkung auf das Publikum, mehr als irgendein anderer lebender Rock-Interpret heutzutage. Die amerikanischen rock crowds haben die Angewohnheit aufzustehen, umherzuwandern, ständig hin und herzuflippen und standig in die Songs hineinzuiärmen, während sie sich mit Popcom und Coke ihre teuer gerichteten Zähne ruinieren. Nicht so heute abend. Während der langsamen Titel setzten sie sich auf Bruce’s Aufforderung hin tatsächlich nieder, um anderen nicht die Sicht zu nehmen. Wählend der schnellen Sonqs sind sie dann auf den Fußen und tanzen: ein vier Stunden dauerndes YoYo im Rock’n‘ Roll-Hinunel. Entweder schreit das ganze Publikum geschlossen ‚Bruuuuuce, Bruuuuuce‘ wieeine Herde hungriger Kühe, oder alle sitzen zurückgelehnt und singen die Texte vor sich hin. Das erwies sich in Michigan als äußerst hilfreich für Bruce. Denn obwohl er den Text des Eröffnungsliedes, „Born To Run“, zehn Minuten vor dem Auftritt noch einmal durch gelesen hatte, hatte er ihn doch wieder vergessen bis er die Kauften Stimmen von 16 000 Kids höile, die ihm das Lied vorsangen. Es ist schwer, dieses Bond zwischen Bruce Springsteen und seinem Publikum jemandem zu beschreiben, der dies noch nicht miterlebt hal. Es könnte reichlich
Die Veranstalter, die die gesamte US-Tour ausverkaufen konnten, und allein für die letzten Termine in New Yorks Madison Square Garden 200 000 Anfragen von Fans bekamen (genug, um 20 Shows zu füllen) hatten den Eindruck, daß die Jugendlichen, die Springsteen im vergangenen Jahr sahen, jetzt mit ihren Freunden wiederkamen. Daß sie sogar Tickets für sie kauften, nur um ihren Standpunkt zu untermauern, daß es im Rock’n’Roll keinen zweiten Performer wie Bruce Springsteen gäbe. „Wenn ich fertig bin, mag ich nicht, das Gefühl, daß noch irgendetwas übrig ist“, erklärte Bruce sein vier Stunden-Marathon. „Und so wollte ich die Platten machen mehr wie die Liveshows.“
Wenn Springsteens Liveshows wie ein John Ford-Fdm sind, ist seine neue LP, THE RI-VER, wie eine Novelle; eine heroische, herbe und gefühlsbetonte Geschichte von den Hoffnungen, den Kämpfen, Träumen und der ewigen Tragödie eines Heranwachsenden aus der Arbeiterklasse. Autobiografisch natürlich. In Los Angeles erzählte Bruce zwischen „Independence Day“ und „Working Live“ die Geschieht seines Vaters, der direkt von der Schule aus zur Armee gegangen war, heiratete und schon zwei Jahre später für einen Sohn verantwortlich war. Seine Qualifikation reichte nur zur Fabrikarbeit, aber er ging Tag für Tag dorthin, damit seine Kinder einmal ein besseres Leben führen können. „Einige Leute ändern die Welt und aridere tun alles, damit ihre Welt nicht auseinanderfällt“, erklärte er dazu.
„In einem Artikel von Norman Mailer stand, daß der Mensch die einzige Freiheit, die er wirklich will, nämlich die Freiheit von Angst und Schrecken, niemals haben wird“, erklärte Bruce in einem Interview mit der Los Angeles Times. „Und diese Idee findet sich irgendwo auch im Herzen des neuen Album;; wieder.“ Die Suche nach dem amerikanischen Traum ist noch immer sein Hauptanliegen, auch wenn er ihn meistens in so schlichte Visionen packt, die nichts anderes beinhalten als Autos, eine Veranda, das Traummädchen, eine gute Ehefrau, Straßen und Dunkelheit. Er ist dann reifer und realistischer geworden. Erst jetzt schein ihm -aufgegangen zu sein, daß die Ideale, mit denen er seine Lieder vollzustopfen pflegt, nicht zu verwirklichen sind. Das süße Mädchen auf der Veranda ist nämlich schwanger, wie uns einer der Songs aus THE RIVER verrät, beide müssen heiraten. Und am Ende gibt es diesen furchtbaren Autounfall, „Wreck On The Highway“. „Ich bin nicht mehr so jung und verletztlich“, meint er. Rock’n’Roll hat mir immer Freude und Glücklichsein vermittelt, was auf seine Art für mich das Schönste überhaupt ist. Aber dazu kommen auch die Harte, die Kalte und das Alleinsein. Ich wollte beide Empfindungen mit dem Album ausdrücken.“
Es waren seine Suche nach den richtigen Ausdrucksformen für diese Gefühle, sein Perfektionismus, der die Verantwortlichen seiner Schallplattenfirma an den Rand des Herzinfarkts brachte, sowie seine Schwierigkeiten, ein entsprechendes Konzept zu finden, die aus THE RIVER ein derart langwieriges Produkt gemacht hatten, erklärt er. Diese Art von Perfektion kann sich natürlich zum Risiko auswachsen. In Zeiten der Rezession verkaufen sich Doppelalben nicht besonders gut die Kids haben gerade genug Geld, um das Benzin für Daddys Wagen zu bezahlen. (Speziell wenn einige von ihnen 100 Dollar für ein Ticket an Schwarzhandler berappen mußten ein Unwesen, das Springsteen während der Show übn gens böse herunterputzte.) Und dann seine zweijährige Abwesenheit von der Szene: ein Zeitraum, in dem Karrieren kommen und gehen; zahlreiche New Wave Bands haben ihre schmalen Krawatten für Synthesizer und psychedelische Drogen in Zahlung gegeben. Und was hört man schon noch von The Knack?
„Ich weiß, daß jeder sagt, es habe noch nie ein Doppelalbum gegeben, dds nicht als einfache LP besser gewesen wäre. Vielleicht ist das richtig, vielleicht aber auch falsch. Ich wollte jedenfalls etwas Bestimmtes ausdrücken und brauchte diese zusätzlichen Songs.“ Als er das Konzept erst einmal gefunden hatte, entwickelte sich alles auch ziemlich schnell. „Viele der Songs sind first takes“, betont Bruce. Zuerst hatte er 45 Songs. Und das Aussortieren beanspruchte eine. Menge Zeit. Außerdem wollte er so lange im Studio bleiben, bis die einzelnen Songs wirklich fertig waren und zwar für ihn. Er besteht darauf, daß die Dinge jetzt so laufen, wie er sie für richtig halt; dies sind die Nachwirkungen aus dem unerfreulichen Rechtsstreit, den er mit seinem Manager Mike Appel durchflehen mußte. „Es war, als ob er der Colonel war und ich Elvis – nur, daß ich nicht Elvis war und er nicht der Colonel“, spottet Bruce heute. „Ich wollte mich zurück haben.“
Dieser Streit hatte ihn bekanntlich gleich nach seinem ersten großen Erfolg, BORN TO RUN, längere Zeit aus dem Verkehr gezogen. Geld bedeutet, daß plötzlich eine Menge Leute um dich herum sind, die dir hellen wollen, es auszugeben die übliche Geschichte im Rock’n’Roll. In vieler Hinsicht trauert Bruce darum auch den alten Zeiten nach, in denen er die Band hinten in den Transporter hineinzupferchen pflegte und geradewegs zur nächsten Bar abdampfte; als man noch selbst die Anlage auslud und einfach nur spielte, ohne sich um irgendetwas anderes als um sich selbst zu scheren. „Die Probleme beginnen, wenn du dich plötzlich von Dingen ablenken laßt. Du kannst davon genauso abhängig werden wie von Drogen“, gesteht Bruce. „Ich hatte das Gefühl, daß ich die Kontrolle über mich verliere. Ich spürte, wie das große Bedürfnis in meinem Leben, die Musik, von mir fortgerissen wurde und ich wußte nicht, was ich dagegen tun konnte. Dabei war der Rock’n’Roll immer das einzige gewesen, was ich an mir mochte.“
Irgend jemand schrieb einmal, daß die Rockkritiker ihn erfinden würden, gäbe er keinen Bruce Springsteen“, meinte es zur LA-Tunes. „Das hat mir ziemlich zu schaffen gemacht, so einfach als Erfindung aufgenommen zu werden.“ Aber kann jemand, der so idealistisch ist, überhaupt noch real sein? „Sich hinaus auf die Straße zu begeben, ist idealistisch, aber ich habe auch gemerkt, daß man da leicht auf die Fresse fallen kann.“
„Die Typen in meinen Songs sind Leute, die im System drinstecken und nicht wissen, wie sie da ‚rauskommen können. Es sind keine Kopftypen. Ich sehe viele von ihnen, wenn ich nach Hause komme. Sie wissen nicht, was sie machen sollen. Sie haben einfach nie eine Gitarre gefunden manche Leute finden nie irgendetwas …“
Aber heute abend haben die Jugendlichen hier Bruce gefunden. Das Ereignis nimmt eine nahezu majestätische Stimmung an. Im Überschwang der schnellen Stücke wie „Cherry Darling“ und „Crush On You“ und „Rosalita“ schliddert Bruce auf den Knien über die Bühne, um danach der Extase nah auf den großen Füßen des Saxophonisten Clarence Clemons zu landen. Er springt in die Verstärker, rennt durchs Publikum, laßt sich gnnsend in die ausgestreckten Arme der Menge fallen. Danach wird es wieder totenstill, wenn er mit Intensität und sehr persönlich Songs wie ‚Point Blank“ oder „Jungleland“ vorträgt. Der Mann geht praktisch durch sein ganzes Repertoire in diesen vier Stunden. Wenn das nächste Album herauskommt, wird man ein Wochenende mit Bruce buchen müssen, um das komplette Material unterzubringen.
Am zweiten Abend hatte sich Bruce in Los Angeles übrigens im Sarg auf die Bühne tragen lassen. Viel hätte nicht gefehlt, und man hätte ihn nach der 4-Stunden-Tour de force mit der Bahre hinaustragen müssen! Seine Band erklärt, daß er die Reihenfolge der Songs an jedem Abend ändere, das würde ihn in Trab halten. Dies, und das Bewußtsein, daß die Zuschauer dort draußen ihn möglicherweise nur diese eine Mal sehen werden. „Darum muß ich das Beste, was ich möglicherweise für sie tun kann, bringen. Sie haben ein Recht darauf, und ich kann sie nicht hängenlassen. Als ich aufwuchs, war Rock’n’Roll das einzig Wahrhafte. Er hat mich nie im Stich gelassen. Du mußt vielen Dingen gerecht werden, wenn du auf die Bühne gehst. Du mußt dein eigenes Idol sein.“