Bruce Springsteen


Der Boß zieht Zwischenbilanz. Zur Veröffentlichung der opulenten CD-Box "Tracks" gab Bruce Springsteen in New York City Auskunft über Kinder, Kunst und Karriere.

DIE KÜNSTLER LOUNGE IM SONY STUDIO in Manhattans 54ster Straße ist nüchtern eingerichtet: schwarze Ledermöbel, zerschlissener Teppichboden, brauner Resopal-Couchtisch. Dazu ein Flipperautomat, auf dem angeblich noch ein Score von Michael Jackson gespeichert ist. Heute wird hier Bruce Springsteen erwartet. Obwohl jeden Moment einer der Giganten der amerikanischen Rockszene auftauchen soll, herrscht in den Büros gelassene Ruhe. Die Pressedame stellt noch ein paar Blümchen zu den Softdrink-Dosen auf den Tisch und weist daraufhin, daß es kein Überziehen der Interviewzeit gebe. Ansonsten keinerlei Hektik oder Aufregung. Wenige Minuten später bestätigt sich eine alte Weisheit: Echte Stars erkennt man daran, daß sie pünktlich zum Interview erscheinen – und Bruce Springsteen ist pünktlich. Er trägt ein dunkelgraues Hemd, dunkelblaue Jeans, schwarze Stiefel. Der Boß macht trotz seines Zweitagebartes einen ausgeruhten Eindruck. Freundlich die Begrüßung, fest der Händedruck des 49jährigen.

Bruce, warum erschien die Box „Tracks“ (vier CDs/Red.) mit bisher unveröffentlichtem Material erst in diesen Tagen?

„Ich befand mich in der Phase zwischen zwei Alben und hatte noch viele Bänder mit unveröffentlichten Songs herumliegen. Die waren eine regelrechte Last für mich. Mir war klar, daß die Fans einiges davon gern hören würden. In jeder Show gibt’s ja einen, der ein Schild hochhält, mit dem er sich irgendeinen obskuren Song wünscht. Ich habe alles noch einmal durchgehört und dann die besten Songs ausgesucht, sie neu abgemischt und ein bißchen nachgebessert.“

Viele Künstler versuchen, mit ihrem liegengebliebenen Tonausschuß noch einmal Geld zu machen.

„Das ist kein Ausschuß. Bei den Aufnahmen zu fast jeder Platte haben wir Material für ein weiteres Album aufgenommen, manchmal sogar für zwei. Das Auswählen der Songs, die auf die Platte kamen, war oft sehr schwierig und langwierig. Einige fielen raus, weil sie nicht zu den restlichen Songs auf dem Album paßten – obwohl sie eigentlich gut genug für eine Veröffentlichung gewesen wären.“

Zu Beginn Ihrer Karriere tauchte in den Songs häufig das Motiv des Reisens auf, beispielsweise in „Does This Bus Stop At 82nd Street“.

„Den Song habe ich tatsächlich im Bus geschrieben. Ich kam zu der Zeit sehr oft von New Jersey nach Manhattan und übernachtete auf der Couch bei einem Freund in der 82sten Straße. Damals bin ich oft mit dem Bus ins Greenwich Village gefahren, um ein paar Bands anzusehen oder zu arbeiten. Ich stieg in den Bus, guckte aus dem Fenster und begann, Songs zu schreiben. Auch auf der Fahrt von New Jersey nach New York City schnappte ich mir einen Sitz, zog sofort mein Notizbuch heraus und begann zu schreiben. Ich hatte ja jeweils anderthalb Stunden Zeit. Später mußte ich dann nur noch die Musik zu den Texten schreiben.“

Heute fahren Sie sicher nicht mehr mit Linienbussen.

„Doch. Warum auch nicht? Zuletzt bin ich vor etwa einem Jahr mit meinen Kindern in einem Bus nach Carolina gefahren, um Verwandte zu besuchen.“

Aber heute müssen Sie nicht mehr unterwegs sein, um während dessen gute Songs zu schreiben?

„Nein, nur noch, um irgendwohin zu kommen. Das Reisen war eine großartige Metapher für die Suche nach etwas. Lind genau darum ging es mir immer in meiner Musik. Es ging um Menschen, die auf die Reise gingen und nach ihrem inneren Zuhause suchten, die nach sich selbst suchten. Als ich jung war, herrschte auch in New Jersey ein regelrechter Kult ums Auto. Das war etwas, womit man jeden Tag konfrontiert wurde. Lind selbst damals war es mehr eine Metapher für die Suche nach sich selbst. So wie ich selbst auch auf der Suche war. Das hat mich ja auch mit vielen meiner Helden verbunden. Mit Kollegen, die ähnliche Bilder verwendeten, Brian Wilson etwa, Chuck Berry, Hank Williams, Woody Guthrie oder Bob Dylan. Ich habe eine Tradition fortgeführt.“

Nach welchen Kriterien haben Sie die Songs für die CD-Box „Tracks“ ausgewählt?

„Ich wußte am Anfang nicht, wie ich diese Box strukturieren sollte. Zunächst begrenzte ich die Anzahl der Songs auf 100, dann begann ich jene Stücke auszusuchen, die in der einen oder anderen Weise direkt mit meinen Alben zu tun hatten. So entwickelte sich ein gemeinsamer Bezug, eine Art Konzept.“

Warum haben Sie in Ihrer Karriere vergleichsweise wenige Alben veröffentlicht?

„Ich habe immer sehr viel und sehr lange über die Alben nachgedacht, die ich machen wollte. Lind das hat sich letztlich auch gelohnt, da ich auf diese Weise eine Intensität und Konzentration gewonnen habe, die ich sonst nicht erreicht hätte. Der Preis dafür war, daß viele Songs auf der Strecke blieben. Natürlich war ich auch oft neidisch auf Kollegen, die sich mit den Veröffentlichungen ihrer Alben augenscheinlich leichter taten.“

Warum fehlen auf „Tracks“ Fan-Favoriten wie „The Promise“ oder „The Fever“?

„Ich habe immer noch eine Menge Material, das vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt einmal veröffentlicht wird. Ein Problem bei der Arbeit an „Tracks“ bestand eben auch darin, daß nicht alle Songs in einwandfreier Tonqualität vorlagen und wiederum andere nur in Live-Versionen existierten. Auf der anderen Seite habe ich Songs wiederentdeckt, die ich im Laufe der Jahre völlig vergessen hatte, wie zum Beispiel „Iceman“. Wer weiß, was ich in Zukunft noch alles im Archiv finden werde.“

Hat es Sie bei den älteren Aufnahmen erstaunt, wie atemlos Sie damals bisweilen klangen

„Das war eine sehr rohe Energie. Die zeigte sich nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Kompaktheit meiner Songs. Da waren so viele Wörter drin. Ich versuchte, alles auf einmal zu sagen. Ich wußte nicht, ob ich noch einmal die Chance haben würde, eine Platte zu veröffentlichen. Ob diese Musik überhaupt irgendjemand hören würde. Ich hatte das Gefühl, daß mein Leben davon abhängt, daß ich mit dem, was ich sagen will, die Menschen erreiche.“

Welche Themen sind es, die Sie als Songschreiber heute beschäftigen?

„In den letzten zehn Jahre ging es mir mehr um den Mann im Haus als um den auf der Straße. Mit „The Ghost Of Tom Joad“ bin ich dann aber doch zu den Roadsongs zurückgekehrt. Außerdem schreibe ich über die Suche nach Spiritualität.“

Wird der Musiker Bruce Springsteen mit zunehmendem Arter religiöser?

„Nein. Das Spirituelle habe ich immer in der alltäglichen Erfahrung gefunden, etwa in der Art, wie Menschen miteinander umgehen. Ich wuchs mit einer organisierten Religion auf, wodurch ich mich letztendlich sehr eingeschränkt fühlte. Heute vermisse ich den gemeinschaftlichen Aspekt einer Gemeinde nur selten. Ich habe eben keine Kirche, die ich besuchen könnte. Aber andererseits finde ich einen bestimmten Aspekt dieses Gemeinsinns auch in meiner Arbeit. Wenn ich öffentlich auftrete, kommt immerhin eine ziemlich große Gruppe von Menschen zusammen.“

Verstehen Sie sich als eine Art Kirche für Ihr Publikum?

„Ich versuche, meine Arbeit mit einer gewissen Intensität zu füllen. Wenn ich auf die Bühne steige, werde ich von der Musik inspiriert. Ich fühle mich dann, als würde ich von ihr hochgehoben. Gute Musik kann so etwas bewirken. Ob das nun „Louie, Louie“ ist oder „Twist And Shout“. Das waren Songs, die mir einen Sinn für die Möglichkeiten des Lebens gegeben haben. Etwas, das ich woanders nicht bekommen habe. Pete Townshend hat einmal gesagt, daß Rock’n’Roll eine Art säkulare Religion in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sei. Er hatte recht: Man kann damit jeden ansprechen und die Menschen näher zueinander bringen.“

Sie haben drei Kinder (Evan, 8 Jahre alt, Jessica, 6, und Sam, 4 / Anm. d. Red.). Ertappen Sie sich manchmal bei denselben Fehlern, die schon Ihre Eltern gemacht haben?

(lacht) „Ich ertappe mich oft dabei, wie ich dieselben Sätze wiederhole, die sie einst sagten. Wie ich Dinge tue, von denen ich glaubte, daß ich sie niemals tun würde. Zu deinen Eltern hast du als Kind nun mal die engste Beziehung, du beobachtest sie am genauesten. Wenn du dann älter wirst, besinnst du dich hoffentlich auf die guten Dinge, die du als Kind von ihnen gelernt hast. Du hast dann hoffentlich auch gelernt, die Schwächen und schlechten Erfahrungen zu verarbeiten. So entwickelst du schließlich deine eigene Identität und deine eigene Persönlichkeit. Möglicherweise findest du irgendwann auch deine eigene Art der Erziehung. Aber bis dahin ist es ein verdammt langer, steiniger Weg.“

Halten Sie sich für einen guten Vater?

„Ich bin ein sehr aufmerksamer Vater. Ich versuche, geduldiger zu sein, als meine Eltern es waren und meine Kinder so zu akzeptieren, wie sie nun mal sind. Ich versuche, ihnen dabei zu helfen, sich selbst zu finden, ihre Stärken zu entwickeln und ihre Schwächen zu überwinden. Dafür braucht man natürlich sehr viel Geduld.“

Songs wie „Trouble In Paradise klingen aber nicht gerade so, als hätten Sie das Paradies auf Erden gefunden.

„Jeder kämpft täglich mit sich selbst. Ich habe lange Zeit gearbeitet und muß mir heute keine Sorgen mehr darüber machen, woher ich das Geld für die Miete nehme, wie ich meine Kinder satt bekomme oder die Klamotten für jeden bezahlen kann. Das ist echter Luxus. Diese Situation gibt mir eine gewisse Freiheit. Aber abgesehen davon muß ich ja immer noch mit mir selbst leben, und das ist ein täglicher Kampf. Im Song „Trouble In Paradise“ geht es um den Kampf, aus der selbstgeschaffenen Isolation auszubrechen und mit dem Partner klarzukommen.“

Inzwischen sind Sie ein vermögender Familienvater. Sie leben sehr zurückgezogen mit Ihrer zweiten Frau Patti Scialfa und den drei Kindern. Wie haben Sie es geschafft, Ihre Familie aus der Öffentlichkeit herauszuhalten?

„Ich schreibe meine Musik, nehme sie auf, und dann gehe ich ‚raus und trete damit auf. Ich gehe wie ein Arbeiter an meine Musik heran. Ein paar Interviews gebe ich, weil ich möchte, daß die Menschen meine Musik hören. Ich tue das, um die Aufmerksamkeit auf meine Arbeit zu lenken. Den Rest der Zeit genieße ich es, wenn ich völlig abtauchen kann.“

Können Sie als zufriedener Familienvater überhaupt noch gute Songs schreiben?

„Ja ja, das alte Klischee: Du bist doch so glücklich, worüber willst du überhaupt noch schreiben? Das ist ein falscher Mythos über die Art, wie Kreativität funktioniert. Immer wenn du etwas schreibst, greifst du auf den kompletten Schatz deiner Erfahrungen zurück. Also kann es sein, daß ich etwas aufschreibe, das mir mit 10, 22, 34 oder 45 Jahren passiert ist.“

Sie beschreiben in Ihren Songs oft sehr präzise Gefühle und Stimmungen. Können Sie die im täglichen Leben auch so trefflich in Worte fassen?

„Ich habe die Sprache gelernt, die ich fürs Songwriting brauche. Ich habe gelernt, präzise zu sein und alles, was ich sagen will, in eine kurze Form zu bringen. Im täglichen Leben schwankt das bei mir zwischen Präzision und idiotischem Gebrabbel.“

Hat sich Ihre politische Einstellung seit den Zeiten von „Born In The USA“ verändert?

„Darum geht es ja auch in den Songs meines letzten Albums. Du versuchst, einen Platz für dich in der Welt zu finden. Und du versuchst, für deine Kinder einen Ort zu schaffen, der gesund, fair und gerecht sein sollte. Einen Platz, an dem deine Kinder auch mal ihre Kinder großziehen können. Du siehst die guten Dinge, und du siehst die Dinge, die verbessert werden müssen. Und deine Einstellung zur Politik wird von diesen Überlegungen natürlich beeinflußt. Erwachsen zu sein bedeutet ja, daß du in der Lage bist, über deinen Tellerrand zu blicken und die Welt um dich herum zu bewerten, zu entscheiden, wo dein Platz darin ist und was du damit machen willst.“

Zum Beispiel aktiv an Benefizprojekten teilnehmen? Sie gelten als jemand, der auch mal Hand anlegt, wenn ein Lastwagen mit Nahrungsmitteln für Bedürftige entladen werden muß.

„Es gibt verschiedene Organisationen, mit denen ich über lange Zeit gearbeitet habe. Insgesamt ist es ja nur ein kleiner Teil meiner Konzerte, der BenefizProjekte unterstützt. Abgesehen von der direkten Auswirkung wollte ich auch mal die Leute treffen, die an der Front arbeiten und versuchen, die Erde lebenswerter zu machen. Ich bin nur ein kleines Rädchen in diesem Getriebe und versuche, diesen engagierten Leuten ein bißchen zu helfen.“

Wird es zu Ihrem 50. Geburtstag im kommenden Jahr eine Reunion mit der E Street Band geben?

„Wir haben im Moment nur privat miteinander zu tun. Die Musiker der E Street Band haben inzwischen auch alle Frau und Kinder. Und wenn wir miteinander telefonieren, sprechen wir meistens über die Kinder. Ich weiß noch nicht so genau, wie es bei mir weitergeht. Nur soviel ist sicher: Ich schreibe Songs und werde auch wieder auf Tournee gehen.“

Alleine?

„Die „Tom Joad“-Tournee hat mir sehr gefallen. Das war eine der besten Sachen, die ich je gemacht habe Vor allem hat mich umgehauen, wie positiv die Fans darauf reagiert haben – besonders die deutschen.“