Brilliant Adventure David Bowie
Aladdin Sane, Ziggy Stardust, The Thin White Duke - die schillernden Inkarnationen, in denen das wandelnde Chamäleon David Robert Jones alias David Bowie seit vier Dekaden die Popszene aufmischt, haben diesen "Sinatra der Alpträume" (Bowie über Bowie) zu einem der einflussreichsten Popmusiker des 20. Jahrhunderts gemacht. Da kommt uns der 60. Geburtstag dieses Dorian Gray unter den Stars als Anlass für eine große Retrospektive gerade recht.
When I Live my dream – die 60er Jahre
Berlin, im Mai 1977: Ein spindeldürrer Mann mit Schnurrbart und Bürstenkopf verlässt seine Wohnung in der Hauptstraße 155 in Schöneberg, um in einem türkischen Cafe zu frühstücken (es ist später Nachmittag) und zur Arbeit zu gehen. Der Mann fällt nicht groß auf; sein Name ist David Robert Jones, er ist 30 Jahre alt und lebt seit ein paar Monaten in Berlin, zusammen mit seinem Freund James Osterberg.
Dass er existenzielle Probleme hat, sieht man dem Mann nicht an. In erster Linie muss er lernen, ohne Kokain zu leben und sich nicht mehr besinnungslos zu betrinken; damit einher geht die Notwendigkeit, zu erkennen, dass er kein G Ott und nicht der König der Welt ist. Nicht leicht, denn er ist nicht der einzige, der das jahrelang geglaubt hat: Er war (und ist) einer der größten, berühmtesten, kontroversesten Popstars der Welt und aller Zeiten, und seine Egomanie hat erst kürzlich sogar für diplomatische Verwicklungen gesorgt, als er sich weigerte, eine für eine weltweite Liveübertragung gemietete Satellitenfrequenz freizugeben, damit die spanische Regierung die Meldung vom Tod des Diktators Franco ausstrahlen konnte.
Wie passt das alles zusammen?
Greifen Wir weit zurück: David Jones, am 8. Januar 1947 geboren, verbringt seine Kindheit in der Stanfield Road im Londoner Glasscherbenviertel Brixton. Mutter Peggy ist irische Katholikin, war schon mal verheiratet (dieser Ehe entstammt Davids Stiefbruder Terry, der später an Schizophrenie erkrankt und sich 1985 das Leben nimmt), Vater John stammt aus Yorkshire und hat ebenfalls bereits eine Tochter, Annette. Mit zwölf bekommt David von seinen Eltern ein Altosaxophon aus weißem Plastik geschenkt, und schon träumt der hyperaktive, hoch intelligente Junge von einem Leben als Musiker. Nicht seine einzige künstlerische Ambition: Er zeichnet, malt, singt, spielt Szenen aus Filmen und Theaterstücken nach, liest, was er in die Finger bekommt, schreibt selbst. Für die Schule bringt er weniger Interesse auf: Nachdem er im „Eleven plus“-Examen durchgefallen ist und ein akademisches Studium nicht in Frage kommt, lernt er Kunst und Grafik an der Bromley Technical School, macht aber nur einen Abschluss in Kunst (sein Lehrer ist Owen Frampton, der ihm empfiehlt, es wie sein Sohn Peter lieber mit Musik zu versuchen; die Freundschaft der beiden wird später auch berufliche Folgen haben). Wichtiger ist ihm der Saxofonunterricht bei Ronnie Ross, der berühmte Freunde hat: Dass David als Teenager der Jazzlegende Charlie Parker die Hand schütteln darf, steigert sein Selbstbewusstsein nicht unwesentlich. Sein erstes Karriereziel ist, Saxofonist bei Little Richard zu werden.
David ist introvertiert, aber kein Mauerblümchen. Bei einer Schlägerei mit seinem Kumpel George Underwood (es ging um Georges Freundin) ist er 1962 so schwer am linken Auge verletzt worden, dass die Pupille gelähmt bleibt, was seinen Gesichtssinn stört, ihm aber einen exotischen „Silberblick“ gibt. Die Freundschaft leidet nicht darunter: Mit George (der später Plattencovers für ihn gestalten wird) gründet er nach dem ersten Versuch mit The Kon-Rads die Coverband Reds &. Blues. Die Londoner Szene der frühen 60er saugt David auf wie ein Schwamm; er liebt die neuen R&B- und Bluesbands, konkurriert mit seinem Freund Mark Feld (alias Marc Bolan) um das coolste Mod-Outfit und gründet im November 1963 (wieder mit Underwood) eine neue Band: Davie Jones &.The King Bees. Die soll jetzt richtig was werden, weshalb David an den (zufällig ausgewählten) Waschmaschinenmillionär John Bloom schreibt und ihn um finanzielle Unterstützung bittet. Bloom hat mit Musik nichts am Hut, kennt aber den Chef von Doris Days Musikverlag Melcher Music, Leslie Conn, an den er den Bettelbrief weitergibt. Conn schlägt Bloom vor, die Band zu seinem Hochzeitstag aufspielen zu lassen. Die zwei Songs, die die Buben vortragen („Got My Mojo Working“ und „Hoochie Cochie Man“) überzeugen Conn, er wird ihr Manager, lässt sie in den Decca-Studios „Liza Jane“ und „Louie Louie Go Home“ für eine Single aufnehmen, die am 5. Juni 1964 erscheint, aber kein Erfolg wird, weshalb der ungeduldige David die Band im August verlässt und sich den Manish Boys anschließt. In der Mod-Szene ist er jetzt ein echtes „Face“, wird am 12. November sogar ins Fernsehen eingeladen, um als Gründer der „Organisation zur Verhinderung von Grausamkeit gegen langhaarige Männer“ ein Interview zu geben.
Im Dezember begleiten die Manish Boys Gene Pitney und Gerry &. The Pacemakers auf Tour, nehmen dann „Hello Stranger“ und „Love Is Strange“ für eine Single auf, die nie erscheint, und lernen den Kinks/Who-Produzenten Shel Talmy kennen, der von David enorm beeindruckt ist („Er war allen anderen weit voraus“). Talmy produziert (mit Gitarrist Jimmy Page) die Single „I Pity The Fool“, die am 5. März 1965 erscheint-mit der ersten Jones-Komposition „Take My Tip“ auf der B-Seite. Leslie Conn verschafft der Band einen TV-Auftritt, BBC-Produzent Barry Langford verlangt jedoch, dass sich der Sänger die Haare schneidet. Conn organisiert eine Fan-Demonstration vor dem Studiogebäude („Befair to long hair!“), David schreibt an eine Lokalzeitung, auch Menschen mit langen Haaren hätten Rechte. Seine Matte bleibt dran, aber noch im März sieht er in einer Bar in der Denmark Street The Lower Third, steigt sofort als Sänger ein und trennt sich von den Manish Boys. Mehr als die Single „You’ve Got A Habit Of Leaving“/“Baby Loves That Way“ kommt nicht raus, und da die Bandfinanzen zusehend in den Graben rutschen, bittet Manager Ralph Horton Manfred Manns Betreuer Ken Pitt um Hilfe. Pitt hat keine Zeit, rät aber, den Namen des Sängers zu ändern, weil es einen bekannten Kinderstar namens Davy Jones gibt (der später in die USA geht und ein Monkee wird). Und so wird im November 1965 aus Davy Jones ein neuer Mensch: David Bowie (nach dem texanischen Helden und Messererfinder Jim Bowie).
Der neue Name kommt Davids schauspielerischen Anlagen sehr entgegen und beflügelt seine Ambitionen. Erbeginnt für andere Leute Songs zu schreiben, begeistert sich für Sammy Davis Jr., und seine Ungeduld wächst: Am 14. Januar 1966 erscheint die Lower-Third-Single „Can’t Help Thinking About Me“/“And I Say To Myself‘; ein paar Tage später schmeißt Bowie die Brocken hin, weil der Erfolg ausbleibt. Schon am 3. Februar steht er mit seiner neuen Band The Buzz auf der Marquee-Bühne, tritt im März in der TV-Sendung „Ready, Steady, Go“ auf (mit der Lower-Third-Single, die nun auf Platz 26 der UK-Charts klettert). Am 1. April erscheint die Buzz-Single „Do Anything You Say“/“Good Morning Girl“, die wieder nicht so läuft, wie er es erwartet. Zunehmend unbefriedigt von seiner Rolle als Bandmitglied, tritt Bowie am 1 o. April erstmals als Solist auf, unter dem Motto „The Bowie Showboat“. Das Experiment ist erfolgreich: Inzwischen hat er eine eigene Fangemeinde, und jetzt hat auch Ken Pitt Zeit für ihn. Die erste Solosingle „I Dig Everything/ I’m Not Losing Sleep“ steht am 19 August 1966 in den Läden, da bleibt sie aber größtenteils auch stehen. Vielleicht trifft Produzent Tony Hatch den Punkt: „Seme Musik war gut, aber ich fand, er singt ein bisschen viel über die Londoner Mülltonnen.“
Nach der Trennung von The Buzz im Dezember bringt Pitt seinen neuen Schützling bei Deram Records unter, aber auch das Debütalbum DAVID BOWIE wird ein Flop, und nun läuft ihm die Zeit davon: Marc Bolan ist inzwischen als Gitarrist der Beat-Randaleure Johns Children und als Psychedelic-Straßensänger bekannt wie ein bunter Hund. Bowie nimmt Schauspielunterricht, studiert Dramaturgie und Theorie des Theaters und setzt seine Erkenntnisse in neuen Songs um, von denen viele Rollenspiele sind. Einen davon möchte er als „Probe-Single“ für Mercury aufnehmen. Bassist/Produzent Tony Visconti weigert sich, weil er die psychedelisch angehauchte Ballade doof findet. Bowie jedoch glaubt an das theatralische Pophörspiel mit dem vergeblichen Dialogeines Raumfahrers mit der Bodenstation, holt sich (auf Empfehlung von Elton John) ersatzweise Gud Dudgeon ans Pult, und sein Spürsinn erweist sich als trefflich: Erschienen am 11. Juli 1969, dem Tag der ersten Mondlandung, wird „Space Oddity“ (deutlich geprägt von Arthur C. Clarkes Buch „2001: Odyssee im Weltraum“, dessen Hauptfigur David Bowman heißt) sein erster Hit. Das folgende Album will aber wieder niemand hören, und so enden die 60er für David Bowie zwiespältig: Er hat eine Ahnung, wo er hin will, weiß aber nicht, ob ihm jemand folgen wird; seine neue Band (mit Bassist Herbie Flowers und dem 20-jährigen Tastengenie Rick Wakeman) ist gut, aber noch nicht vollständig – es fehlt der richtige Mann an den sechs Saiten. Den findet er in Mick Ronson, von dem der seit März mit Angela verheiratete und dadurch abgelenkte Bowie so angetan ist, dass er ihm (und Tony Visconti) aufTHE man who sold the World das musikalische Kommando überlässt. Dann beginnt sich der Wind zu drehen gleichzeitig mit Bowies Album erscheint Marc Bolans T.-Rex-Single „Ride A White Swan“, die alle Reste von Psychedelic und britischem Blues-Boom aus den Ohren und Musikboxen verdrängt und die Türen öffnet für die erste echte Pop-Hysterie seit den Beatles: Glamrock.
Da will Bowie diesmal nicht hinterherlaufen, sondern als Pionier vorangehen. Bolan mag die prägnanteren Chuck-Berry-Riffs und das hübschere Gesicht haben, aber wie man Kunstfiguren zu Helden von Dreiminuten-Popdramen macht, das weiß er besser.
Zurück nach Berlin, im Mai 1977: Der dünne Mann, der da zur Arbeit geht, wird an diesem Tag einen der größten Popsongs aller Zeiten aufnehmen, der sein Leben und die Popmusik für (wahrscheinlich) immer verändern wird: „Heroes“. Ohne die 60er wäre David Bowie nicht denkbar. Um das, was wir bis heute in David Bowie sehen, zu erklären, muss man jedoch den 70er-Bowie und zwei Phänomene verstehen, die er nicht erfunden, aber so entscheidend geprägt hat, dass die These, es sei umgekehrt gewesen, erst mal nicht sehr glaubwürdig klingt: Glamrock und New Wave.
The Man Who Sold The World die 70er Jahre Glamrock (von „Glamour“, das aus dem Schottischen kommt und ursprünglich eine Art Zaubernebel bezeichnet, der Menschen bannt) war keine Erfindung, wurde auch nicht „gemacht“, sondern lag in der Luft, das heißt: in der Londoner Luft. Schon Mitte der 6oer traf man dort Figuren wie Brian Jones und Syd Barrett, die in Fin-de-Siecle-Dandykostümen und mit Schminke im Gesicht Hof hielten, Zugereisten wie dem aus Brooklyn stammenden Tony Visconti Kulturschocks versetzten und den Unmut aufrechter Emanzipationskämpfer erregten. Nach zwei Jahren des Rückzugs in Bierbeizen und Blues kehrte die schrille Mischung aus angedeuteter Bisexualität (oder Androgynität) und wilder Staffage ab 1971 in aufgepumpter Version mit neuen Protagonisten wie ein Wirbelsturm in die Stadt zurück. Leute wie Bowie, schrieb Dick Hebdidge 197g rückblickend, hätten „dem Konsumkapitalismus und dessen Versuch, eine abhängige Teenagergeneration zu schaffen, die passiv ist und sich in ihrer Freizeit einzig dem Konsum hingibt, anstatt sich mit Wert und Bedeutung des Heranwachsens zu befassen „, Tür und Tor geöffnet. Theatralischer, zugleich nostalgischer und futuristischer Kitsch, Hedonismus bis zur Selbstzerstörung und offensiv zur Schau getragener schlechter Geschmack waren die prägenden Züge der ersten großen Popmode, die die Welt (das heißt vorläufig: London) seit den Beatles erlebte.
Dass David Bowie zu einer Leitfigur der Welle werden konnte, verdankte er seinem Geschick im Umgang mit Theaterelementen, dem blitzartig funkenden Ideengenerator in seinem Kopf und nicht zuletzt der Tatsache, dass er sich seiner Vorbilder und Einflussquellen stets bewusst blieb – im Gegensatz etwa zu Marc Bolan. Das zeigt sich bereits im Januar 1970, als die beiden Freunde erstmals zusammen im Studio stehen: Bowie hat Bolan eingeladen, Sologitarre auf seiner Single „The Prettiest Star“ zu spielen, weil er ihn bewundert. Als Bolan fertig ist, klatschen alle Anwesenden Beifall; dann teilt Bolans Frau June Bowie mit, Marc sei „viel zu gut, um auf deiner Platte zu spielen „. Produzent Tony Visconti ist baff, Bowie nicht so sehr: Er ahnt, was sich da anbahnt. In den folgenden Jahren wird Bowie aber immer wieder die Nähe seiner „Helden“ suchen, sie als Gäste oder Bandmitglieder engagieren, selbst bei ihnen gastieren, ihnen Lieder widmen: Lou Reed, Iggy Pop, John Lennon, Andy Warhol, Brian Eno.
Aber noch gibt es keinen Glamrock,noch ist Bowie kein Star: Die neue Single bleibt den Charts ebenso fern wie kurz zuvor sein zweites und bald darauf das dritte Album. Frustriert, aber ohne einen Gedanken ans Aufgeben, überlässt er Tony Visconti Marc Bolan und holt sich mit Ken Scott einen Mann ins Studio, der schon zweimal für einen Grammy nominiert war und George Harrison, Elton John und Harry Nilsson produziert hat. Wie immer hat es Bowie eilig; mag er auch seiner Zeit voraus sein, so holt sie ihn doch mit Riesenschritten ein: Anfang 1971 klettert die T. Rex-Single „Ride A White Swan“ auf Platz 2 der UK-Charts; Bolan lässt sich im Glitter-Regen huldigen, allüberall quetschen sich junge (und altgediente) Musiker in buntfunkelnde Kostüme (auch Roxy Music beginnen in diesem Winter mit dem Proben, und-über dem weiten Ozean – die New York Dolls). Das lässt Bowie erst mal noch weitgehend bleiben; er setzt auf die Songs, und nachdem Ehefrau Angie sich nun um den Sohn Duncan Zowie kümmern muss, kann er sich ganz aufs Schreiben, Fantasieren und Arrangieren konzentrieren. Das Ergebnis der Mühen erscheint Ende 1971 und ist eine wahre Wunderkiste von unterschiedlichsten Stilrichtungen, Hintergründen (vom Weltall bis zu Nietzsche), Anspielungen, Charakteren – und Melodien. Keyboarder Rick Wakeman (der vor Erscheinen der Platte aussteigt und zu Yes geht) nannte Hunkey Dory später „die beste Sammlung großartiger Songs auf einem Album aller Zeiten „. Dass sie wieder nicht in die Charts kommt (doch, in den USA: auf Platz 93), kann nurnoch eine Ursache haben, und so beschließt Bowie, alle Register auf einmal zu ziehen und die Konkurrenten so zu übertrumpfen, wie das nur ein Übermensch kann, ein Rock’n’Roll-Supermann vom Mars (den er in „Life On Mars“ schon angedeutet hat). Das Konzept für die nächste Platte (an dem er schon vor dem Erscheinen von H u N-KY dory im Herbst zu arbeiten begonnen hat) wird zur Identität, und aus David Robert Jones alias David Bowie wird ziggy stardust.
Die Geschichte wird auf dem Album nur umrissen, im Grunde ist sie eine Glam-Variante der biblischen Messias-Erzählung: Ziggy landet auf der zum Untergang verurteilten Erde, um mit seiner Band Spiders die Menschheit aus ihrem banalen Trott zu erretten. Er stürzt sich in ein wüstes Rockstarleben, wird zum Superidol, geht daran zugrunde „Making love with his ego /Ziggy sucked up into his mind/like a leper Messiah „und wird von seinen Fans getötet. Da passt alles zusammen: Von Mick Ronsons erderschütternden Riffs über Ken Scotts kinderzimmerfreundlich komprimierte Produktion bis zur blitzenden S-Rune im Bühnenhintergrund, die noch dem letzten Erwachsenenspießer klarmachte, dass Tabus höchstens noch als Modeaccessoires akzeptabel und Anstandsregeln lächerlicher Tand waren, wirkte die Realoper wie eine einzige Explosion, deren Sprengkraft allein der Fantasie entstammte. Mit kupferrot gefärbter Bürste, in gewagten Glitzeroveralls stolzierte Bowie/Ziggy auf turmhohen Absätzen durch sein Parallelleben und ging in der Rolle so auf, dass eine Unterscheidung kaum mehr möglich war. „Ich weiß“, sagte er zitathungrigen Reportern, „dass demnächst ein großer Star auf der Bühne erschossen werden wird, und ich weiß, dass ich dieser Star bin.“
Angeblich hatte ihm sein 1969 verstorbener Vater im Traum geraten, nie mehr zu fliegen, und prophezeit, er werde innerhalb von fünf Jahren sterben. Später analysierte Bowie die Sache etwas realistischer: „Ziggy entstand aus einer gewissen Arroganz heraus. Der ganze Typ war ein grandioses Kitschgemälde. Aber dann hat mich der Scheißkerl nicht mehr losgelassen, und alles wurde übel, unglaublich schnell. Das hat meine ganze Persönlichkeit beschädigt.“
Aber zuerst kommt der Erfolg: Das Album schießt in die britischen Top 5 und zieht Bowies Backkatalog mit (Hunky Dory kommt nachträglich sogar auf Platz 3!) – vier Alben und acht Singles schaffen es 1972 und 1973 in die Top 10, Ziggy Stardust, Hunky Dory und Aladdin Sane sind (in dieser Reihenfolge) bis heute die meistverkauften Bowie-Alben überhaupt. 1972 geht er erstmals auf Tour, mit den Spiders From Mars selbstverständlich, und die Hysterie erreicht im ganzen Land Beatlesähnliche Ausmaße. Das Leben ist eine einzige rauschende Heldenparty; die Nacht wird zum Tag und umgekehrt. Eine Privatsphäre kann es für einen Gott nicht geben: In Interviews sitzt seine (ebenfalls auf Ziggy gestylte) Frau Angelaneben Bowie und plappert in die Mikrofone: „Er ist mein Hengst!“ und „Wirfiihren eine offene Ehe; ich habe nichts dagegen, dass David auch mit Männern ins Bett geht.‘ ‚Von Mick Jagger ist dabei nicht die Rede – der singt sich 1973 mit einer Schmachtballade nach langer Zeit wieder auf Platz 1. Titel: „Angie“. Die Gerüchteküche kichert amüsiert, und Bowie registriert erfreut, dass sein Name nun in einem Atemzug mit den ganz Großen genannt wird.
Drogenmäßig läuft die Sache zunächst noch in recht bürgerlichen Bahnen: Die Glamszene ist (weitgehend) eine reine Speed-Veranstaltung – man putscht sich auf und fühlt sich als unbesiegbarer Weltkönig, der 48 Stunden am Tag die Welt begeistert. Aber Bowie ist nebenbei immer noch Fan, und er nützt seinen neuen Status, um auch seinen Idolen Eintritt ins glitzernde Wunderreich zu verschaffen: Neben seinen eigenen Alben ALADDIN SANE und PINUPS (beide halbherzige Versuche, sich von der Ziggy-Persona zu befreien) produziert er 1973 Lou Reeds Glam-Meisterwerk Transformer und RAW POWER, den abgründigen Alptraum der Stooges, auf dessen Cover auch Iggy Pop wie ein Spinnenwesen aus dem Weltraum aussieht (nebenbei schreibt er noch für Mott The Hoople die Glam-Nationalhymne „All The Young Dudes“). Durch sie lernt er eine neue Dimension kennen. In den USA ist Ziggy Stardust als typisch britische Witzfigur höchstens milde belächelt worden, kriegen auch Glam-Mitreiter wie Roxy.T. Rex, Slade kaum einen Fuß auf den Boden. Dort sind die Schluchten der Städte abgründiger, die Nächte wilder, die Drogen härter – einen ersten Vorgeschmack von Heroin-Chic haben die New York Dolls Ende 1972 nach London gebracht (und einen toten Schlagzeuger zurückgelassen, was die Faszination paradoxerweise noch steigert). Das reizt Bowies Ehrgeiz und seine apokalyptische Fantasie. Er wirft die Spiders über Bord, schnallt sich (in einer Art intuitiver Vorahnung von Punk) selbst die Leadgitarreum, holt Tony Visconti zurück und macht sich an die Arbeit an einem Theaterstück nach George Orwells Roman „1984“. Der Plan scheitert, weil die Erben des Autors die Genehmigung verweigern, und so geht Bowie einen Schritt weiter und erfindet selbst eine Zukunftsvision von atemberaubender Leere, Trostlosigkeit und Brutalität, niedergelegt in der „Cut-up“-Technik des Junkie-Schriftstellers William S. Burroughs. Kritikerwerfen ihm musikalische Haltlosigkeit und Nihilismus vor, aber er trifft einen Nerv: DIAMOND dogs bringt ihn erstmals an die Spitze der britischen Charts und erreicht auch in den USA (wo Ziggy Stardust noch auf Platz 75 gestrandet ist) die Top 5.
Die Trennung von seiner alten Band hat auch musikalische Gründe: Anfang 1974 ist die Glam-Euphorie verflogen, die Katerstimmung schlägt sich in einer Welle melancholischeres pompöser Balladen nieder, es herrscht eine allgemeine Atmosphäre von Abschied ohne Aufbruch, weil niemand recht weiß, wie
es weitergehen, was als nächstes kommen soll. Zu sehr haben sich die meisten Akteure (die dies im Wortsinn nicht annähernd so sind wie Bowie) an Rausch und Erfolg gewöhnt, um eine bessere Idee zu haben, als die Formel zu perpetuieren und verzweifelt zu versuchen, den lukrativeren US-Teeniemarkt zu erobern. Dabei brauchten sie nur Augen und Ohren zu öffnen und nach unten zu blicken: Bands wie Tiger Lily (bald in Ultravox! umbenannt) und (in New York) Television sind dabei, die Scherben des Glam aufzusammeln und weiterzuentwickeln zu dem, was man zwei Jahre später New Wave nennen wird. Bowie ist (abgesehen von Roxy Music und ihrem entlassenen Keyboarder Brian Eno) deT einzige, der davon was mitbekommt. Es muss sich jedoch auch in seinem Kopf, der während derZeitindenUSA von stetig steigender Kokainzufuhr vernebelt undzerwirbeltwird, sammeln und reifen. Das „Plastic Soul“-Album young americans (an dessen Entstehung er sich später nicht mehr erinnern kann) steigert einstweilen seinen US-Erfolg, wirft mit der Lennon-Kollaboration „Farne“ den ersten US-Nr.1-Hit ab und lässt jedoch gerade in diesem Song („Farneputs you there where things are how/What you get is not tomorrow“) Erfolgsmüdigkeit, psychische Zerrüttung, verzweifelte Sehnsucht nach Absturz und möglichst harter Landung erahnen. Und: der Text zu „Fame“ enthält das deutsche Wort „nein“ – ein kleiner Schatten aus der Zukunft, den jedoch niemand bemerkt: Kaum zwölfMonate später wird der Weltstar Bowie als David Robert Jones in Berlin wohnen.
Vielleicht weil die Geschichte entfernt an den Ziggy-Mythos erinnert, vielleicht weil er musikalisch an eine Grenze gelangt ist, lässt sich Bowie danach von Nicolas Roeg als Hauptdarsteller für den SF-Film „The Man Who Fell To Earth“ engagieren und spielt die Rolle sehr überzeugend — dass sie ihm gewissermaßen der Zufall auf den Leib geschneidert hat, zeigt sich auch daran, dass er seine nächsten zwei Albumcovers mit Standbildern aus dem Streifen schmückt. Die Entfernung vom Musikgeschäft und sein völlig außer Kontrolle geratener Kokainkonsum (neben anderen Drogeneskapaden) lassen Bowie Fluchtwege suchen und die eigene Position mal wieder völlig in Frage stellen. Er erfindet ein neues alter ego, den „Thin White Duke“, der auf seiner Filmfigur Thomas Jerome Newton beruht und den er auch diesmal wieder vollständig assimiliert. Musikalisch kommen die neuen Anregungen aus Europa: New-Wave-Bands wie Ultravox!, aber auch Punk-Rabauken wie Johnny Rotten lassen sich vom kaputten Charme der „Frontstadt“ Berlin (und ihrer Vergangenheit) inspirieren und entdecken die hypnotische „Motorik“ (mangels vergleichbar onomatopoetischer Entsprechung ebenso wie „Kraut“ ins Englische übernommen) von Bands wie Can, Neu! und Kraftwerk. Bowie, der ihnen mit DIAMOND DOGS den ästhetischen Zündfunken für ihr Weltuntergangstheater geliefert hat, greift den Faden, den seine Epigonen weitergesponnen haben, auf, stellt die Verbindung zum weißen Funk seines letzten Albums her, experimentiert mit einem Moog-Synthesizer und ist, während Station to Station entsteht, in Gedanken vielleicht schon unterwegs zu Brian Eno, nach Berlin, in die Anonymität, in der er drei seiner größten, vielleicht seine drei größten Platten aufnehmen wird. Wenn er in der Lage ist, zwischen desperaten Orgien und komatösen Überdosen einen klaren Gedanken zu fassen, dann könnte der lauten: Die goldenen Jahre sind vorbei. Den schreibt er auf „Sorne of these days, and it won’t be long / Gonna drive back down where you once belonged“-, es wird einer seiner schönsten Songs und sein letzter großer Hit der 70er. Zunächst will er ihn gar nicht selbst aufnehmen, sondern schickt ihn (Größenwahn oder realistische Ironie?) nach Memphis zu Elvis-Presley, der auch nur noch ein Schatten aus der Vergangenheit ist und (ebenso wie Marc Bolan) das Ende des nächsten Jahres nicht erleben wird. Der König lässt ablehnen (dass er den Song je zu Gehör bekommen hat, ist unwahrscheinlich).
Bowies größter Moment auf Station to STATION aber kommt ganz am Ende, als der „Thin White Duke“ längst abmarschiert ist und der gefräßige Fernseher „TVC15“ sein Opfer verdaut hat: Das Nina-Simone-Cover „Wild Is The Wind“ ist Zusammenbruch und Ausbruch zugleich, tieftraurig und erhebend, und es ist ein Abschied, nicht nur von einem Ort.
Der verzögert sich indes noch ein bisschen: In einem Interview mit dem „Playboy“ nennt Bowie Adolf Hitler den „ersten Rockstar“, beim Eintreffen in London fahrt er stehend in einem offenen Mercedes- Oldcimer vor der Victoria Station vor und reckt den Fanhorden den Arm zum Gruß entgegen – Ironie? Verwirrung? Letzteres in jedem Fall – kurz darauf, nach der triumphalen Welttournee (deren Bühnendekoration später zum New-Wave-Standard wird), zieht er – und nun haben wir es oft genug erwähnt – nach Berlin.
Dort lebt er anonym, allerdings höchstens gemessen an Bowie-Standards: Sein Eintreffen bei Konzerten, Partysund anderen gesellschaftlichen Ereignissen (meistin den frühen Morgenstunden in Begleitung von Iggy Pop) wird nicht nur registriert, sondern Stunden zuvor flüsterweise angekündigt. Aber die meiste Zeit arbeitet er, tourt als Keyboarder mit Iggy Pops Band und macht Alben wie am Fließband: Im Januar 1977 erscheint LOW, im März Iggy Pops THE IDIOT (Bowie produziert, arrangiert, schreibt an allen Songs mit, spielt Keyboards, Gitarre, Saxophon, Xylophon und singt), im September dessen lustfor LIFE (dito), im Oktober HEROES; dazwischen jammt er mit Marc Bolan in dessen Fernsehshow (und schreibt ein paar Songs mit ihm), nimmt zu Weihnachten mit Bing Crosby (der ebenso wie Bolan kurz darauf stirbt) „Little Drummer Boy“ auf.
Die Arbeitsweise, die in dieser Zeit entsteht, wird Bowie die nächsten 30 Jahre weitgehend beibehalten: Fünf Tage lang wird mit der Band musiziert, dann werden ein paar Overdubs eingespielt, schließlich bleibt er allein im Studio zurück, kompiliert Texte aus Notizen und Gedankenfetzen und singt. Während der „Berlin“-Aufnahmen (die größtenteils anderswo entstehen) ist die Vorgehensweise noch um einiges abenteuerlicher („Wir gaben uns größte Mühe“, sagte Bowie später, „alle Regeln zu brechen, nach denen Rockmusik normalerweise entstand“): Brian Enos „Oblique Strategies“-Karten weisen immer wieder den Wegaus der Ratlosigkeit. Viele Songs entstehen erst in den Sessions, wobei Eno auch mal Buchstaben auf Zettel schreibt, sie an die Wand klebt und im Zufallsverfahren mit einem Stock daraufzeigt – die Musiker spielen dann den jeweiligen Akkord; was herauskommt, wird man sehen.
Es kommen drei Meisterwerke heraus, das dritte ist LODGER im Mai 1979, und damit ist Bowies experimenteller Heilungsprozess (der unter kommerziellen Gesichtspunkten ein stetiger Abstieg war) abgeschlossen. Clean und von Angela geschieden destilliert er die Dämonen der Vergangenheit in die Songs fürs nächste Album (vor dem sich auch Brian Eno verabschiedet). SCARY MONSTERS … AND SUPER creeps fasst alles zusammen, was der Mann mit den vielen Namen, Gesichtern und Schicksalen in den 70ern (zu denen es deshalb gehört, obwohl erst im September 1980 erschienen) erlebt hat – Major Tom, Ziggy Stardust, Plastik-Soul, Drogen, Sex und Wahnsinn -, mit einem so melancholischen und endgültigen Unterton, dass Fans beim Hören neben Begeisterung unwiderstehliche Wehmut und Trauer befällt: Das, ahnten wir damals, ist das Ende. Den Bowie, den wir liebten, wird es nie mehr geben.
Und wir behielten recht. „Ashes To Ashes“ wird seine zweite UK-Nummer 1 nach „Space Oddity“, der Kreis schließt sich. Der Mann, der drei Jahre später unter Bowies Namen wieder an die Öffentlichkeit trat, war ein anderer, ein so komplett anderer, dass ein neues Rollenspiel als Erklärung nicht hinreichte. Aber was macht das schon – nach so einem Jahrzehnt, nach sieben epochalen und einigen wenigstens großartigen Werken, sieht man es auch anderen Göttern nach, wenn sie eine Pause machen und danach nur noch unbewohnbare Planeten erschaffen.