Brian Eno: Duftnote
Früher Paradiesvogel bei Roxy Music, ist Brian Eno seinem Ruf als exzentrischer Außenseiter stets treu geblieben. In dem folgenden Essay für ME/Sounds ging er der tiefschürfenden Frage nach, wo die Nahtstellen zwischen Klang und Duft, zwischen Hören und Riechen liegen
Es war 1965, als ich anfing, mich für Geruch zu interessieren. Ich stellte eine Kollektion von Düften zusammen, die bestimmte Eindrücke auslösten. Ich füllte sie in kleine Fläschchen: Plastik, Petroleum, Schmieröl, cuir de russe (läßt Leder nach Leder riechen anstatt nach totem Tier), Benzin, Ammoniak, Lärchenholz. 1978 entdeckte ich in einem heruntergekommenen Stadtteil Londons eine alte Apotheke, vollgestopft mit Ölen und Essenzen. Sie hatten wunderbare Namen Storax, Patschuli, Jasminblüte, Amber, Myrrhe, Geranien-Öl, Opoponax, Heliotrop, und ihr teils vertrauter, teils fremder Geruch machte mich so neugierig, daß ich mehr als 100 Flaschen kaufte.
Sehr bald entwickelte ich mich zu einem Sammler von Parfüm-Grundstoffen. In Madrid fand ich einen vergammelten Apothekerladen mit geheimnisvoll etikettierten Phiolen. In San Francisco erforschte ich die fremdartige Geruchswelt von Chinatown. Auf Ibiza traf ich eine Frau, die mir ein winziges Fläschchen mit einem einzigen Tropfen einer himmlischen Flüssigkeit namens nardo schenkte. (Später kam ich darauf, daß es sich wohl um Nardenöl handelte. Dieses Öl wird aus einem Strauch gewonnen, der im Himalaya wächst und von reichen indischen Damen für die Vorbereitung zärtlicher Stunden verwendet wird.) Ich begann, meine Schätze zu mischen. Die Art und Weise, wie zwei vertraute Gerüche bei sorgfältiger Mischung eine neue und unbekannte Empfindung auslösten, faszinierte mich. Parfümherstellung hat viel mit diesem tastenden Umwerben des Unbekannten zu tun. dem Hervorrufen von Eindrücken, für die es keine Namen gibt.
Manche Stoffe sind in sich schizophren, verfügen also über zwei gegensätzliche „Persönlichkeiten“. Methyloktankarbonat z. B. riecht gleichzeitig nach Veilchen und nach Motorrad. Es gibt einen Extrakt aus der Wurzel der Schwertlilie, der in geringen Mengen tatsächlich an Blumen erinnert, in großen Mengen aber ein geradezu obszön körperliches Aroma entwickelt. Zibet, das aus der Afterdrüse der Zibetkatze gewonnen wird, riecht äußerst unangenehm, sobald es deutlich in Erscheinung tritt, wirkt in winzigen Dosen aber ungeheuer sexy. (Es wird in Guerlains „Jicky“ verwendet, dem wahrscheinlich ältesten noch auf dem Markt befindlichen Parfüm. Seine Kundschaft hat sich in seiner hundertjährigen Geschichte grundlegend geändert: Heute hat es viele Fans unter Homosexuellen.) Coumarin, Hauptbestandteil von Cacharels „Lulu“. wird aus Sommerblumen hergestellt und riecht auch so; gleichzeitig weckt es aber merkwürdige Assoziationen an Puder, Boudoirs, Schlafzimmer…
Man braucht diese Liebhaberei nicht lange zu betreiben, um sich darüber klar zu werden, daß es in der Welt der Gerüche keine zuverlässigen Landkarten, keine gemeinsame Sprache gibt, mit der wir sie verstehen und uns in ihr zurechtfinden könnten. Mit der Welt der Bilder, des Sichtbaren, läßt sie sich nur schwer vergleichen. Wenn wir uns eine Farbe denken wollen, können wir Wörter wie Farbton, Helligkeit und Sättigung verwenden. Wir können uns ein ganz bestimmtes, etwas milchiges Grün vorstellen, uns überlegen, an welche Stelle des Farbspektrums es in etwa gehört, es mit seinen Nachbar- und Komplementärfarben vergleichen und uns schließlich entscheiden, daß es sich um „eau de nil“ oder „blasses Türkis“ oder „Jade“ handelt. Ein solcher Farbton läßt sich sogar numerisch definieren, in Angstrom z. B“ oder in einer der Standardmischungen, die man angibt, wenn man sein Haus in einer bestimmten Farbe streichen will.
Bei Gerüchen können wir uns dagegen nur mit Vergleichen behelfen. Wir können sagen, daß Karanal riecht „wie ein Funke aus einem Feuerstein“ oder Aldehyd C14 „wie Latex“. Meines Wissens gibt es jedoch nicht mal den Ansatz eines Systems, mit dem sich solche Eindrücke in Beziehung zueinander setzen lassen. Wie etwa wirkt Sandelholz im Vergleich mit Thymian? Keine Ahnung.
Wie jeder, der mit Parfüms herumspielt, fand ich dies unbefriedigend. Ich wollte ein System, eine Landkarte. Für kurze Zeit dachte ich daran, selbst eine zu erfinden, aber dieser Plan scheiterte bereits, als ich die Ähnlichkeit zwischen Erdbeeren und Eigelb, zwischen Brauereien und bestimmten Arten von Matratzenfüllungen zu definieren versuchte. Ich wußte, meine Ausdauer würde nicht einmal reichen, um all diese Eindrücke zu sammeln, geschweige denn, sie zu vergleichen.
Ich gab das Projekt also auf (was für eine Erleichterung!) und beschloß, weiterhin fröhlich im Dunkeln zu tappen, jeden, der mir freundlicherweise ein Stück Hautfläche zur Verfügung stellte, mit dieser oder jener Substanz einzureiben und dann schnüffelnd die Wirkung zu prüfen. (Übrigens eine großartige Methode, um Leute kennenzulernen…) Es dauerte lange, bis mir aufging, daß dies wahrscheinlich so bleiben würde. Ebenso wie auf allen anderen Gebieten würde ich vermutlich nie an den Punkt kommen, an dem man „weiß, was man tut“. Es ist merkwürdig, auf welchem Wege man zu Erkenntnissen gelangt, wie sich Gedanken aus völlig gegensätzlichen und unwahrscheinlichen Anfängen entwickeln und wie häufig diese Anfänge eigentlich auf der Erfahrung beruhen, daß etwas nicht möglich (oder möglich, aber nicht interessant) ist. Dies ist auch so eine vertrackte Geschichte.
Außer meinen Parfüm-Studien beschäftigten mich natürlich auch andere Dinge, nicht zuletzt die Musik. Wann immer ich über Klang sprach, wies ich auf die Unzulänglichkeiten der klassischen Sprachen hin, die Komponisten zu seiner Beschreibung herangezogen hatten. Ich führte an, daß durch die Entwicklung elektronischer Instrumente eine völlig neue Situation entstanden war, in der die Klangfarbe, also die physische Eigenschaft des Klangs, auf einmal im Mittelpunkt des kompositorischen Interesses stand.
Moderne Komponisten und die Produzenten in den Studios experimentierten mit Klang selbst und gaben sich damit zufrieden, als „Leinwand“ für ihre Experimente mehr oder weniger traditionelle, gegebene Formen wie „den Blues“ zu verwenden. Es fiel mir auf, daß dieses Phänomen von klassisch ausgebildeten Musikologen völlig übersehen worden war, daß diese Leute immer dort nach Innovationen suchten, wo keine zu finden waren. Sie erwarteten, daß eine Musik, die das Prädikat „neu“ verdiente, in puncto Harmonie, Melodie und kompositorischer Struktur bahnbrechend sein müßte; statt dessen sahen sie sich mit einer Musik konfrontiert, die in dieser Hinsich! kaum über die Errungenschaften der Jahrhundertwende hinausgekommen war.
Was sie nicht sahen, war, daß ihre Sprache, die Sprache klassischer, auskomponierter Werke, nicht über das Werkzeug verfügte, mit dem sich Jimi Hendrix‚ Gitarren-Sound auf „Voodoo Chile“ oder Phil Spectors‘ Produktion von „Da Doo Ron Ron“ beschreiben ließe. Rockmusik, so erklärte ich wieder und wieder, ist eine Musik der Klangfarben eine Musik, bei der Klang in einer Art und Weise körperlich erlebt wird, die bei keiner anderen Musikrichtung möglich ist.
Während ich also diese wundervolle Definitionslosigkeit in der Musik akzeptierte und für meine Zwecke nutzte, stand sie mir bei meinen Parfüm-Forschungen scheinbar im Wege. Die Gegensätzlichkeit dieser Positionen wurde mir schließlich klar, als ich in Brüssel einen Vortrag vor einer Gruppe von Geschäftsleuten hielt. Der Vortrag hieß „Die Zukunft der Kultur in Europa“, und ich versuchte darin, ein moderneres Kultur- und Kunstverständnis zu skizzieren, das die bisherige klassische Auffassung ablösen sollte.
Bis vor relativ kurzer Zeit, so argumentierte ich, hatte man Kultur als etn Sammelsurium menschlicher Verhaltensweisen und Erzeugnisse angesehen, das in irgendeine vollkommene Ordnung gebracht werden könnte. Nach dieser Auffassung brauchte man sich also nur hinzusetzen und lange genug zu diskutieren, um schließlich übereinzukommen, daß Dante, Shakespeare, Beethoven. Goethe. Wagner und einige weitere Namen zu den kulturellen Speerspitzen zählen, und daß man andererseits Verpackungs-Designer. Schlagersänger, Spazierstock-Schnitzer, Friseure, Modeschöpfer und Little Richard nicht weiter ernst nehmen braucht.
Diese Vorstellung eines dem Werk innewohnenden, festen Werts wird aus verschiedenen Gründen immer unhaltbarer. Bücher wie „Die Geschichte der Malerei“ (als ob es nur eine einzige gäbe) sind heute nicht mehr gefragt, und nur eine schwindende Zahl von Fundamentalisten (ungefähr 5,9 Milliarden nach der letzten Zählung) glauben noch an „die wahre Natur“ der Dinge. Wir freunden uns immer mehr mit dem Gedanken an. daß es unzählige Möglichkeiten gibt, eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen zu beschreiben und zu kategorisieren, daß die dafür verwendeten Sprachen nicht immer kompatibel sind.
Wenn wir also akzeptieren lernen, daß „Koriander“ nur ein Name für einen unbestimmten, nicht eindeutig zu begrenzenden Raum in der Gesamtheit unserer Geruchserfahrungen ist, beginnen wir, auch andere Begriffe auf diese Art zu sehen. GROSSE IDEEN (Freiheit, Wahrheit, Schönheit, Liebe, Realität, Gott, Amerika, Sozialismus) werden dann allmählich kleiner geschrieben, haben keine absolute, zuverlässige Bedeutung mehr, sondern werden zu Namen für Räume in unserer Psyche. Wir merken, daß wir sie immer öfter neu bewerten oder völlig neu definieren müssen. Wir verlieren, kurz gesagt, unser inneres Zentrum, unsere Orientierungspunkte, wir sind jeden Tag unseres Lebens mit dem Versuch beschäftigt, ein glaubwürdiges oder zumindest funktionierendes Wertesystem zusammenzustricken.
Und das gefällt mir: zu beobachten, wie wir alle zu dilettantischen Parfüm-Mischern werden, die neugierig in einer riesigen Auswahl möglicher Ingredienzen herumschnuppern, auf der Suche nach sinnvollen Kombinationen; wie wir Erfahrung sammeln die Chance, beim nächsten Mal vielleicht besser zu raten, ohne jemals Gewißheit zu erlangen.
Vielleicht ist es das Bewußtsein dieser Situation, das Gefühl, einer Welt anzugehören, die nicht von bleibenden Gewißheiten, sondern von einem Gewirr kurzlebiger Überzeugungen zusammengehalten wird, das uns für die Reize unseres primitivsten und am wenigsten korrumpierten Sinnesorgans empfänglich macht. Verwirrung hat viel von seinem Schrecken verloren. Man sollte also nicht erwarten, daß die Parfümerei in irgendeine zuverlässige, vernunftbestimmte Weltordnung integriert wird, sondern daß alles andere so wird wie Parfüm.