Bowie Boa
Er erfand den fetten Chor-Klang von Marc Bolans T. Rex und teilte zehn Alben lang mit David Bowie Wohnung und Studio. Jetzt hat Produzenten-Legende Tony Visconti seinen dritten Lieblings-Klienten entdeckt: Phillip Boa. Visconti erläutert, warum ausgerechnet der deutsche Boa für ihn der Bowie für die Neunziger ist.
Phillip Boa ist mir ein völliges Rätsel. Zuerst erscheint er mir im Traum, wie eine drohende Vision, und dann, etwa alle zwei Jahre, taucht er persönlich auf. Ich weiß nicht, wer er ist — weder im künstlerischen Sinne noch als Mensch. Ich könnte versuchen, ihn in Schubladen zu stecken: Bilderstürmer, Dadaist, Expressionist, Antagonist, Rebell, Visionär… Irgendwie trifft alles zu, aber es beschreibt ihn doch nie ganz. Er ist eben Phillip Boa. er läßt sich nicht kategorisieren. Ich könnte all diese ¿ Beschreibungen auch auf einen anderen Künstler anwenden, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe — David Bowie.
Bilderstürmer: Beide, Boa und Bowie, akzeptieren keine Idole, außer sich selbst vielleicht, und sie sind beide bereit, ihr Image genau in dem Augenblick über Bord zu werfen, in dem wir anfangen, sie zu mögen, genau dann, wenn wir denken, wir wären hinler ihr Geheimnis gekommen.
Dadaisten: Beide machen sich lustig über Kunst, Künstler und alles, was „wertvoll“ ist — Person und Kunst sind bei ihnen untrennbar.
Expressionisten: Beide verfügen über eine Ausdruckskraft, die manchmal mit ihnen durchgeht.
Antagonisten: Beide nerven uns hin und wieder ein bißchen, oder?
Rebellen und Visionäre: Kein Zweifel, wir verdanken Boa und Bowie einige der radikalsten und großartigsten Stücke, die in den letzten 20 Jahren aufgenommen worden sind — und ich hatte das Glück, einige dieser Aufnahmen produzieren zu dürfen.
Ich kenne David Bowie seit 1968, und zwar auf mehreren Ebenen: als Künstler, als Freund und als Fan. Wir haben zehn Alben miteinander gemacht: MAN OF WORDS AND MUSIC, THE MAN WHO SOLD THE WORLD, DIAMOND DOGS, DAVID LIVE, YOUNG AMER1-CANS. STAGE, LOW, HEROES. THE LODGER, SCARY MON-STERS und die EP MUSIC FROM BAAL. Dazu kommen noch eine ganze Reihe Singles und Sampler. Zugegeben, ein bißchen weiß ich schon, was in David vorgeht. Schließlich haben wir uns acht Monate eine Wohnung geteilt (und mitunter sogar die Freundinnen), uns zusammen besoffen, über Metaphysik, Bücher und Erfahrungen diskutiert.
Und doch, so nah wir uns mitunter auch waren, in manche der seltsamen Labyrinthe, die er erforschte, konnte ich David einfach nicht folgen. Wir hatten uns nach THE MAN WHO SOLD THE WORLD verkracht, und ich hatte ihn drevJahre lang nicht mehr gesehen, als eines Abends das Telefon klingelte und eine Stimme, die ich kaum mehr widererkannte, sagte:
„Hallo, Tony. Ich hab‘ seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen und geh ‚gerade mein Adreßbuch durch, wie geht’s dir denn so .'“Die Stimme klang heiser (zu viele Zigaretten) und wackelig (zuviel Koks). Drei Wochen später mischten wir DIAMOND DOGS in meinem neuen 16-Spur-Studio in London, und neben mir saß dieses merkwürdige Mediengeschöpf, oranges Haar, dürr wie eine Bohnenstange, das wenig Ähnlichkeit mit dem David Bowie hatte, den ich kannte. Damals fing ich an, ihn nicht mehr zu verstehen. Seit dieser Zeit ist er mir ein Rätsel, genau wie Phillip Boa.
Zurück zu ihm. Zunächst mal ist er Deutscher. Ich bin mit Deutschland und den Deutschen immer gut zurecht gekommen. Meine erste Frau war Deutsche, und ich war mit Bowie mehrmals in Berlin im Studio. (Als wir HEROES aufnahmen, hatte ich eine kurze Affäre mit einer wunderbaren deutschen Frau — wir waren das Paar, „standing by the wall“, das David in dem Song „Heroes“ verewigt hat.) Trotzdem sind die Deutschen im Gegensatz zum Rest der Welt (und zu mir) kulturell und sozial anders konditioniert. Als ich Phillip das erste Mal umarmte, erstarrte er förmlich — und das, obwohl wir gerade das zweite Album, HISPA-NOLA, zusammen fertiggestellt >¿
hatten, äußerst zufrieden mit dem Resultat waren, und Phillip und seine Frau Pia am nächsten Tag aus New York abreisen sollten. Amerikaner würden bei solch einer Gelegenheit Purzelbäume schlagen und sich gegenseitig in die Luft schmeißen. Italiener würden dasselbe tun und sich außerdem noch ausgiebig abküssen. Aber Phillip, unser teutonischer Visionär, erstarrte zur Salzsäule, als ich ihn in meine italo-amerikanischen Arme schloß. Pia dagegen drückte mir wenigstens einen höflichen Kuß auf die Wange.
Ich kenne Phillip also nicht besonders gut, und wahrscheinlich gilt das umgekehrt genauso. Wir haben uns nie zusammmen betrunken, wir haben uns nie eine Freundin geteilt. Es schien auch nie nötig zu sein. Mit Phillip Musik zu machen und aufzunehmen ist eine dieser glücklichen Erfahrungen, die ich mit anderen Menschen nur selten erlebe. Irgendwann tritt er auf einmal wieder in mein Leben, mit seinen halbfertigen Bändern, und sagt (ohne es genau in diese Worte zu fassen): „Du weißt, was diese Musik braucht, Tony. Du weißt, was getan werden muß — du kannst meiner Unlogik folgen!“ Phillip sieht mich nicht nur als Produzenten, er scheint auch der Meinung zu sein, ich sei ein guter Musiker und Background-Sänger. Bei unserer letzten Produktion bestand er darauf, daß ich spielen und singen sollte, und dabei hatte ich das seit Monaten nicht mehr getan. Aber mit Phillip klappt es, es klingt gut, es funktioniert. Ich habe ähnliche Sachen auch für Bowie und T. Rex gemacht, aber nicht, weil ich ein so begnadeter Musiker bin — ich war nur gerade da.
Beziehungen wie die mit Phillip darf man nicht hinterfragen oder zu sehr analysieren. Ich weiß nur, wenn man Phillip und mich (und Pia) in ein Studio sperrt, kommt etwas Erstaunliches dabei heraus. Eine solche Beziehung habe ich nur zu wenigen Künstlern gehabt: Bowie. Marc Bolan, Justin Hayward (von den Moody Blues), Les Rita Mitsouko und Phil Lynott.
Boa hat eine Berufung. Seine Träume sind leidenschaftlich, ungestüm. Ich habe in meinem Leben nur wenige Menschen getroffen, die eine Vision haben und die diese Vision mit Leidenschaft vertreten. Deshalb arbeite ich mit Boa. Mir gefällt, was er macht. Er spielt keine Rockmusik, er spielt mit ihr. Ebenso die Texte:
Englander oder Amerikaner wurden nie sagen „I’m fallen into life with a girl with a madcap on her head“ (aus „I Don’t Need Your Summer“). So etwas gibt es in der englischen Sprache eigentlich gar nicht, aber durch seine Vieldeutigkeit und seine Dali-eske Bildhaftigkeit macht es auf eine ironische Weise Sinn. Ich weiß nicht genau, was Boa damit sagen will, aber es zwingt mich, weiter zuzuhören, schließlich sogar die Texte auf dem Cover zu studieren, und ich glaube, mittlerweile verstehe ich Boas Liebe für das, was rein und echt ist, und seine Abneigung gegen alles Korrupte und Korrumpierende. Jedenfalls sagt mir seine Stimme das — und die ist unvergleichlich! Sicher nicht die beste, die ich jemals gehört habe, aber Phillip hat keine Angst davor danebenzuliegen, er weiß, daß er niemals so klingen wird wie Michael Bolton.
Dafür ist auch das, wovon er singt, meilenwert entfernt von Melodrama und hübschen Nichtigkeiten. Eine großartige Stimme wäre für Phillip ein Handicap, sie würde zu sehr ablenken von der beunruhigenden Atmosphäre seiner Texte.
Unsere neuesten Produktionen, „Beat Me Up“. .Johnny The Liar“ und „Love On Säle“ gehören für mich zu den besten, die wir bisher gemacht haben. Boas Welt beginnt Gestalt anzunehmen, wir erleben, wie seine Charaktere sich weiterentwikkeln. Phillip arbeitete zunächst allein an den Stücken, in E. Rocs Woodhouse Studio in Dortmund, und einige Monate vor Produktionsbeginn trafen wir uns in London, um den Ablauf zu besprechen. Beide, Boa und Roc, benahmen sich ungeheuer“.deutsch“, sehr ernsthaft, sehr präzise, was die technischen Anforderungen betraf. Ich dachte, Komm schon, Phillip, nimm’s locker, das sind schließlich deine besten Songs bisher, und deine witzigsten wahrscheinlich auch. Boa hat einen seltsamen ironischen Humor, aber bei diesem Treffen kam er nicht zur Geltung. Er schien unter ungeheurem Druck zu stehen. Das Album war augenscheinlich zu wichtig, um gelassen zu sein.
Wir einigten uns darauf, daß ich drei Stücke meiner Wahl produzieren sollte (Wochen später kamen noch zwei weitere dazu, für deren Produktion Boa schon über 10.000 Pfund ausgegeben hatte und dennoch nicht zufrieden war). Im Oktober 1992 geht es dann schließlich los. Ich hatte mir die Cove City Sound Studios in New York ausgesucht. Unser Tonassistent Rick ist Jude und daher den Deutschen gegenüber zunächst ein wenig argwöhnisch, dann aber sehr erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der wir arbeiten. Pia nimmt vier Overdubs ihrer Stimme für „Love On Säle“ in 45 Minuten auf, obwohl sie mit einer Erkältung kämpft.
Rick erzählt uns, daß er gerade mit einer Sängerin arbeitet, die für einen Song zwei Wochen braucht. Phillip und ich nehmen jeden Einfall sofort in die Mangel — bloß keine unnötige Zeitverschwendung! Diese Arbeitsweise nötigt Rick im Laufe der Woche immer mehr Respekt ab. und am Ende singt er gegenüber Richie Cannata (Studioboß und Saxophonist in Billy Joels Band) und den anderen Studiomitarbeitern wahre Loblieder auf Phillip Boa.
Gegen Ende der Woche, es ist Samstagnacht, sitzen wir im Studio und essen Pizza. Meine Frau May Pang kommt mit unseren Kindern, Lara und Sebastian. Sebastian schläft wie ein Murmeltier, aber Lara, 17 Monate alt. tanzt zu der Musik und flirtet mit den Männern. Es herrscht eine warme, herzliche Atmosphäre. Wir lachen über Madonnas „Sex“, Phillip und Pia fragen May nach ihrem Buch über die Zeit mit John Lennon. Rick ist bienenfleißig, damit die beiden genügend Kopien der Tracks mit nach Deuschland nehmen können. Fast wie eine Party, das Ganze. Schließlich, gegen ein Uhr, müssen die Kinder ins Bett. Beim Abschied vergessen wir alle kulturell-sozialen Unterschiede, und Phillip umarmt mich, ungelenk, aber immerhin.