Böse Menschen singen keine Lieder


Deutschlands Rock-Elite zeigte sich einig wie nie. Persönliche Differenzen waren vergessen, als es darum ging, dem WAAhnsinn die Stirn zu bieten. Redner wie Günther Wallraff brachten es auf den Punkt: Wir haben keine Zeit mehr, den Kopf in den Sand zu stecken -— wie der Vogel Strauß.

Freitag. Noch sind die Straßen frei. Alles bereitet sich auf den Sturm vor. Die Polizei in der Einsatzzentrale, die Organisatoren auf dem Festivalgelände, die Einheimischen beim Stammtisch und die Musiker im Probenraum.

In Saltendorf bei Burglengenfeld haben sie sich getroffen, in der Kneipe des „Burschenverein Einigkeit“, um den vertonten Aufstand zu proben. Unter weißblauen Fahnen haben sie ihre Anlage aufgebaut und stimmen eifrig die Saiten der Solidarität.

„Street Fighting Man“ wird angetestet. Wolf Maahn dreht an seiner Wanderklampfe, Niedecken zuckt auch schon ganz gut. Rio Reiser knabbert am Salamibrötchen. Die Mucker haben Spaß, können sich endlich wieder austoben. Die alten Kampf- und Gassenhauer bringen sie alle zusammen. Noch „n Bier und dann zur Pressekonferenz.

Zum Gasthof Rauch sind an die 700 Journalisten angereist. Die Mucker aber haben keinen Bock zu sabbeln. Christian Wagner, der Freak vom „Rockpalast“, erklärt den Recordern, warum man die kommerzielle Verwertung des Widerstands selber in der Hand behalten will: damit die Kohle nicht in fremde Abwasserkanäle läuft.

Die Mucker proben bis in die späte Nacht. Purple Schulz verausgabt sich, die alten Schröder-Rocker spielen, als käme der Weltuntergang. Auf den Straßen beginnt der Ärger. Polizeisperren überall, Leibesvisitation, die Bullen betrachten sich die ersten Arschlöcher — höflich, aber bestimmt.

Samstag. Morgens um zehn Uhr ist das Chaos noch in Ordnung. Staus bis zur Autobahn. Festivalbesucher werden verhaftet, Waffen beschlagnahmt: Waffen für das Fest auf der Wiese: Zeltstangen, Selterflaschen. Gitarrensaiten und Vollkornbrötchen.

Die Anwohner stehen vor ihren Häusern und winken den Fremden freundlich zu. Ein älterer Herr zeigt Schleichwege. Mitten im Stau: Wolf Maahn, doch dann kann er mit Passierschein desertieren.

Von den bewaldeten Hügeln schallen die ersten Töne zurück. Die Gruppen „Uli Hundt und der Wahnsinn“ und „Firma“ werden für den großen Einlauf geopfert. Die ursprünglich genehmigten 40 000 Eintrittskarten sind schnell abgerissen, ein Heer von Nasen, Ohren, Haaren und Hüten drückt von hinten nach. Die Anti-AKW-Ortsgruppe aus Bad Vilbel baut ihr Lager auf. Die ersten Verinnerlichungs-Freaks saugen die Atmosphäre der Masse in sich auf und fangen an zu tanzen. Überall Verkaufsstände: Bananenkuchen, Pizza, Wackeburger aus Gerstenkorn, Müslikeks und Studentenfutter. Scheißhäuser und ein Schwarzes Brett für alle, die sich nicht selbst finden können.

Rechts neben der Wiese das Pressezentrum. Auf einer Tribüne sammeln sich die Schreiber, Filmer und Knipser. Mit wichtigen Augen schauen sie ins Weite, ziehen den Duft der Freaks und Bratwürste durch die Nasenflügel. Die Polizei verteilt freundliche Flugblatter, wünscht viel Spaß bei wahnsinnsgeiler Musik, warnt aber die Besucher vor den bösen schwarzen Männern, die kleine Kinder immer überreden, mit Steinen zu schmeißen.

Chris McGregor jazzt auf seinem Electro-Piano, Eisi Gulp und Evi Seibert (die Blonde aus dem Rockpalast) führen locker durchs Programm. Dann Kevin Coyne. Die Sonne brennt den dreckigen Blues auf die nackten Oberkörper.

Die Stimmung steigt. Bayern vor, der Haindlinger kommt. Jürgen Buchner samt seiner Tuba-Pop-Kapelle und die Fans unten beschütten sich mit Orangensaft und alkoholfreiem Bier. Rio ist endlich angekommen. Er mußte zehn Kilometer laufen, weil die Taxifahrerin im Stau durchgedreht hat und umkehrte.

Purple Schulz holt sich die 14jährigen vor die Bühne. Wird er jetzt zum Demagogen, wird er diesen unschuldigen Kleinen sagen, wie schlimm die AKWs sind? Nein, denn sie wissen es ohnehin schon. Hier ist kaum einer hergekommen, nur weil die musikalische Sau abgeht — nein, sie sind alle nach Burglengenfeld gezogen, weil Widerstand auch schön klingen kann. So wie Wolfgang Ambros zum Beispiel, der einzige Österreicher außer Mitteregger. Aber Herwig ist noch im Übungsraum. In der Gambrinus-Gaststätte.

Hier haben sich derweil die Musiker des zweiten Tages eingefunden, um ebenfalls AU-Stars-Songs zu proben. Grönemeyer hat das Keyboard in der Hand. Mitteregger trommelt, die Toten Hosen saufen. „Heimweh“ von Freddie Quinn heißt der gemeinsame Nenner.

Endlich kann’s richtig losgehen auf der Wiese, endlich leuchten die Wunderkerzen und Feuerzeuge, glimmen die Joints. fackelt das Licht über die Bühne. Wolf Maahn bitte schön. Und BAP natürlich. Die Massen toben. Udo Lindenberg muß ran. „Geil, so ’n Widerstand“, meint er beeindruckt.

Im Pressezentrum sind sie gerade dabei, Wallraff zu würgen. Hunderte von Mikros werden ihm in den Hals gesteckt, der Mann tut mir leid.

Dann die nicht unumstrittene Festival-Hymne, Wolf Maahn mit seinem Tschernobyl-Song: „Das letzte Signal vor dem Overkill“. Einige Musiker wollen nicht mitsingen und verlassen die Bühne. Die Massen dort unten hingegen, sie toben und schreien.

Das Ende des ersten Tages naht, die All-Star-Band betritt die Bühne. Udo muß an die Drums, fast 40 Musiker tummeln sich an den Mikros und wärmen die Herzen mit alten Songs.

Sonntag. Viele Besucher haben sich einfach dort hingelegt, wo sie gestern abend noch standen. Einige Frühaufsteher stehen vor den Scheißhäusern Schlange. Auf der Bühne wackeln schriligestreifte Punks übers Parkett.

Dann ertönt ohne Vorwarnung die Walküre von Wagner. Wie aufgeschreckte Mäuse huschen Schläfer unter der Bühne hervor und suchen das Weite. Guten Morgen, wir servieren euch das Pogo-Frühstück: Die Toten Hosen! Bommerlunder in die leeren Mägen. Saufaus-Lieder zum Sonnenaufgang.

Nach diesem furiosen Auftakt kehrt erst mal wieder Gemütlichkeit ein. Langsam und gemächlich füllt sich die Wiese, döst ein neuer Nachmittag dahin. Das „Theatre du pain“ versucht mit einer dadaistischen Vorstellung, sich selber, das Festival und die anderen Künstler in Frage zu stellen. Auch von Mo And The Gangsters In Love lassen sich nur wenige mitreißen. Tageskapellen haben es schwe r. Außer sie kommen aus Bayern und heißen Biermösl Blosn. Die drei Well-Brüder aus Nassenhausen sind auf der Bühne und verschönern mit bösartigen, bissigen Texten das bayrische Liedgut.

Während anschließend Fritz Brause gegen den wiedereingetretenen Dämmerungszustand anzubrausen versuchen, wird im Pressezelt eine Konferenz einberufen. Grönemeyer ist da. Mit ihm Mitteregger, Rio Reiser und auch die Toten Hosen.

Draußen beginnt Anne Haigis. Gefühl bis zum großen Zeh, ihre ganze Seele für hunderttausend. Heute ist sie besser drauf als gestern beim Üben, wo sie „von den Mukkern hier an die Wand gerotzt wurde.“

Dann dürfen die Hessen kommen, die Rodgau Monotones -— kurz, aber heftig. Dann die Berliner, erst Herwig Mitteregger: „Immer mehr“ und noch zwei, drei Lieder. Ohne Band geht das halt nicht so gut. Er ist verärgert. Die Kollegen, die mit Unterstützung angereist sind, sahnen sicherlich besser ab. Auch aus dem gemeinsamen Auftritt mit Rio wird nichts. „Der Traum ist aus“. Das bringt König Rio so sensibel, so gefühlvoll über die Bühne, daß er, scheint’s, selber ergriffen ist.

Doch jetzt, Freunde des Friedens, der Festivals und der gesunden Umwelt: Herbert Grönemeyer!! Wieder gehen die Feuerzeuge an. Herbert ist ob solch großartiger Kulisse sichtlich beeindruckt.

Das Finale Grande! Rio Reiser ist der Held, „Alles Lüge“. „Am 30. Mai ist der Weltuntergang“, die Toten Hosen sind endgültig im Kreis der Betroffen-Rocker mitaufgenommen. Grönemeyer grölt mit Campino um die Wette.

Campino kickt einen riesigen Gummiball, der eine Weltkugel darstellen soll, in die Menge. Der Leiter der Anti-AKW-Ortsgruppe Bad Vilbel rollt den Wimpel wieder ein und schaut traurig auf die leere Bühne. – Keine Angst Kumpel, jetzt kommt erst die WAA-Platte, dann der Film —- und nächstes Jahr -— man wird sehen …