Bob Dylan


Mein Nachbar ist völlig aus dem Häuschen. Gerade haben sie einen Konzertflügel auf die Bühne gerollt, und gestern gehörte der noch nicht zur Ausstattung. Der Mann ist praktizierender Dylanologe und extra aus Holland angereist, um die Konzerte im Odeon. einem umfunktionierten Kino mit Platz für 3000 Zuhörer, zu erleben. Er muß seinen Erstgeborenen an die Schwarzhändler verkauft haben, um sich Tickets für vier der insgesamt acht Abende leisten zu können. Und die Kritiken der Pariser Konzerte kennt er ebenso auswendig wie das Programm: In der Pause rattert er eine Liste halb vergessener alter Songs herunter, die der Maestro in Frankreich zum besten gegeben hat. Als Vorgruppe spielten übrigens die Havalinas, die wie zweitklassige Dylan-Schüler klingen – immerhin eine gewisse Absicherung, sollte der echte Dylan eine seiner berüchtigten Licht-und-Schatten-Shows abliefern.

Dann schlendert Dylan herein, von Kopf bis Fuß in schwarzem Leder, flankiert von seiner weniger hip aussehenden dreiköpfigen Band. Die Beleuchtung läßt zu wünschen übrig – selbst Indie-Bands sind heutzutage mit den Scheinwerfern großzügiger – aber der Sound ist ausgezeichnet, sogar an meinem Platz, hoch oben unter dem Dach. Zum Auftakt gibt es den „Subterranean Homesick Blues“, mit Gitarrensolo und nicht ganz so gequält wie einst. Dylan experimentiert mit Rockstar-Posen (hat er die von Tom Petty abgeschaut?), und das Odeon rast.

Der Meister, dessen Stimme David Bowie einst als „Schmirgelpapier und Klebstoff‘ bezeichnete, klingt mittlerweile beinahe wie sein eigener Imitator. Die meisten alten Songs hat er neu arrangiert, von manchen ist nur noch das Skelett der ursprünglichen Melodie geblieben, und die Texte feuert er im Tempo eines Auktionators ab. „My Back Pages“ kommt rauh und abgerissen, fast wütend über die Rampe, „Brand New Leopard Skin Pillbox Hat“ und „I Shall Be Released“ werden nachlässig aus dem Ärmel geschüttelt. Aber dafür klingt „All Along The Watchtower“ dunkel und drohend, „Simple Twist Of Fate“ wirkt kantig und kühl.

Ein Gutes haben die geänderten Melodien allemal: Man versinkt nicht in nostalgische, neutrale Trance, man achtet mehr auf die Worte, die nichts von ihrer außergewöhnlichen Faszination verloren haben. Sätze, die man längst in unzugänglichen Gehirnteilen verschollen wähnte, kommen wieder an die Oberfläche und kriechen genüßlich das Rückgrat herunter.

Das Publikum ist ehrfürchtig, erstarrt aber nicht in langweiliger Verehrung. Während der meisten Songs herrscht andächtige Stille, aber bei „All Along The Watchtower“ kann Dylan das Mitklatschen nicht verhindern, und bei „Like A Rolling Stone“ und „Rainy Day Women“ singen die Leute selbstbewußt mit. Zwischendurch werden lautstark Songwünsche geäußert – je ausgefallener desto besser.

Dylan spielte drei Songs von seinem neuen Album („Everything Is Broken“ scheint jeden Abend auf dem Programm zu stehen), und seine „Born-Again“-Periode war überhaupt nicht vertreten. Einige Songs – darunter „Boots Of Spanish Leather“ – hatte ich schon seit Jahren nicht mehr live gehört.

Höhepunkt dieses an Höhepunkten wahrlich nicht armen Konzerts war der akustische Teil: Dylan spielte mit Gitarre und Mundharmonika „It’s All Over Now, Baby Blue“ und „Mr. Tambourine Man“, dezente Hilfestellung leistete ein gewisser G. E. Smith, der als Studiomusiker zuletzt bei Hall & Oates beschäftigt war und besser auf Dylans Wellenlänge liegt als jeder andere Gitarrist seit Robbie Robertson – und das will viel heißen.

Während der kargen zwei Zugaben merkt der holländische Dylanologe an. der Meister sei tags zuvor „besser drauf“ gewesen. Und er hofft, daß Dylan morgen vielleicht tatsächlich auch mal auf dem Flügel spielt, der den ganzen Abend lediglich als Dekoration auf der Bühne herumstand.