Bizarre – Festival


Die Knalltrosche vom wetteramt hatten über dem ersten wirklich interessanten Festival dieser Saison in der Berliner Waldbühne ein Tiefdruckgebiet ausgemacht. Doch die dunklen Wolken zerteilten sich beim Anblick der Masse und ergriffen eiligst die Flucht.

Nachmittags um Drei verteilten sich die Leute noch im schönen Rund der idyllisch gelegenen Waldbühne. Es herrschte eine Atmosphäre wie beim Picknick. Pech für die Berliner Band Element Of Crime: Sie wurden in der Sonne verheizt. 20 Minuten ihres schwermütigen Programms von Try To Be Mensch waren ihnen gestattet. Weil sich The Mission zwei Tage lang im Delirium Tremens befanden und nicht rechtzeitig in der Lage waren, einen Soundcheck durchzuhalten, mußten Element Of Crime und Julian Cope eben darauf verzichten.

Doch Sven und seine Kreuzberger Jungs bissen die Zähne zusammen, hielten — mit dem Rücken zur Wand und den Gesichtern zur Sonne durch und spielten ihre rauhen Balladen, so gut es eben ging.

Allmählich füllten sich Rasen und Holzbänke mit der bunten Berliner Mischung, das Bizarre-Festival wurde zur Avantgarde-Modenschau. Die Schwestern der Nacht bewiesen ihre morbide Kreativität wieder einmal in der Auswahl und Plazierung ihrer Strumpfhosenlöcher. bei den dunklen Brüdern dominierte eindeutig eine neuzeitliche Spezies: Punkhippie. Er ist das Produkt einer völlig entideologisierten Bewegung und sieht einfach geil aus: Die lange, zerzauste und schwarzgefärbte Mähne flattert synchron zu den Fransen der schwarzen Lederjacke im Wind. Seine bleichen Knochen stecken in einem zu kurzen T-Shirt, die runde Sonnenbrille schützt sein unrasiertes Gesicht teilen das grelle Tageslicht.

Als Julian Cope auf die Bühne sprang, wagten sich die ersten Besucher an die Absperrungsgitter vor und wurden nicht enttäuscht. Julian bot ein abwechslungsreiches Programm aus einfühlsamen, romantisch angelegten Songs und rotzfrechen Rocknummern und taumelte geschickt eine dreiviertel Stunde lang zwischen neuen Hits und alten Teardrop Explodes-Titeln hin und her.

Anschließend warfen The Mission leider einen Schatten auf diesen schönen Nachmittag und drückten einen schwülstigen Block aus düsterem Soundbrei in die frische Luft. Sie wirkten recht gelangweilt und langweilten. Auch ein guter Song wie“.Wasteland“ hilft über die Feststellung nicht hinweg: The Mission sind die Genesis der Wave-Musik.

Als sie zum Ende auch noch Neil Youngs „Like A Hurricane“ zerstörten, hielt es einen grauhürtigen Glatzkopf nicht mehr auf der Bank. Unter Flüchen und Sprüchen wie „Neil Young kann froh sein, daß er noch nicht tot ist, sonst würde er sich im Grabe umdrehen“, entließ er die Unsäglichen ohne Zugabe in ihre Garderobenwagen.

Aus einem anderen sprang alsdann Iggy Pop. Doch bevor der Meister seinen Wagen betreten konnte, mußte er auf seine Anweisung hin geleert und gesäubert werden. Fleißige Saubermänner befreiten die Garderobe von Keimen und desinfizierten die Garnitur. Doch dann kündigte der schlaffe und eigentlich überflüssige Moderator Alan Bangs die Hüpfdohle der Punkmusik endlich an. Und Iggy kam und war noch nie so wertvoll wie heute. Aufgekratzt wie ein zischender Luftballon zeigte Iggy einigen voreiligen Gazettentextern, daß er eben nicht zu den alten Eisen gehört und immer noch besser ist. als er aussieht. Mag sein, daß ihn das Domestos in der Garderobe stimulierte, mag sein, daß ihm die brillante und aufregend perfekt eingespielte Begleitband so einheizte — es war einfach toll und wie aus einem Guß. Iggy tobte über die Boxen, machte das Klappmesser und spielte die Feder wie ein 14ähriger. Bei „The Passenger“ wackelte die ganze Waldbühne — und auch nach zwei Zugaben hatte noch keiner genug. Und das alles am hellichten Tag!

Zuviel Stimmung verdirbt den Hauptakt, sagten sich die Verantwortlichen und ließen fast eine fiese Stunde lang Folterjazz vom Band laufen.

Es fing allmählich an zu dämmern, als die große schwarze Dame der Punkmusik aus ihrem Marmorsarg stieg und die Waldbühne verzauberte. Auch mit kecker Pagenfrisur, schwarzweißem Aerobic-Fetzen und schlängelnden Federboas — Siouxsie bleibt eine befremdliche Erscheinung, eine Rarität auf den Konzertbühnen. Wer sich nicht sofort mit Leib und Seele auf sie einließ, wanderte ab. Die anderen erstarrten und fielen ihrer schweren Melancholie zum Opfer.

Im blutroten Scheinwerferlicht bewegte sich Siouxsie wie eine mit Steinen beschwerte Ballerina. Vielleicht aus Angst vor leisen Pfiffen wagte sie nur zwei Songs ihres Coveralbums Through Th Looking Glass: „Wheels On Fire“ und „Near Prudence“. Hinreißend gesungen, atmosphärisch geladen und eindrucksvoll von ihrer Band begleitet. Siouxsie bleibt eine der besten Sängerinnen dieses Genres, ohne Zweifel.

Und trotzdem, auch heute wirkte sie deplaziert. Siouxsie kann man nicht in ein Festival stecken, schon gar nicht um diese Uhrzeit.