Bill Flanagan über Bono und U2


Nach einem nächtlichen Absturz in Chicago steht Bono plötzlich Bill Clinton gegenüber. In Sydney gibt Adam Clayton kurzfristig den Geist auf. Und in Tokio macht Mac Phisto bei einer Drogenparty die Bekannt- schaft einer Python. Im Buch 'U2 At The End Of The World* beschreibt Autor Bill Flanagan zwei Jahre im Umfeld der Megaband. ME-Autorin Walli Müller präsentiert Auszüge

Zoo TV‘ geht am 1. März 1992 in Lakeland/Florida auf Sendung. Das größte Multimedia-spektakel, das es je auf einer Rockbühne zu sehen gab: Buntbemalte Trabbis hängen als Spotlights von der Decke, -zig Fernsehschirme und riesige Videowände liefern Bilder über Bilder — John F. Kennedy, Martin Luther King, Golfkrieg, Mauerfall. Unangefochten im Mittelpunkt des grellen Geschehens jedoch steht Zeremonienmeister Bono. Der U2-Sänger trägt hautenge Lederklamotten und eine dunkle Brille, deren Gläser wie die Augen einer Fliege geformt sind. Ein paar Schritte von der Bühne entfernt liegt eine kleine Garderobe, in der die Band sich zwischen einzelnen Songs umzieht. Oben auf der Bühne schmettert Edge gerade das Gitarrensolo von ‚Bullet The Blue Sky‘, als ein völlig entnervter Bono hereinstürmt. Nichts läuft, wie es laufen soll. Wütend schmeißt der U2-Frontmann einen Stuhl um und tritt mit voller Wucht gegen die Wand. Die Stylistin Nassim Khalifa schaut sich den Auftritt eine Weile an, schnappt sich dann eine Bürste und beginnt, Bono zu kämmen — worauf der mit der Faust auf den Tisch haut und weiterplärrt: „Fuck! Fuck! Fuck!“ Daraufhin verpaßt ihm Nassim einen gut plazierten Schlag mit der Haarbürste auf den Schädel. Bono zuckt erschrocken zusammen — und gibt Ruhe.

Es war ein geschickter Schachzug von Bono, ‚Fly‘, den selbstverliebten Superstar, als Bühnencharakter zu erfinden. Denn einer, der jahrelang auf der Bühne Heilsbotschaften verkündet hat, bekommt spätestens dann, wenn er sich Limousinen und Lear Jets leisten kann, Probleme mit der Glaubwürdigkeit. Dem Prediger Bono war es irgendwann klar, daß er in einer „Glaskathedrale“ saß: „Plötzlich fühlte ich mich wie mundtot gemacht. Wenn ich einen Song über den Golfkrieg geschrieben hätte, hätte das bedeutet, daß ich am Krieg Geld verdiene. Also dachte ich mir, ich komme nur raus aus diesem Dilemma, wenn ich nicht vor den Widersprüchen davonlaufe, sondern direkt in sie hineinrenne. Ich mußte also über Heuchelei schreiben. Oder noch besser: Statt einen Song über irgendeinen schmierigen Psychopathen zu schreiben, selbst einer werden.“

Eines Morgens um drei Uhr macht Bono einen Witz, der Folgen nach sich ziehen soll: „Geht und holt Bill Clinton her. Wir hätten ihn gern bei uns.“ Clinton ist zu diesem Zeitpunkt Präsidentschaftskandidat und wohnt in Chicago zufällig im selben Hotel wie U2. Bonos Gefolgsleute, an solche Anwandlungen gewöhnt, nehmen den Wunsch des Meisters ernst und brechen auf in Richtung Clinton-Suite. Wie erwartet, blitzen sie bei den Leibwächtern ab: Der Kandidat schlafe.

Ein paar Stunden später — die L)2-Mannschaft hat sich gerade in die Betten verzogen — beginnt Bill Clinton sein Tagwerk. Er ist hier in Chicago, um Stimmen zu sammeln und dementsprechend stinksauer darüber, daß ihn seine Bodyguards nicht geweckt haben, als der vor allem bei jugendlichen Wählern äußerst populäre Rockstar nach ihm verlangte. Nun will Clinton seinerseits die Suite von Bono besuchen — was im U2-Lager milde Panik verursacht. Nicht nur, daß es für Musiker etwas früh am Tage ist, nein, Bono ist gar nicht erst aufzufinden. Mit einem Brummschädel vom nächtlichen Saufgelage hat er sich in eine Nebenkammer von Edges Zimmer verzogen und ist in voller Montur eingeschlafen. Als U2-Manager Paul McGuinness ihn endlich entdeckt hat, bleibt keine Zeit mehr für die Dusche. Im lilafarbenen Seidenanzug, den er noch von der gestrigen Show anhat, die Augenringe hinter der ‚Fly‘-Brille versteckt, dazu unrasiert, ungekämmt und von einer unangenehmen Ausdünstung eingenebelt schwankt Bono zur Audienz beim künftigen US-Präsidenten. Doch Clinton läßt sich nicht irritieren, fragt sogar, ob U2 nicht Lust hätten, bei seiner Amtseinführung zu spielen. Um mit Dylan zu sprechen: The Times They Are A-Changin‘.

Den Wahlsieg von Bill Clinton verfolgen U2 schließlich in Vancouver/Kanada via CNN. Ein paar Tage später spielen sie in Las Vegas. Hier hat die U2-Truppe Karten für den Boxkampf des lahres-. Schwergewichts-Weltmeister Evander Holyfield gegen den jungen Herausforderer Riddick Bowe. Zusammen mit Peter Bück von R.E.M. sitzen die Iren im ‚Red Circle‘, also auf jenen Logenplätzen, die freien Blick auch noch auf den letzten Blutstropfen ermöglichen. Der Kampf ist hart, das Publikum enthusiastisch. Eine Reihe hinter U2 brüllt Sylvester Stallone „Break his fuckin‘ nose!“, und Bruce Willis steuert grölend ein aufmunterndes „Kill him!“ bei. Für Bono, Larry Müllen, Edge und Peter Bück ist das das Ende der Vorstellung.

Angewidert ziehen sie weiter zum James Brown-Konzert, das sich allerdings ebenfalls als wenig geschmackssicher erweist. Der alternde Godfather Of Soul holt sich für ein ‚Sex Machine‘-Duett ausgerechnet Magic Johnson auf die Bühne, der erst kürzlich verkündet hat, daß er HIV-positiv sei. Und nun singt Johnson, der angeblich 1000 Frauen flachgelegt hat, „I feel like a sex machine“.

Auf Las Vegas folgt ein weiterer Wahnsinn. Diesmal heißt er Hollywood. U2 verbringen hier eine Woche bis zu ihrem Abflug nach Mexiko. Nachts basteln sie mit Rockvideo-Regisseur Kevin Godley an einem Fernseh-Special, tagsüber plant Bono seine Karriere beim Film. Er hat das Skript für den Film ‚The Million Dollar Hotel‘ geschrieben und ist nun auf der Suche nach Regisseur und Schauspielern. Derweil arbeitet Kevin Godley im Schneideraum gerade an der Fernsehfassung von ‚Until The End Of The World*. Licht aus für eine Privatvorführung. Alle sehen Bono, wie er durch ein Meer von hochgestreckten Armen schreitet, und alle sind beeindruckt. Nur Bono nicht. Hat doch Regisseur Godley einen katastrophalen Fehler gemacht. Auf dem Höhepunkt des Songs ist er weggegangen von Bonos Gesicht — was dem Sänger partout nicht paßt. Der Effekt sei hin, meint Bono, wobei ihm alle

Anwesenden zustimmen. Daraufhin beschwert die U2-Stimme sich mit dem nötigen Nachdruck bei Kevin Godley: „Du hast die ganze Spannung kaputt gemacht. Alles, was ich versuche, ist, Spannung aufzubauen. Und dann werde ich aus dem Bild geworfen. Das ist wie ein Koitus interruptus!“ „Okay“, antwortet der anerkannte Fachmann Godley, und Bono ist befriedigt.

Abflug nach Mexiko. In letzter Minute springen L)2 ins Flugzeug. Doch die Maschine kann nicht starten. Bono hat seine ‚Fly‘-Brille verloren. Denn Bono verliert dauernd etwas. Vor zehn Minuten erst hat er ein Buch im Wagen liegenlassen. Edge hat es ihm hinterhergetragen. Kurz darauf lag dasselbe Buch einsam und verlassen und wieder vergessen auf dem Tisch in der VIP-Lounge des Airports. Während Bono den Verlust seiner Brille noch lauthals betrauert, geht die Tür zum Flieger auf, und eine Flughafenangestellte bringt die verlorengeglaubten Augengläser. Die Maschine kann starten.

Mexiko ist nach acht Monaten Zoo-TV die vorerst letzte Tourstation, bevor es im darauffolgenden Jahr in den europäischen Stadien mit ‚Zooropa‘ weitergeht. Den Winter verbringen LJ2 zu Hause in Dublin. Doch das Heimkehren fällt schwer, wenn man monatelang unterwegs war. Bonos Frau Ali kennt ihren Rockstar zu gut, um ihn direkt nach Hause zu lassen. Er soll die erste Woche lieber im Hotel wohnen, damit den Kindern ein unansprechbarer Vater erspart bleibt. Derweil erstickt Edge eine aufkeimende Psychokrise in einem Anfall von Arbeitswut. Was bleibt dem Rest der Band da schon übrig? Er macht mit. Auf diese Weise entsteht in kürzester Zeit das Album ‚Zooropa‘. Zum Start der gleichnamigen Tour im Frühjahr

1993 wird Zoo TV immer politischer. Im Berliner Olympiastadion überrumpeln U2 das Publikum mit Ausschnitten aus Leni Riefenstahl-Filmen, verwandeln sich auf den Videowänden Kreuze in Hakenkreuze. Nach der Show gesteht Edge, daß er auf der Bühne ein mulmiges Gefühl hatte: „Wenn nicht absolut klar geworden wäre, warum wir das Hakenkreuz verwenden, hätte es wie ein billiger Schockeffekt ausgesehen. Aber da nun einmal alles, was in letzter Zeit in Deutschland passiert ist, durch die ganze Welt gegangen ist, kapiert jeder, worum’s dabei geht.“ Klar, in jenen Tagen geht es um die Anschläge von Mölln und Solingen, um das neuerliche Aufkeimen des Faschismus. Ein anderes Thema, das U2 beschäftigt, ist der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Bono spielt gar mit dem Gedanken, ein Konzert in Sarajewo zu geben. Bei Manager Paul Mc-Guinness schrillen darob sämtliche Alarmglocken: „Ich finde diese Idee dumm und eitel. Ich kann damit nicht das geringste anfangen.“ Das Konzert findet nicht statt. Was jedoch weniger an mangelndem Mut seitens der Band liegt, sondern mehr an der Tatsache, daß die Sicherheit der Beteiligten, also auch der Zuschauer, unmöglich gewährleistet werden kann. Doch wenigstens Zoo TV berichtet fortan in jedem Stadion live aus Sarajewo. Das ‚Zooropa‘-Finale findet im heimischen Dublin statt. Bei der anschließenden Fete sind Liam Neeson, Salman Rushdie und Mick Jagger zu Gast. Einige Zeit später steht eine Show in Sydney auf dem Programm. Doch in Australien kommt es zu ersten Ausfallerscheinungen. Adam Clayton liegt flach. Und zwar nicht, weil er einen Schnupfen oder Magenschmerzen hat, sondern ernsthafte Alkoholprobleme. Ein Schock für die Band, ein noch größerer für Adam. Dann nämlich, als er feststellen muß, daß er ersetzbar ist. Ein paar Stunden vor dem Konzert sind die anderen auf die rettende Idee gekommen, Stuart Morgan, Adams Bassroadie, einspringen zu lassen. Stuart Morgan zieht seinen großen Auftritt souverän durch — und Clayton fällt nie wieder aus. Über Neuseeland jettet der U2-Z00 weiter nach Japan. Vor dem Abschlußkonzert in Tokio testen Bono und Kostümdesigner Fintan Fitzgerald das Nachtleben der Metropole. Am frühen Morgen landen die beiden auf einer Drogenparty. Doch Bono ist müde und schläft ein. Kurz darauf weckt ihn ein befremdliches Gefühl. Über seinen Bauch schlängelt sich eine meterlange Python. Der Zoo ist komplett. Wenigstens so lange, bis die Schlange wieder in ihrem Käfig ist.