Berlinale-Eröffnungsfilm „The Kindness of Strangers“: Lieb gemeintes Mittelmaß
Eine Familie flieht vor dem gewalttätigen Vater nach New York. Und erlebt dort ein kleines Wunder nach dem nächsten.
Die Berlinale – man kann es eigentlich schon nicht mehr hören – gibt sich 2019 einmal mehr als politisches Festival. Kulturpolitikerin Monika Grütters hat diesen Slogan auch dieses Jahr wieder in die Vorberichterstattung geschummelt und freut sich obendrein über den hohen Anteil von Regisseurinnen im Wettbewerb des Filmfestivals. 7 von 17 Beiträgen sind unter weiblicher Regie entstanden, Intendant Dieter Kosslick verabschiedet sich also mit einem positiven Trend in den Festival-Ruhestand. Ab 2020 wird eine Doppelspitze die Berliner Festspiele leiten.
Nicht wenige haben diesen Abschied lange herbeigesehnt, zum Beispiel die 79 prominenten Filmemacher, die 2017 einen Brandbrief schrieben, in dem sie eine Neuausrichtung des Programms forderten. Denn die ganz dicken Fische ziehen Cannes, Venedig und Toronto an Land. In Berlin heißt der größte Star des Festivals Christian Bale, der das Biopic „Vice“ in Europa vermarkten möchte. Einen Film, über den in den USA schon längst niemand mehr spricht, denn dort lief er bereits im Dezember an.
„The Kindness of Strangers“: Ein nur scheinbar perfekter Eröffnungsfilm der Berlinale 2019
„The Kindness of Strangers“ scheint der perfekte Eröffnungsfilm für alle positiven und negativen Aspekte der letzten Berlinale unter Kosslick zu sein. Denn zwar setzt die Berlinale allein damit ein Zeichen, dass die Dänin Lone Scherfig mit ihrer internationalen Koproduktion die Festspiele eröffnen darf und auch noch einen wunderbaren Weckruf für Nächstenliebe und die Kraft des Miteinanders auf die Leinwand bringt. Andererseits kann man sich sicher sein, dass „The Kindness of Strangers“ in bester Tradition gut gemeinter Wettbewerbsbeträge stehen wird, für die sich nach Ende der Festivals niemand mehr interessieren wird. Und auch nicht ohne Grund, mehr als erzählerisches Mittelmaß wird hier nicht geboten.
Bisweilen kitschig und im Stile einer romantischen Komödie inszeniert Scherfig die Geschichte der jungen Mutter Clara, die in New York strandet – mitsamt ihren zwei Söhnen. Alle drei wurden von Claras Mann regelmäßig misshandelt, Hilfe bei der Polizei scheint keine Option, weil das gewalttätige Familienoberhaupt selbst als Cop arbeitet.
Clara hat in New York keine Chance. Sie hat kein Geld, keine Kontakte und kein Glück. „The Kindness of Strangers“ begleitet den Weg der gebeutelten Familie in die Obdachlosigkeit, es droht der Tod durch Erfrieren oder Hunger. Doch Regisseurin Scherfig bleibt nicht nah dran an den Opfern häuslicher Gewalt, sondern presst die Geschichte mal mehr, mal weniger in das Format eines Episodenfilms. Eine Krankenschwester wird gezeigt, ein Anwalt und sein Klient, der bald das Restaurant eines hilfsbereiten Russen leitet. Auch ein für normale Arbeit scheinbar zu dummer, aber selbstverständlich wahnsinnig gutmütiger junger Mann wird gezeigt.
Der Mehrwert endet im Kinosaal
Am Ende sind sie alle Teil der Lösung von Claras Problem, was schrecklich schön klingt, aber leider nicht so umgesetzt wird. „The Kindness of Strangers“ will ein „Community Empowerment“-Stück sein, die kleinen Alltagswunder geschehen hier aber nicht durch nachvollziehbare Wesenszüge der Figuren, sondern eben via reiner Drehbuch-Magie, auf die echte Menschen leider nicht zurückgreifen können.
Der gesellschaftliche Mehrwert, er beginnt und endet wohl beim guten Gefühl im Kinosaal. Dem Anspruch eines politischen Festivals darf das nicht genügen.