Bagger schweigen, Herzen schmelzen
So schön ist der Osten: eine kleine Liebeserklärung Was für ein Wetter! Was für eine Kulisse! Was für ein Programm! Wenn es ums "Melt!"-Festival geht - so impliziert es ja schon die Interpunktion im Namen - sind Euphorie und Ausrufezeichen kaum vermeidbar. Wer Liebeserklärungen doof findet, braucht also gar nicht weiterzuiesen.
Schon allein das traumhafte Festivalgelände Ferropolis in Sachsen-Anhalt ist es wert durchzudrehen. Auf einer Halbinsel im See, der zudeckt, was früher Bergwerk war, stehen die monströsen alten Bagger wie Dinosaurier und lassen sich Jahr für Jahr discokugelbehängt von Tausenden Indietronic-affiner Menschen um tanzen. Und nicht nur die örtlichen Gegebenheiten sind perfekt. Auch die hervorragenden Bio-Würste und all die anderen vorbildlichen Dinge, die es hier zum Frinseln gibt, sind nicht ohne – doch lange nicht deT Hauptgrund, weshalb Besucher sich mitunter Wochen nach der Veranstaltung noch nicht eingekriegt haben. Selbst die Tatsache, dass man dieses Jahr zum ersten Mal offiziell im See baden durfte, war nicht das Highlight. Nein: dass hier elektronische Acts einmal mehr Hand in Hand mit Gitarrenbands die Genregrenzen (die es in den Köpfen der Musikfans eh schon lange nicht mehr geben sollte) so charmant wie spielend überbrückten, dass die Mischung wieder gleichzeitig mutig und ausgewogen war – das ist der Grund, warum Melt! zu einer Art musikalischer Missionarsveranstaltung avanciert ist. Die Pet Shop Boysund Aphex Twin, zwei gegensätzliche Headliner mit unterschiedlichsten Bühnenkonzepten (Tanzer in großen Leinwand-Boxen mit Projektionen vs. Tänzer in Rollstühlen), zeigten beispielsweise, wie das geht. Oder Mike Skinner, der formidable Entertainerqualitäten bewies, auch wenn er sich offiziell nur nach hübschen Frauen im Publikum umsah. Oder Hot Chip, die der definitive Sieger des Festivals waren, obwohl sie mit Verspätung auftraten und anfangs mit argen Soundproblemen zu kämpfen hatten: Die Freunde Joe und Alexis und ihre Band brachten ein ganzes Zelt mit ihrer fulminanten Mischung aus Beat und Melodie, Soul und Pop zum Beben und bewiesen, dass Röhrenhosen und Haarspray keineswegs die wichtigsten Erfolgsgaranten für eine gute Show sind, sondern dass der ungekünstelte Dialog wesentlich spannender ist. Auch Blumfeld erklärten: „Ihr dürft mitklatschen, ihr müsst nicht cool sein“, was vielleicht ein paar derjenigen Zuschauer, die sich als Strokes verkleidet hatten, im nächsten Jahr vor Übel riechendem Schweiß unter Langarm-Hemden bewahren wird. UndErobique, Jamie Lidell, Ellen Alien, Dominik Eulberg und viele andere machten eine staubige Fläche vor einem Schaufelrad-Monster zum schönsten und glamourösesten Dancefloor der Welt. Da verzeiht man sogar, dass jemand es für gut hielt, Mia. zu buchen. Das Melt! hält so viele Möglichkeiten bereit, dass man sich zuweilen kaum entscheiden mag.
Einzige Minuspunkte waren die Tatsache, dass die Organisation im Vergleich zu den letzten )ahren etwas krankte: Der unterbesetzte Einlass war dem ersten Aasturm nicht gewachsen, und so hatten viel zu viele Leute keine Chance, in den Genuss des sympathisch gut gelaunten Barbara-Morgenstern-Sets zu kommen. Und dass Bands wie die Sterne, Peterlicht und Kante in den viel zu kleinen Melt!-Club gestopft wurden (der Reporterin blieb der Zugang zum sofort überßÄllten Club verwehrt; die ganze Wahrheit über Kante live also im nächsten Heft vom Haldern-Fcstival: Anm. d. Red.), in dem bislang die Indiedisco den Kontrapunkt zu den elektroniklastigen Tanzveranstaltungen bildete, war eine definitiv schlechte Idee- die den Gesamteindruck aber nur leicht ankratzte. Insgesamt ein echtes Lieblingsfestival. Auf den Punkt brachte es Suzie von Klee. Nach einem hochcharmanten Set kam sie zurück auf die Bühne gestürmt, um dem Publikum ein Banner vor die Nase zu halten: „You Melt! My heart“ Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. www.meltfestival.de