Avantgarde


Die Welt produziert viele Außenseiter. Glücklicherweise fühlen sich erstaunlich viele Außenseiter von Musik angezogen. So entstehen manchmal wegweisende Werke, die später als Klassiker in die Geschichte eingehen. Oder eingehen müssten …

50 Platten ausgewählt und besprochen von: Johannes von Weizsäcker und Floyd Schulze

Wäre etwa ein bestimmter junger Mann, traumatisiert durch die Elektroschocktherapie, zu der ihn seine Eltern zwangen, nicht mit einem Avantgarde-Bratscher zwecks gemeinsamen Liederschreibens in eine Manhattaner Wohnung gezogen, hätte es nie The Velvet Underground gegeben. Ohne die beinahe autistische Schüchternheit eines jungen Herrn Byrne hätte sich vielleicht das junge Künstlerpaar Chris Frantz und Tina Weymouth nicht genötigt gesehen, ihn zu einem gemeinsamen Projekt zu ermutigen, und die Welt hätte nie die Talking Heads erlebt.

Doch für jedes Außenseiterprojekt, das wider Erwarten nachhaltig grosse Aufmerksamkeit erhält, gibt es hunderte, die abseits der gemeinen Öffentlichkeit operieren, aber nicht minder innovativ sind. 50 solcher Musikprojekte stellen wir hier vor. Dabei haben wir uns auf einen Bereich beschränkt, der im weitesten Sinne mit populären westlichen Musikformen verwandt ist. Für eine entsprechende Beispielsammlung aller Musiktraditionen der Welt ist hier (leider!) nicht annähernd genug Platz. Noch mit dieser Einschränkung ist unsere Auflistung zwangsläufig lückenhaft. Dennoch haben wir eine feine Auswahl für die Leserschaft getroffen – aus dem Gewirr aller Musikschaffenden, die bei aller Verneigung vor musikalischen Traditionen immer vor allem darauf abzielen, Hörgewohnheiten in Frage zu stellen und sich der Kategorisierung zu entziehen.

Einige der hier besprochenen Künstler werden manchem Leser gewiss nicht vollkommen unbekannt vorkommen, denn natürlich gibt es musikalische Grenzgänger, die zwar keinen Mainstream-Erfolg, aber doch einen gewissen Kult-Status erlangen. Doch für den meisten Teil hoffen wir, dass es auf den nächsten Seiten für die Leserschaft recht viel zu entdecken gibt: Von frühelektronischen Hippie-Science-Fiction-Opern über sehr ärgerliche Sängerinnen bis hin zu Punkliedern über Katzen.

Moondog

More Moondog (1956)

Louis Hardin wurde 1916 in Kansas geboren, verlor mit 16 bei einem Unfall das Augenlicht und zog, nach Jahren klassischer Musikausbildung Ende der vierziger Jahre nach New York, wo er die nächsten 30 Jahre blieb. 20 dieser Jahre lebte er freiwillig auf der Strasse und machte sich bald einen Namen als Straßenmusiker, der mit Hilfe selbstgebauter Instrumente seine von Jazz und indianischen Gesängen inspirierte Musik spielte, selbstverfasste Gedichte rezitierte und dabei ein Gewand trug, dass an den Donnergott Thor erinnern sollte. Auf More Moondog besonders eindrucksvoll: „Moondog Monologue“, eine Art Manifest, in sonoren Abschnitten vorgetragen und von minimaler Percussion untermalt – wie die spirituelle Frühversion eines intellektuellen Rappers.

Bruce Haack

The Electric Lucifer (1970)

Ein Pionierwerk der elektronischen Popmusik. Bruce Haack, vormals Komponist für Kindersendungen und zeitgenössische Ballettgruppen, schaffte mittels eines Moog-Synthesizers, eines Vocoders und selbstgebauter Instrumente eine Art Hippie-Science-Fiction-Oper über das Konzept von „powerlove“, einer Liebe, so stark, dass sogar Luzifer von ihr beseelt wird. Dass dieses herrlich pompös-bekiffte Opus auf einem Major-Label erschien, verdeutlicht das heute unvorstellbare Klima der damaligen Musikindustrie: Je mehr „Counter Culture“-Ingredenzien die Musik beinhaltete, desto eher gab’s einen Plattenvertrag, denn das, so glaubten die Plattenfirmen, verkaufte sich bei den modernen Kids.

Fred Frith

Guitar Solos (1974)

Ob mit John Zorn in der manischen Free-Jazz-Rockabilly-Combo Naked City oder den Progrockern Henry Cow, in den meisten Projekten, die sich in den äussersten Rändern der Rockwelt bewegen, scheint der englische Gitarrist Frith irgendwann einmal massgeblich mitgemischt zu haben. Seinen heutigen Solo-Auftritten kommt dieses frühe Album am nächsten. Oft liegt die Gitarre mit dem Rücken auf dem Schoss und wird mit Blechdosen, Schraubenziehern und Kieselsteinen bearbeitet. So mancher horchte damals auf, unter anderem ein New Yorker Naseweis mit Nachnamen Moore, der bald eine Künstlerin aus gutem Hause traf, mit der er 1979 die Band Male Bonding gündete und diese wenige Wochen später in Sonic Youth umbenannte.

Schlippenbach Quartet

Hunting The Snake (1975)

Alexander von Schlippenbach (Klavier), Peter Kowald (Kontrabass), Paul Lovens (Schlagzeug) und Evan Parker (Saxofon), vier Titanen der freien Jazz-Improvisation der 70er-Jahre, wüten sich außerhalb konventioneller Timbres und Taktmaße durch ihre einzige gemeinsame Aufnahme. Wo John Coltranes Quartett aufhörte, setzen sie an, kanalisieren Ornette Coleman sowie zeitgenössische Klassik-Cluster und schaffen eine Blaupause für vieles, was in Free Jazz und Noise-Improvisation folgte.

R. Stevie Moore

Phonography (1976)

Abgesehen vom kurzlebigen englischen Projekt Lucifer, welches Anfang der 70er-Jahre, finanziert vom späteren Kiffer-Heiland Howard Marks, lustvoll schlecht produzierte Beck-Präambeln herausbrachte, kann man R. Stevie Moore als den Vater des Lo-Fi-Pop bezeichnen. Moore sitzt schon seit Jahrzehnten in seinem Haus in New Jersey und nimmt als Ein-Mann-Band Platten auf, deren Dillettantismus keineswegs seine Qualitäten als Softrock-Liederschreiber verdecken. Phonography enhält mehr herzerwärmende Melodien, Gitarrengeschrammel, mittig-verrauschte Aufnahmetechnik und verwirrende Quietsch-Chor-Einlagen, als es Ariel Pink, Moores grösstem Fan, eigentlich lieb sein sollte, denn der klingt bisweilen wie eine exakte Kopie.

Various Artist

No New York (1978)

Bekanntlich ereignete sich in Manhattan einiges, was die nachfolgende Popmusik nachhaltig beeinflussen sollte, und die Szeneprotagonisten, unter ihnen Talking Heads und ihr Produzent Brian Eno, ahnten dies vielleicht: Jedenfalls nahm Eno mit vier Bands der kurzlebigen No-Wave-Bewegung (DNA, Mars, The Contortions sowie Teenage Jesus And The Jerks) einen Sampler auf, der deren hysterische, primitive Endzeitmusik für die Nachwelt bewahrte. siehe Coughs, S. 62

Moebius-Plank-Neumeier

Zero Set (1983)

Kaffee statt LSD. Diese Krautrock-Wunder-Kollaboration um den Soundtüftler Conny Plank, Cluster’s Dieter Moebius und den Guru-Guru-Schlagzeuger Manni Neumeier lieferte mit Zero Set ein düsteres Album ab. Zero Set klingt wie eine Blaupause für den von Herbie Hancock und Miles Davis in den 80ern perfektionierten elektronisch-perkussiven Jazz. Toll ist auch das von dem sudanesischen Sänger Deuka eingesungene Future-Afrobeat Stück „Recall“. Beim Auflegen bitte mit Black Dice’s „Manoman“ mixen: siehe Cluster, S. 41

Max Goldt

Die majestätische Ruhe des

Anorganischen (1984)

Der allseits verehrte Autor elegant verquerer Betrachtungen und Kammerstückchen betätigte sich zunächst als Musiker. Auf seinem ersten Solo-Album untermalen Objektperkussion und Tonbandschleifen eine unübersichtliche Parallelwelt voller „experimenteller Imbissbuden“ und an Altersdemenz erkrankter Glamour-Damen. An anderer Stelle diskutiert ein Ehepaar im Boogie-Woogie-Rhythmus: „x{201a}Ich hab‘ so Rheuma‘ – x{201a}Ja, dann musste mehr Mohrrüben essen’/ x{201a}Ich hab‘ so Asthma‘ – x{201a}Ja, dann musste nicht immer in die Diskotheken gehen bis abends um halb elf'“. Dieses Album klingt wie ein Traum, den man träumt, wenn man bei einer Max-Goldt-Lesung einschläft.

Caspar Brötzmann Massaker

Der Abend der Schwarzen Folklore (1992)

Mit seinem wenig subtil benannten Trio betreibt Caspar B. ein Update des Jimi-Hendrix-Stils, wie man es vielleicht erwartet von einem Elektrogitarristen, dessen Vater die Freejazz-Legende Peter Brötzmann ist. Es rumpelt, es kreischt. Caspar schraubt auch gerne mal sein Instrument auf, weil das prima klingt. Nach längerer Pause, in der Brötzmann anderen Projekten nachging (unter anderem mit Neubautens FM Einheit), hat er 2010 sein Massaker wieder zusammengeführt.

Brise-Glace

When In Vanitas … (1994)

Eines von scheinbar tausenden weniger bekannten Projekten des neben seiner Solo- und Produzentenkarriere vor allem durch Mitwirkung bei Gastr del Sol und Sonic Youth bekannten Jim O’Rourke. O’Rourke und drei Chicagoer Szene-Kumpels improvisierten, einem Can-Update gleich, mit Gitarren, Schlagzeug und Elektronik und nahmen das auf. O’Rourke schnitt die Stücke nachher zusammen. Heraus kam ein munter abstrakt krachendes Dokument der Post-Rock-Blütezeit.

U.S. Maple

Long Hair In Three Stages (1995)

L.H.I.T.S. ist ein post-modernes Blues-Album und zugleich eine meisterhafte Dekonstruktion von Rock. Ähnlich dem verkopften Ansatz von Bands wie Red Krayola, die das absolute Chaos über krumpelig geometrische Strukturen legen, plus einem Captain Beefhart in „Moonlight in Vermont“, der werwolfartig in sein Mikrofon heult und die Wörter bis zur Unkenntlichkeit zerlegt. „You’re gonna hate it/ And you don’t like that“

Anthony Braxton

Ninetet (Yoshi’s) Vol. 1 (1997)

Der Altsaxofonist, Pianist und Komponist Anthony Braxton ist dem Leser vermutlich indirekt durch seinen Sohn Tyondai bekannt, der bis vor kurzen noch bei Battles spielte. Doch Braxton Seniors illustre Karriere zwischen John-Cage-beeinflusster Komposition und verschiedenen Jazz-Formen bietet ein ungleich grösseres Interessenfeld als das mechanistische Geschwurbel von Sohnemanns Band. Hier hört man Braxtons Nonett, wie es im San Franciscoer Jazzclub Yoshi’s gepflegt intensiven Free Jazz spielt.

Karp

Self Titled LP (1997)

Karp (Kill All Redneck Pricks) ist eine 1990 gegründete Rockband aus Washington, die die Über-heaviness der Melvins mit den Riffs von Black Sabbath kombiniert, brutal und gleichzeitig catchy, dabei immer laut und auf 180! Die Band brachte drei Studioalben raus und löste sich 1998 auf. Self Titled LP war, nicht wie der Name vermuten lässt, ihre letzte und zugleich dritte Veröffentlichung. Songs wie „Bacon Industry“, „Octoberfleshed“ oder „J Is for Genius“ müssten eigentlich absolute Klassiker sein.

David Devant And

His Spirit Wife

Work, Lovelife, Miscellaneous (1997)

Dieses Album enthält ein Lied über die Londoner Tate Gallery, in deren Postkartenladen dieser Autor sich einst verdingte und daher von einem Mitarbeiter eine Devant-Kassette geschenkt bekam. Eine Band, wie sie englischer nicht sein könnte: Sie schaffte es, ihre Einflüsse – David Bowie, Roxy Music und Vaudeville – der damals allgegenwärtigen IronieBehandlung zu unterziehen, ohne ihnen den Glamour zu nehmen. Die Kostüme und selbstgebastelten Bühnendekorationen waren, wie der Engländer sagt, something else.

Bobby Conn

Rise Up! (1998)

Nicht zuletzt bekannt für die exaltierte Glamrock-Dekonstruktion seiner Live-Konzerte, klingt der unvergleichliche Bobby Conn auf Rise Up! zwar auch, als trüge er enge Glitzerhosen mit Schlag. Doch zeigt er, etwa im Lied „United Nations“ die Verbindung von Glam- zu Punkrock auf und ist sich darüber hinaus nicht zu schade, eine merkwürdige, an die Swingle Singers erinnernde Einlage einfliessen zu lassen sowie Elemente, die sich anhören wie Bob Dylan, wenn dieser singen könnte.

Adam Bohman

Music And Words By (1999)

Adam Bohman und sein Bruder Jonathan betrieben in London über Jahre ein mit niederschmetternder Selbstverständlichkeit The Bohman Brothers benanntes Improv-Duo. Mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit widmeten sie sich einer performativen Untergrabung von allem, was Musik, Alltag, Leben oder Omelettrezeptbücher in der Vorstellung vieler anderer so bedeuten. In ihrem Aussehen zwei derangierten Gemeindezentrumshelfern ähnelnd, kratzten sie an Haushaltsobjekten herum und rezitierten dazu Textcollagen aus Speisekarten, Reiseführern und Schundromanen. Äusserst britische Dada-Improv-Performancekunst, auf Adam Bohmans Solo-Album durch die Vorzüge der Aufnahmetechnik verfeinert. Allerdings bezeichnet „Aufnahmetechnik“ hier im Wesentlichen ein Diktiergerät, mit dessen Hilfe Bohman eine Art Logbuch eines familiären Weihnachtsfestes erstellt. Das Band leiert, elektronisch Verstörendes interveniert und im Hintergrund läuft Pulp. Ein fein strukturierter Hörbuch-Alptraum.

Don Caballero

American Don (2000)

Don Caballero 1990 in Pittsburg gegründet, haben von 1993 bis 2000 fünf sehr einflussreiche Alben aufgenommen. Obwohl sie selber den Begriff Math-Rock nicht mögen, gelten sie als Namensgeber dieses Genres. Beschrieben wurden sie einmal als ein zu Musik gemachtes M.C.-Escher-Bild. American Don ist sicherlich ihre eingängigste Platte. Obwohl als Band nur noch zu dritt, sind sie komplexer und eigenständiger als zuvor. Gerade das großartige Gitarrenspiel von Ian Williams (Battles) und der massive Einsatz von Loops verleihen dieser Platte eine Tiefe und Einzigartigkeit, die viele Bands maßgeblich beeinflusste.

HiM

Our Point Of Departure (2000)

1995 von dem Schlagzeuger Doug Scharin (Codeine, Rex, June of 44) ins Leben gerufen. Our Point Of Departure ist das vierte Album und verbindet Elemente von Jazz, Dub und elektronischen Soundflächen.

Volcano The Bear

The One Burned Ma (2000)

Dieses Album der aus dem englischen Leicester stammenden Gruppe zeigt, dass sie sich eher als lose Verbindung sieht: Auf keinem der Stücke erscheinen alle vier Mitglieder zusammen. Das Werk bewegt sich zwischen metallenem Scheppern, psychedelischem Dröhnen und der teilweise pastoralen Theatralik ihrer improvisierten Live-Auftritte. Dafür verwenden Volcano The Bear ein von Metallstangen bis zu traditionellen Folk-Instrumenten rangierendes Instrumentarium.

Aavikko

Multi Muysic (2001)

Die aus irgendwelchen Gründen in Deutschland besonders beliebten feurigen Finnen aus der Stadt Siilinjärvi entlockten ihren Spielzeugkeyboards hemmungslos schrottige Quizshow-Melodien und machten daraus eine Art intelligentes Rock’n’Roll-Projekt. Unter Einbezug von Disco- und Housebeats erlebte ihre leider nie über den Geheimtippstatus hinausreichende Karriere mit Multi Muysic ihren bisherigen Höhepunkt.

Lightning Bolt

Ride The Skies (2001)

Die Rhode Island School of Design bringt ab und zu mal eine innovative Rockgruppe hervor, in den 70er-Jahren waren es Talking Heads, in den späten Neunzigern Black Dice und das Duo Lightning Bolt. Mit Schlagzeug, Bass und dem einen oder anderen Verzerrerpedal bauen Brian Chippendale und Brian Gibson monotone, krachige Stücke auf, die, wie hier in „The Faire Folk“, gelegentlich an eine Art Noise-Rock-Version von Steve Reichs Musik erinnern. Ride The Skies ist ihr zweites von fünf Alben.

Asa-Chang and Junray

Jun Ray Song Chang (2002)

Jun Ray Song Chang ist eine Zusammenstellung der ersten beiden Alben dieses japanischen Duos, von dem man allen Ernstes behaupten kann, es mache Musik wie niemand sonst. Über programmierten westlichen Akkorden werden japanische Texte gesprochen. Gleichzeitig spielen Tablas den Textrhythmus beinah identisch mit. Die clevere Kombination dreier bekannter Elemente lässt etwas Neues, Entfremdendes und zugleich immanent Vereinnahmendes entstehen.

Hella

Hold Your Horse Is (2002)

Hella, das sind Schlagzeug und Gitarre. Hold Your Horse Is ist das Debut des Duos aus Sacramento. Wäre der Autor um Schubladenfindung bemüht, so würde er sagen, dass Hella Math-Rock spielen; das ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sonderlich innovativ, allerdings beeindrucken Hellas Spielfreude, Technik und Musikalität so sehr wie bei fast keiner anderen Band dieses Genres.

They Came From The Stars

(I Saw Them)

What Are We Doing Here (2003)

„Vermutlich die prätenziöseste Gruppe im Vereinigten Königreich“ wurden TCFTSIST einst vom „Flux Magazine“ genannt, und wer diese heillos chaotische, stets weiße Gewänder und gelegentlich Hundehalskrausen tragende, mal zu zwölft, mal zu dritt auftretende, wandelnde Slapstick-Spacerock-Krautpop-Operette jemals erlebt hat, würde dem Presseurteil wahrscheinlich zustimmen. Doch ist jede Form öffentlichen Auftretens als Popgruppe oder Interpret, so wissen A.J. Holmes und Horton Jupiter, aus deren Entwurf das sich als glamourösen Akt des Scheiterns inszenierende Kollektiv Mitte der Neunziger in London enstand, an sich schon ein Paradebeispiel des Prätenziösen. Also sollte, wer als Popkünstler wahrhaftig bleiben will, so überzogen und vermeintlich geschmacklos wie möglich daherkommen. Wie diese Sammlung von Singles und EPs dokumentiert, versuchten TCFTSIST bis zu ihrer Implosion vor einigen Jahren genau das. Oder wie sie es selbst einmal in einem Lied sagten: „Throw your record collection away/ Taste is pointless“.

Extra Golden

Ok-Oyot System (2006)

Diese Kollaboration enstand, als Ian Eagleson 2003 nach Nairobi reiste, um für seine Doktoarbeit kenianische Benga-Musik zu dokumentieren. Hier traf er den Multi-Instrumentalisten Otieno Jagwasi, der ihm assistierte. Als wenig später Eaglesons Freund Alex Minoff (Make Up) hinzustieß, war die Band Extra Golden komplett. Ihr Debütwerk Ok-Oyot System ist ein elegant, melancholischer Hybrid aus dem enfernt an Rumba angelehntem Benga-Stil und westlichem Rockgitarrenspiel der 70er-Jahre.

Felix Kubin

Matki Wandalki (2004)

Vom eigenen jugendlichen Heimorgelspiel und der Neuen Deutschen Welle inspiriert, produziert der Hamburger Kubin seit sehr jungen Jahren unzählige Platten, Hörspiele und Theatermusiken. Auf Matki Wandalki, im üblichen Mix aus Analog-Elektro, Punk-Attitüde und Space-Age-Easy-Listening gleicht er dem unausgeglichenen jüngeren Bruder der Mutter, dem man nicht vollends traut, der aber viel unterhaltsamer ist als die Eltern.

Thee More Shallows

More Deep Cuts (2004)

Dee Kesler, Chavo Fraser und Jason Gonzales aus San Francisco spezialisierten sich auf ihren drei Alben, deren zweites ihr vollkommenstes ist, auf die detaillierte Darstellung der unschönen Seiten menschlichen Gefühlslebens – wie so mancher vor ihnen. Doch entstand hier mittels zerknautschter Gitarren und polyrhythmischer Schleifen eine eigene Form der Melancholie: ein wenig wie Radiohead, sollten die sich entschliessen, endlich mal den Pathos wegzulassen.

Wevie Stonder

Ton Wah (2004)

Es handelt sich hier um eine Maxi-Single, die das situationistische Elektronik-Quintett aus Brighton unter dem Namen Wevie de Crepon herausbrachte. Es ist ihr Meisterstück. Ein Navigationsgerät wird zum Cockney-Gangster und bellt über albern schmatzenden Beats verwirrende und gefährliche Instruktionen. Auf der Hälfte ereignet sich ein furchterregender Brutalo-Techno-Aufbau unter Wiederholung der Phrase: „It’s a bollard“ („Es ist ein Poller“). Nichts hier macht Sinn. Hervorragend.

Ich Bin

Obéis! (2006)

Es ist Krieg! Ich Bin ist eine, Ende der Achtziger auf Süd Korsika gegründete vierköpfige EBM Band. Obéis! ist ein Re-Issue einer Anfang der 90er-Jahre aufgenommenen Tape. Minimal Beats, krachige Synths, darüber kaputter Gesang, der von philosophischen Ideen aus der industriellen Revolution und Dada inspiriert ist; dagegen wirken Suicide schon fast wie eine Backingband in einem Disneyfilm. Obwohl die Platte in etwa so klingt, als würde man einen Valium-Rasierklingen-Cocktail gurgeln, ist mit „Danger“ ein fast tanzflächenaffiner Hit drauf. Alleine des Covers wegen lohnt sich der Kauf, es zeigt eine etwas abgewandelte Landkarte Frankreichs, die mit militärischen Symbolen angereichert ist. Angrenzend liegen Dänemark, Iran, Irak, das „Mer Merde“, „Mer Morte“ und der „Océan Morte“ – die perfekte Paranoia-Inszenierung und das Äquivalent zur Musik: „Danger: cinema! Danger: Mustafa! Danger: Bruce Willis! Danger: Auschwitz!“.

Aosuke

Monotone Spirits (2006)

Das Hamburger Duo Aosuke hat vielleicht nicht gerade die Sparte „Mal sehen, was man mit Tape-Loops und analogen Synthesizern so an minimalen Klanglandschaften kreieren kann“ erfunden, gewinnt ihr aber viel Erfrischendes ab. Clever strukturiert und elegant zurückhaltend prozessiert, führen Ulf Schütte und Tobert Knopp auf Monotone Spirits fort, was sie bei Cluster oder auf früheren Pluramon-Alben vorfanden.

Coughs

Secret Passage (2006)

Als der Autor nach Anhören dieses lärmenden Meisterwerks zum Coughs-Konzert ging, besaß er dennoch keine Vorstellung, was über ihn hereinbrechen würde: zwei Psychopathen mit Öltrommeln, ein pogofreudiger Freejazz-Saxofonist mit Plastikbrüsten, eine sehr ärgerliche „Sängerin“ und noch zwei, die auch irgendwas machten. Konzert des Jahres 2007. Tags drauf flogen Coughs zurück nach Chicago und lösten sich auf.

Le Club Des Chats

Pump Up The Seed! (2006, 7″)

Kein Album dieses Pariser Paars liegt vor, doch ist ihr Gesamtschaffen als verkanntes Meisterwerk zu betrachten, besteht es doch ausschliesslich aus einminütigen New-Wave-Liedern über Katzen. Maia und Guillaume rumpeln, klimpern, singen schrill und flechten gelegentlich ein „Miau“ ein. Selbstverständlich produzieren, bemalen, drucken und vertreiben sie alles selber. Sie machen sogar Workshops mit Kindern, in denen man gemeinsam Punklieder über Lieblingstiere schreibt und diese dann aufnimmt.

Man Man

Six Demon Bag (2006)

Der hier schreibende hatte das Vergnügen, dieses vielköpfige Tribalismus-Honky-Tonk-Mariachi-Punk-rock-Ensemble aus Philadelphia auf einer frühen England-Tournee live zu erleben. Auch auf Six Demon Bag ist die Energie der Musik gut eingefangen, doch kann man dem Leser nur empfehlen, sich dem audio-visuellen Overkill von Man Man einmal bei einem Konzert auszusetzen.

Michael Maierhof

Collection 1 (2006)

Dem Hamburger Michael Maierhof gelingt es wie wenig anderen zeitgenössichen Komponisten, zugleich ein Höchstmaß an Abstraktion und Transparenz zu erreichen. In seiner „Splitting“-Serie – auf dieser Werksammlung vertreten – komponiert er für Einzelinstrumente und Zuspiel-CDs. Erstere werden mit erweiterten Techniken gespielt, letztere enthalten stark abstrahierte Aufnahmefetzen oder das Klangzerbersten von Sprudelflaschen. Ein Hörgenuss nicht nur für Kenner moderner Klassik.

Antelope

Reflector (2007)

Justin Moyer, Bee Elvy and Mike Andre aus Washington, DC, verschrieben sich dem Reduktionismus: Aus den Trümmern von Post-Punk und Hardcore bauten sie Bass- und Gitarrenlinien sowie Schlagzeugrhythmen und verwebten diese wiederholungsreich ineinander. Diese Band hat garantiert niemals eine einzige Note zuviel gespielt. Reflector ist eine Art Trance.

Gangpol und MIT

Hopelessly Sad Story Of The Hideous End Of The World (2007)

Das französische Design- und Musikduo Gangpol und MIT erzählt, wie der Titel des Albums suggeriert, die Geschichte vom Ende der Welt via diffusen Datapop. Unerwartete Chor-Samples, hektische Beats und jede Menge Vocoder-Missbrauch machen dies Konzeptalbum zu einer Art Electric Lucifer der Nullerjahre. siehe Bruce Haack, S. 59

John Maus

Love Is Real (2007)

Maus, Minimal-Crooner, Punk-Philosoph und angeblich Dozent für Politische Theorie an der University of Hawaii, spielte einst in Ariel Pinks Band Haunted Graffiti. Auf seinem Album Love is Real intoniert er Moralklischees zu Lo-Fi-Pop und klingt dabei wie Ian Curtis auf Antidepressiva. „Rights for Gays“ ist nach Auffassung dieses Autors das Poplied der Nullerjahre. Maus‘ MySpace-Seite enthält zahlreiche Pressezitate aus (fiktiven?) Verrissen. Er bündelt konträre Botschaften; sein Werk lässt sich vielleicht als eine am Punk geschulte Reinkarnation des Begriffs der romantischen Ironie verstehen. Beinahe genial, oft sehr komisch und immer melancholisch.

John Wiese

Soft Punk (2007)

John Wiese ist wahrscheinlich der unbestrittene Meister des elaborierten Krachs. Er hat mittlerweile unzählige Veröffentlichungen und Kollaborationen mit fast allen Größen dieses Genres veröffentlicht, u.a. mit Wolf Eyes, Thurston Moore, Kevin Drumm, Lasse Marhaug, um nur einige zu nennen. Soft Punk ist Wieses erstes full-length Album. Genialer Titel und geniales Artwork von Kaz Oshiro. Bei Wiese gibt es immer ein nächstes Level. Dieses Album ist vieles – aber es ist weder Soft noch Punk.

Lamborghini Crystal

Dial: 747 Creepozoid (2007)

James Ferraro, Mitglied der kalifornischen Noise-Gruppe The Skaters, spielt unter dem Namen Lamborghini Crystal auf Dial: 747 Creepozoid elektrische Gitarre wie jemand, der sehr musikalisch ist, aber zum ersten Mal Gitarre spielt. An anderer Stelle bearbeitet er Gongs mit zahlreichen Effektgeräten. Das Ganze hat er dann vermutlich hundert Mal von Kassette auf Kassette überspielt, um ihm einen wabernden Charme zu verleihen.

Black To Comm

Fractal Hair Geometry (2008)

Freunde von Drone-Musik kommen hier auf ihre Kosten: Man hört Orgeln, mit denen über lange Zeit nicht sehr viel mehr passiert, als dass ihrem Verharren auf einem Akkord irgendwann eine verzerrte Version dieses Akkords beigesteuert wird. Hintergrundklänge gleiten, britischen Polizeisirenen gleich, auf und ab. Marc Richter, Chef des famosen Hamburger Dekorder Labels, hat mit seinem langjährigen Projekt schon in die Lieblingsmusik-Liste von Thom Yorke geschafft.

Ergo Phizmiz

Handmade In The Monasteries Of Nepal/Eloise My Dolly (2008)

Klangtüftler Phizmiz brachte hier zwei EPs gleichzeitig heraus, deren eine – „Handmade…“ – ihr grundlegendes Klangmaterial ausschließlich bei Geräuschen findet, die mithilfe von Phizmiz‘ Mund sowie eines Paars blauer Jeans erzeugt werden konnten. So entsteht eine Mischung aus Beatboxen und säuseligem Gesang, die im Vergleich zu anderen Phizmiz-Projekten – etwa seine mit Mittelalterinstrumenten gespielten Velvetunderground-Cover – beinah konventionell anmutet, jedoch nicht weniger unterhaltsam ist.

Mucca Pazza

Plays Well Together (2008)

Wie eine Horde wild gewordener Elefanten, die gerade durch eine Konditorei saust. Mucca Pazza ist eine 30-köpfige (!) Zirkus-Punk-Blaskapelle, die Musik spielen, die niemals von einer Blaskapelle gespielt werden dürfte. Zuviel Energie gepaart mit zuwenig Selbstbeherrschung ist einfach eine perfekte Kombination. Ding-Dong.

Nisennenmondai

Tori/Neji (2008)

Sai, Ma-Chan und Hime, drei zierliche Tokioterinnen, kreieren seit 1999 hypnotische, instrumentale Musik aus Krautrock, Gitarrenkrach, No Wave und Disco-Beats. Mutet wie Klischee an, ist es aber nicht: Man besuche eines der in Europa leider eher raren Konzerte des Trios und erkenne diese spillerige Zuck-Darbietung als einzigartiges Gesamtkunstwerk.

Pit Er Pat

High Time (2008)

Falls sich einige Leser an die englische Gruppe Pram erinnern, die in den 90er-Jahren mit schwurbeligen, von Spielzeuginstrumenten und nervösen Trommeln begleiteten Geistermelodien reüssierte, werden sie in Pit Er Pat deren US-amerikanisches Äquivalent vorfinden. Naiv und düster zugleich, wird High Time vom traumartigen Vortrag der Sängerin Fay Davis-Jeffers genährt. Ihr Mitstreiter scheppert und dreht an irgendwelchen Dingen herum und trägt den grossartigen Namen Butchy Fuego.

Icy Demons

Miami Ice (2008)

Obwohl Griffin Rodriguez, um den sich das Chicagoer Experimental-Rock-Kollektiv Icy Demons schart, als Haupteinfluss die sogenannte Canterbury Scene um Robert Wyatt und seine Jazzrockband Soft Machine zu Anfang der 70er-Jahre nennt, lässt sich auf „Miami Ice“ ein Bewusstsein modernerer Stile ausmachen: Manchmal – dies gilt übrigens auch für Live-Konzerte der Gruppe – groovt es ganz entfernt so, als hätten die Herren schon mal etwas von diesem neumodischen Zeug namens Hip-Hop gehört.

Zs

The Hard EP (2008)

Zs ist ein Trio aus Brooklyn, eine gewisse Ähnlichkeit mit Bands wie Owl Sounds, Hat City Intuitive und Graveyards (u.a. mit Wolf Eyes‘ John Olson) kann man nicht abstreiten. Einzusortieren unter Improv, Free-Jazz, Avantgarde, Noise. Die the hard EP besteht nur aus einem 15-minütigen Track und hat damit die optimale Länge, um an der Aufmerksamkeitsspanne und dem ästhetischen Empfinden ordentlich zu rütteln. Wie der Titel schon vermuten lässt, ist es Musik, die auf die harte Tour gemacht wurde, kompromisslos und authentisch. The Hard bringt den Hörer an den Punkt, an dem Herausforderung in Überwältigung umschlägt.

Omo

The White Album (2009)

David Muth und Berit Immig, bei Live-Konzerten gelegentlich durch jemand namens Steve verstärkt, bezeichnen ihre seltsamen Miniaturen als „Haushalts-Pop“. Tatsächlich nahmen sie ihr ikonoklastisch betiteltes Album in Muths Londoner und Immigs Berliner Zuhause auf. Dabei entstanden – in Form elektronischer, gelegentlich durch Gitarre und Bass unterstützter Minimal-Lieder – Meditationen über Dosenfische, Teepausen, Putzroboterfür Aquarien und (auf „Her Body“) den Prozess des Eierlegens. Ähnlich wie bei der Führung eines Prekariatshaushalts war auch beim Arrangieren der Stücke Sparsamkeit geboten. Selten klang domestizierte Unaufgeregtheit so präzise, verstörend und traumartig zugleich.

Vindicatrix

Die Alten Bösen Lieder (2009)

Der junge Londoner und studierte Komponist David Aird bedient sich deutscher Übersetzungen von Texten der englischen Romantik, deren „blutige Schwerter“ und zu tötenden „Geier“ er so vertont, dass man glauben mag, es singe ein bereits verstorbener Scott Walker im Jenseits zu einigen Dubstep-Nummern und übermittele das Ergebnis der Hörerschaft durch ein Medium. Durchaus eindringlich. Ebenfalls von hoher Individualität sind Airds Videoarbeiten: sparsam vertonte Digitalhöllen. Äußerst talentierter Junge.

Emeralds

Does It Look Like I’m Here? (2010)

Emeralds ist ein Trio aus Cleveland, das in ihrer vierjährigen Geschichte mittlerweile mehr als 40 Releases veröffentlicht haben, meist auf Kassetten und CDs. Beschreibt man ihre Musik, so landet man schnell bei 70er-Jahre-inspirierten Musikern wie Edgar Froese und Klaus Schulze. Does It Look Like I’m Here? ist ein zeitgemäßes Ambientalbum, das immer noch den typischen Emeralds Charme besitzt. Sie glucksen und blubbern immer noch in sphärischen Weiten, kommen jetzt aber schneller zum Punkt – nur zwei von zwölf Titeln brechen überhaupt noch die Sieben-Minuten-Hürde. Man könnte sagen Does It Look Like I’m Here? ist ein Emeralds-Popalbum geworden.

siehe Klaus Schulze, S. 42

Nickel Pressing

EP (2010)

Drei junge Herren aus Lyon an Geige, Bassgitarre, Schlagzeug und Elektronik frischen das seit nunmehr zehn Jahren andauernde Post-Punk-Revival auf und drohen, mittels seltsam epischer Qualitäten der ganzen Chose doch noch einmal etwas Innovatives, gelegentlich gar Humorvolles abzugewinnen. Frage an die bekanntlich rigide dogmatische Post-Punk/Hardcore-Community: Epik? Humor? Darf man das? Wie dem auch sei: Herumhopsen kann man hierzu allemal.