Aus Grauer Städte Mauern
Sicher, Liverpool schenkte der Welt die Beatles. Aber danach? Heute ist die Staat am Mersey die ärmste und abgerissenste Großstadt Westeuropas. Ausgerechnet hier schrieb Colin Vearncombe alias Black seinen Top-Seiler " Wonderful Life". ME/Sounds-Reporter Rolf Lenz begleitete Black auf einem melancholischen Spaziergang durch eine verfallene Stadt.
Hier fallen manchmal busladungsweise Japaner ein, die 14 Tage ‚Beatles-Ferien‘ gebucht haben!“ Black alias Colin Vearncombe (26) schüttelt den Kopf und zuckt die Achseln. „Keine Ahnung, was die hier treiben. Wer interessiert sich denn heute noch für die Beatles? Sogar das Beatles-Museum ist seil einiger Zeil pleite …“
Ganz Liverpool ist mehr oder weniger pleite. Von einer der reichsten Hafenstädte des britischen Empire stieg die einst strahlende Metropole bis Mitte der 80er Jahre zur ärmsten Großstadt Westeuropas ab. Ende 1985 waren mehr als 25 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, fast drei Viertel der Liverpooler bezogen öffentliche Unterstützungsgelder. Margaret Thatchers Politik des industriellen Abspeckens hatte der Region um die Mündung des Mersey den Todesstoß versetzt: Ein Unternehmen nach dem anderen schloß für immer die Pforten, und seit 1978 verloren 65000 Menschen ihre Stellung, während im selben Zeitraum nur gut 10000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.
„Innerhalb von drei Jahren brach der Arbeitsmarkt völlig zusammen“, bestätigt Colin. „Wenn ich die Schule mit 16 verlassen hätte, hätte ich vielleicht noch einen Job bekommen. Ich bin aber bis 18 zur Schule gegangen, habe dann ein Jahr studiert — und 1981, mit 19, war nichts mehr zu kriegen. Also habe ich versucht, von der Musik zu leben: ein jahrelanges Hin und Her, Plattenvertrag ja, Plattenvertrag nein …“
Das probieren viele. Mit Ausnahme von London gibt es nirgendwo in England so zahlreiche junge Bands wie in Liverpool, denn „das ist einer der beiden traditionellen Wege, um hier rauszukommen“ , nickt Colin.
„Entweder du wirst Fußballstar oder Musiker … oder Künstler vielleicht. „
Die neue Armut sieht man Liverpool auf Schritt und Tritt an: Ganze Straßenzüge sind verlassen, ausgebrannte und halb-verfallene Häuser starren aus leeren Fensterhöhlen auf Beton-Kästen oder scheußliche Wohnblocks. Dazwischen finden sich immer wieder freie Flächen, wo verödete Wohn- und Geschäftsviertel gnadenlos dem Erdboden gleichgemacht wurden.
„Daran ist nicht zuletzt die Verwaltung schuld,“ erzählt Colin, während uns seine rechte Hand Michael Gaunt durch die Innenstadt chauffiert. „In den 60ern und 70ern wurden immer mehr City-Bewohner dazu überredet, in neu geschaffene Vororte zu ziehen, was das Stadtgeßge völlig kaputt gemacht hat. Der Stadtrat dachte, er würde den Leuten einen Gefallen tun, indem er ihnen endlich Wohnungen mit eigener Toilette verschafft, aber anstatt die Häuser in der Stadt zu sanieren, zogen alle nach draußen, und die Innenstadt verfiel.
Die Folge war, daß heute im eigentlichen Liverpool bloß noch eine halbe Million Menschen lebt. In den offiziellen Statistiken spricht man deshalb nicht mehr von Liverpool, sondern vom Gesamt-Bereich Merseyside mit anderhalb Millionen Einwohnern.
„Ich glaube allerdings, daß es jetzt mit Liverpool wieder bergauf geht“, stimmt Colin in den vorsichtig optimistischen Chor seiner Stadtväter ein. „Wir werden hier vom Kanal-Tunnel profitieren: Wenn der erstmal fertig ist, sollen die großen Schiffe aus Amerika ihre Ladung wieder an den Liverpooler Docks löschen, von wo aus sie dann per Zug direkt auf den Kontinent gebracht werden kann; das spart den Amerikanern mehrere Tage.
Viele Liverpooler müssen allerdings immer noch täglich als „scavengers“ (Lumpensammler, Aasgeier) die örtlichen Müllhalden nach Brauchbarem abgrasen. Offenbar ein zäher Menschenschlag, die Leute vom Mersey, denn „alles in allem ist das nach wie vor eine sehr lebendige, unglaublich energiegeladene Stadt“, findet Colin. „Der Wahnsinn, was hier Samstagabends los ist.“
Sonntagnachmittags merkt man nicht mehr allzuviel davon: Das einzig „lebendige“, wenn auch nicht sonderlich „energiegeladene“, was uns begegnet, ist ein Umzug mit verschiedenen Blaskapellen. „Müssen die Blödmänner schon wieder durch die Gegend marschieren!“, flucht Michael, weil er Umwege fahren muß.
„Heule ist .Orange Day‘, vor 300 Jahren hat Wilhelm III. von Oranien den Katholiken den Arsch versohlt, darum latschen hier jedes Jahr die ¿
Protestanten durch die Straßen, um sich wichtig zu machen.“
„An solchen Sachen merkst du die Nähe zu Irland“, fügt Colin hinzu.
Auch unser erstes Ziel ist eine Kirche — und nicht irgendeine, sondern der fünftgrößte Dom der Welt. Die Christus-Kathedrale thront majestätisch auf einer kleinen Anhöhe mitten in Liverpool. „Ich habe früher um die Ecke in einem Aufnahmestudio gearbeitet, manchmal die ganze Nacht durch“, erzählt Colin. “ Wenn ich dann mit meinem Produzenten Dave Dix morgens um halb sechs nach Hause ging, kamen wir immer hier vorbei. Das war ein irrer Anblick: Du kommst um die Ecke, und auf einmal ragt dieser Dom aus den Nebelschwaden. Ein sehr inspirierendes Bild, das sich mir wirklich eingeprägt hat. Die haben da oben zwar riesige Glocken aber auch Lautsprecher und ein Tonband. Meistens schalten sie das ein. und die echten Glocken kommen nur am Geburtstag der Queen zum Einsatz.“
Da Liverpool nicht nur anglikanischer, sondern auch katholischer Bischofssitz ist, konnte die katholische Kirche natürlich nicht hintanstehen und baute ein paar Straßen weiter ein nicht weniger auffälliges Gotteshaus. Und weil die Christus-Kathedrale (mit den größten gotischen Bögen, die je gebaut wurden) auf den Gebieten traditioneller Architektur kaum zu schlagen war, entschieden sich die Katholiken für eine wirklich abenteuerliche Formgebung. Ihr Dom erinnert wahlweise an ein Ufo, ein Atomkraftwerk oder ein riesenhaftes Indianderzelt, was ihm im Volksmund den Namen „Paddy’s Wigwam“ eingetragen hat.
Wir lassen das Steinzelt links liegen und steuern Chinatown an. In keiner europäischen Stadt leben so viele Chinesen wie in Liverpool — und nirgendwo kochen sie so gut wie im „Far East“, behauptet Colin. Er muß es wissen, im Lauf der Jahre hat er fast alle Stäbchen-Lokale ausprobiert, und“.hier schmeckt’s am besten — das siehst du schon allein daran, wie viele Chinesen hier essen“.
Seit es allerdings 1987 mit „Wonderful Life“ karrieremäßig geknallt hat, ißt Colin nur noch selten in Liverpool („ich weiß auch gar nicht mehr, wie meine Wohnung aussieht“). Auf der Speisekarte des „Far East“ kennt er sich allerdings immer noch bestens aus: Es gibt Gemüsesuppe mit warmen Sesam-Speck-Crackers, dann hauchdünne Pfannküchlein, in die gebratenes Huhn, Zwiebel- und Gurkenstreifen gewickelt werden, und als Hauptgerichte Krabben mit Cashew-Nüssen, geschmortes Rind, überbackene Ente und so weiter und so voll. Michael bestellt weißen Burgunder dazu.
Nach einem Verdauungskaffee fährt er uns in die Leece Street zur Blumenhandlung „Elsie Bruce“. Die hat sonntags natürlich geschlossen, trotzdem möchte Colin sie im Rahmen seiner Stadt-Führung nicht auslassen: „Alle Mädchen, denen ich je Blumen geschickt habe, haben sie aus diesem Laden. „
Blumen-Schicken kommt zwar bei der Weiblichkeit immer wieder bombig an, gilt doch aber als etwas altmodisch, oder?
„Najaaa, ich weiß nicht, mir gefällt das einfach. Es hat was … ahm …“
Egal …… jetzt zu meiner Lieblings-Disco! In Liverpool gibt’s nur drei, vier Discos, wo sie dich auch in einfachen Jeans reinlassen.“
Das „Mardi Gras“ befindet sich zwei Straßenecken weiter in einem kleinen, schmuddeligen Gäßchen. Drinnen hängt noch der Dunst von 750 Liverpoolern im Saturday Night Fever, und Besitzer Stuart Davenport weist gerade zwei Jungs in kleinere Reparaturen ein. Er schmeißt den Laden schon seit über 12 Jahren, mindestens sieben davon war Colin Stammgast.
Black ist im „Mardi Gras“ auch schon aufgetreten, aber „das mit den Live-Bands funktioniert heute nicht mehr“, schüttelt Stuart den Kopf. „Die Leute wollen keine unbekannten neuen Bands mehr — da mußt du schon mindestens einen Plattenvertrag in der Tasche haben.“
Heute haben im „Mardi Gras“ sechs bis acht Discjockeys das Sagen, die an verschiedenen Tagen das gesamte Spektrum angesagter Tanz-Musiken bringen: vom Reggae-Abend (einmal im Monat) über Rockabilly-Feten bis zur Acid House-Partv (jeden Freitag).
„Mann, haben wir hier schon gesoffen, „, erinnern sich Colin und Michael, als wir wieder an die frische Luft kommen. „Und dann mußten wir morgens nach Hause laufen! Die Liverpooler Taxis haben s nämlich nicht nötig, nachts zufahren. Der öffentliche Nahverkehr ist so daneben, daß die Taxifahrer schon tagsüber genug verdienen.“ Wenigstens eine Berufsgruppe, die hier noch verdient.
Wir fahren weiter, durch die breite Princes Avenue. Rechts stehen schmucke, beinahe herrschaftliche Ein- und Zweifamilienhäuser. Leer.
„Die werden inzwischen für weniger als 140000 Mark gehandelt“, erklärt Michael. „Dafür kriegst du in Landen nicht mal ’ne Garage.“ Links sind die Straßennahmen in den Rasta-Farben rot-gelb-grün bepinselt: Toxteth, Liverpool 8, hier wohnen die meisten Schwarzen der Stadt.
Am Sefton-Park steigen wir aus. Colin zeigt auf eine Baumgruppe:
„Dahinter liegt meine Wohnung. Und hier im Park bin ich immer gejoggt meistens zweimal drumrum, ungefähr acht Kilometer. Besonders im Winter kam das gut, wenn alles so weiß strahlt, daß du anfängst, blau zu sehen. Mit dem Geräusch der Schritte im Schnee war das richtig hypnotisch.“
Während Michael versucht, per Autotelefon eine Konferenzschaltung mit London (Plattenfirma) und Los Angeles (Video-Regisseur) auf die Beine zu stellen, machen wir einen Spaziergang zum „Crystal Palace“, einem viktorianischen Gewächshaus. Als Kunststudent kam Colin oft hierher, leider darf man das Glashaus seit einem Sturm nicht mehr betreten. Wie alles in Liverpool ein Pleite-Problem: Die nötigen Reparaturen würden zweieinhalb Millionen Mark kosten, und die hat keiner. Ähnliches gilt für ein Vogelgehege: „Da ist mal jemand eingebrochen und hat alles freigelassen — seitdem ist es nicht wieder eingerichtet worden.“
Aul den Wiesen spielen zwischen Elstern und Möwen ein paar Kinder Tennis, ein paar mehr Fußball. Hier und da werden Pilze gesammelt — und zwar nicht etwa Champignons für den Magen, sondern magic mushrooms für den Schädel. Die halluzinogenen Schwammerl wachsen nicht nur in den Tropen, sie wachsen auch auf Liverpooler Rasen: „Eigentlich muß man ganz früh am Morgen kommen, um welche zu finden“, erklärt Colin. „Die Dinger sind eine weitverbreitete Freizeitbeschäftigung, aber jetzt sollen sie natürlich als illegal eingestuft werden“.
Die Feuchtigkeit, die einerseits lustige Pilze sprießen läßt, schadet andererseits Liverpools Drei-Tage-Rockfestival, das jedes Jahr zum Bank Holiday Anfang August mit sechs bis sieben Bands pro Tag im Sefton Park über die Bühne geht. Meist regnet es in Strömen: „Wir haben hier seit ein paar Jahren überhaupt keinen keinen richtigen Sommer mehr“, schüttelt sich Colin. „Das Wetter wird immer einförmiger, im Winter nicht mehr richtig kalt und im Sommer nicht mehr richtig heiß. „
Damit uns wieder warm wird, fahren wir zum Fünf-Uhr-Tee ins Hotel „Adelphi“. Colin macht das schon seit Jahren, denn „erstens gibt’s hier die besten scones“, (ein süßes Mürbe-Gebäck), und zweitens ist das .Adelphi‘ ein wahrhaft beeindruckender Prachtbau aus Liverpools Glanzzeil, als hier noch die Überseedampfer von und nach Amerika vor Anker gingen. Nur die Preise entsprechen dem Liverpool von heute: Für das Geld, das man
hier für ein gehoben luxuriöses Zimmer mit Bad bezahlt, wohnt man in London gerade noch in Notting Hill und allenfalls mit Duschkabine. „
Die Hotel-Lounge hat die Ausmaße einer mittleren Konzerthalle; unter ihrer Decke hängen drei Kronleuchter, von denen ein einziger zwei Dutzend Menschen auf einmal erschlagen könnte. „Die Inneneinrichtung ist von Leuten, die ansonsten Schiffe wie die Titanic ausgestattet haben“, erzählt Michael. „Hier sieht es fast genauso aus wie in der ersten Klasse eines allen Ozeanriesen: Die Leute sollten aus dem Hotel aufs Schiff gehen und denken, sie seien immer noch im Hotel.“
Während wir Butter, Konfitüre und Schlagsahne auf unsere scones häufen, mosern die beiden über das Personal des „Adelphi“: Das sei inzwischen nicht nur reichlich hohl im Kopf, sondern obendrein das blanke Gegenteil von ehrlich, hilfreich und seriös. „Letztes Jahr haben sie unserem TourMnnnoer hi/>r
zwei Tage vor Weihnachten seinen Koffer aus dem Zimmer geklaut, mit allen Tour-Belegen, Kreditkarten und 3000 Mark in bar. Das muß jemand vom Personal gewesen sein, der sich ganz einfach den Schlüssel aus dem Fach genommen hat. Wenn du hier mal aus dem Haus gehst, nimm bloß den Zimmerschlüssel mit.“
Michael spielt „Die Kriminalpolizei rät“: „Undbeim Tanken nie vergessen: Auto abschließen, wenn du an die Kasse gehst! Sonst kommst du zurück, und dein Wagen ist ausgeräumt.“ Ist das wirklich typisch Liverpool?
Colin überlegt einen Moment. „Typisch Liverpool sind die Leute, die hier leben. Das ist eine seitsame Mischung aus englischen, schottischen und irischen Einflüssen, die du sonst nirgendwofindest. Die Liverpooler reden gern, sie sind laut, wirken ein bißchen aggressiv und sehr energisch. Sie haben auch eine eigene Sprache, hier entwickeln sich ungeheuer viele neue Slang-Ausdrücke: Fünf Pfund sind zum Beispiel ein ,Harolct, das kommt von Harold Melvin & the Blue Notes. Ein .Henry‘ ist eine Maßeinheit für Dope, eine Achtel-Unze, wegen Heinrich VIII. usw.
Außerdem sind in Liverpool immer merkwürdige Moden erfunden worden: zu lange Jeans, Haare über ein Auge wachsen lassen oder halbierte Woll-Fußballmützen von verschiedenen Vereinen, die in unterschiedlichen Kombinationen getragen wurden, zum Beispiel halb Juventus, halb Liverpool … verrückt“