Aus der Musikexpress-Ausgabe Oktober 1998: Depeche Mode – Clean statt kaputt
Die meisten Mitbewerber sind längst in der Versenkung verschwunden. Dave Gahan, Andy Fletcher und Martin Gore dagegen sind als Depeche Mode modischer denn je.
DIE MUSIK DER STRASSE. SIE KLINGT IMMER GLEICH. Auch wenn das Zusammenspiel der Instrumente vom Zufall dirigiert wird, die Einsätze sich ständig verschieben, die Solisten permanent wechseln: grelle Autohupen, das Stakkato von Polizeisirenen, Lärm aus heißgelaufenen Motoren, ein Gewirr aus den unterschiedlichsten Sprachen – das ist die Musik der Straße. New York City, 52. Straße West, Hochsommer. Die Mittagssonne heizt die Häuserschluchten auf, das Gemisch aus schwüler Luft und Abgasen steht wie eine unsichtbare Wand. Über 30 Grad zeigt das Thermometer an der Tür von „Brown’s Delicatessen“. Ein paar Häuserblocks weiter liegen die SIR-Studios. Dort bittet Depeche Mode-Sänger Dave Gahan um 12 Uhr zur Audienz.
Fünf Minuten vor 12. Im Vorraum des Studios künden handsignierte Poster an den Wänden von zufriedener Kundschaft: Madonna hat hier aufgenommen, Jerry Lewis und Eric Clapton. In einer Ecke steht ein drahtiger, schwarzgekleideter Mann. Er ist sehr damit beschäftigt, wichtige Dinge in sein Handy zu sprechen. Als er damit fertig ist, bemerkt er den Besucher. „Du mußt der Journalist aus Deutschland sein“, stellt er fest, schüttelt die Hand des Journalisten aus Deutschland und sagt „Hi, ich bin Jonathan, Daves Manager. Dave ist noch nicht da, aber er muß gleich kommen.“ Jonathan Kessler, ein Mann jenseits der 40, über 1,85 Meter groß, mit mittelblonden, leichtgewellten Haaren und Schnauzbart. Sein Lächeln bleibt angedeutet, seine Herzlichkeit exakt dosiert – so freundlich wie nötig, so unfreundlich wie möglich. Kessler ist eben Profi, genau der Typ Geschäftsmann, dem mißtrauische Zeitgenossen nicht unbedingt einen Gebrauchtwagen abkaufen würden. Aber Jonathan Kessler verkauft ja Gott sei Dank keine Gebrauchtwagen, er verkauft Dave Gahan. Und das mit Erfolg.
Kesslers Klient hat sich verspätet. Aber wie es sich für einen Gentleman aus Großbritannien gehört, liegt die Verspätung im Toleranzbereich. Fünf Minuten nach 12 hastet Gahan herein, eine schwarze Aktenmappe unter dem Arm, grüne Jeans, schwarzes enges T-Shirt, Pilotenbrille auf der Nase, kurzer Blick nach links, kurzer Blick nach rechts, kurze Begrüßung. Er legt die Mappe ab, verschwindet in einem Zimmer und ruft aus dem Off: „Magst du einen Kaffee?“ Ein paar Sekunden später kommt er zurück mit zwei Bechern dampfenden amerikanischen Kaffees und führt uns in eines der Aufnahmestudios. „Hier haben wir Ruhe“.
Gahan sieht kerngesund aus – die Drogeneskapaden, die ihn vor zwei Jahren beinahe ins Grab gebracht hätten, haben zumindest äußerlich keine Spuren hinterlassen, dem Gesicht des Depeche Mode-Sängers sind die 36 Lebensjahre nicht anzusehen. Aber im Moment fühlt Dave sich gar nicht wohl. Er fröstelt, denn die Temperatur im Studio liegt dank Air-Conditioning nahe dem Gefrierpunkt. Gahan schraubt am Schalter der Klimaanlage herum und brummelt, „daß die Amerikaner die Temperatur immer so saukalt einstellen müssen“, nimmt Platz auf einem schwarzen Ledersofa und steckt sich die erste von vielen Camel Filter mit seinem silbernen Zippo-Feuerzeug an. Würde der Engländer Gahan noch in England leben, brauchte er sich jetzt nicht über die niedrigen Temperaturen in amerikanischen Räumen zu beklagen. Aber es gibt ja dieses ungeschriebene Gesetz, das britische Musiker und Schauspieler dazu zwingt, zumindest einen Teil ihres glamourösen Lebens in den USA zu verbringen. Ein Gesetz, das auch Gahan befolgte, als er vor ein paar Jahren von England nach Los Angeles zog und schließlich in New York landete. Warum ist er nicht in London geblieben? Gahan nimmt einen Zug seiner Zigarette und sagt dann mit einer Stimme, so tief wie der Grand Canyon: „Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie richtig wohl gefühlt in London. Ich weiß nicht genau, warum. Von Zeit zu Zeit bin ich gerne da. Aber ich mag New York einfach lieber, ich mag mein Appartement hier, gehe ins Fitnessstudio und teile meine Tage richtig schön ein. Das klingt alles sehr normal, aber das ist genau das Leben, das ich führen möchte. Der einzige Grund, weshalb ich wieder nach England zurückzukehren würde, ist mein zehnjähriger Sohn, der dort mit seiner Mutter lebt.“
DAVE GAHANS UMZUG NACH NEW YORK HAT NATÜRLICH AUCH MIT seiner Drogenkarriere zu tun. Jede Straßenecke in Hollywood erinnert den Ex-Junkie an seine Vergangenheit – da vorne rechts um die Ecke gibt es guten Stoff; wohnt da drüben nicht der Typ, mit dem ich neulich die 14tägige Party gefeiert habe? New York ist für den Depeche Mode-Sänger gleichermaßen Therapie und Selbstschutz. „Die Leute sagen immer, man kann nicht vor sich selber weglaufen, indem man woanders hinzieht, aber in meinem Fall hat das geklappt.“ Gahan sagt er habe hier viele Freunde gefunden – die meisten in einer Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige, die er immer noch regelmäßig besucht. „Ich gehe nicht mehr mit Leuten aus, die Drogen nehmen. Erst gestern abend war ich mit meinen Kumpels zum Essen in einem Restaurant im West Village. Das mußt du dir vorstellen: Da saßen 15 Leute, wir haben gequatscht, gelacht, und es stand kein einziges alkoholisches Getränk auf dem Tisch. New York ist gut für mich, verdammt sogar. Ich mag diese Stadt. Ihre Energie ist sehr aufregend, du wirst gezwungen, ein Teil von New York zu sein. Los Angeles ist das krasse Gegenteil. Dort zu leben bedeutet, sich vom Leben zurückzuziehen. LA ist für mich gleichbedeutend mit dem Ende eines Lebensabschnitts, mit meiner Drogenzeit. Damit möchte ich heute nichts mehr zu tun haben. Ich habe einen neuen Anfang gemacht.“ Dave und die Drogen. Ein Kapitel, das endgültig abgeschlossen zu sein scheint. Ob er darüber reden will? Die Antwort kommt spontan. „Nein, eigentlich nicht. Das war mal ein verdammt großer Teil meines Lebens. Aber mittlerweile ist das Vergangenheit für mich“, sagt er, um in der folgenden halben Stunde über nichts anderes zu reden als über – Drogen. Die sieben drogengeschwängerten Jahre in L.A. hat Gahan als „eine einzige, gigantische Party“ in Erinnerung. Heute redet er fast emotionslos über seine Vergangenheit. Daß er dabei dem Fragesteller nicht lange in die Augen sehen kann, liegt nicht unbedingt am Thema, sondern wohl eher an der Schüchternheit des Sängers. Ja, Dave Gahan, der Typ mit den vielen Tattoos auf dem Oberkörper, der wilde Mann aus den Videos, ist ein schüchterner Junge. Was ist los, Dave? „Weißt du“, sagt er, und steckt sich die nächste Camel an, „das ist eine Art Versteckspiel. Ich habe mich hinter einer Fassade versteckt, die ich selber aufgebaut habe. Das hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Und je mehr du dich versteckst, desto mehr verlierst du den Kontakt zu deinem wahren Selbst. Ich habe dieses Spiel eine Zeitlang mitgemacht, um mich zu schützen. Das Problem dabei ist nur, wenn das ein paar Jahre lang so geht, wird es sehr schwer, dich selber wieder zu finden. Als ich mir zum Beispiel die Tattoos habe machen lassen, habe ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Heute denke ich mehr über die Folgen meines Handelns nach.“ Nicht nur diese Erkennntnis hat Gahan durch die Drogen – oder besser durch das Loskommen davon – gewonnen. „Die Erfahrung, die ich gemacht habe, hat mich viel offener für jede Art der Veränderung in meinem Leben werden lassen. Früher hatte ich regelrecht Angst vor Veränderungen“, sagt er, hält kurz inne, um das Zippo erneut klicken zu lassen und fährt fort, „wenn ich die ganze Scheiße nicht durchgemacht hätte, dann würde ich heute wahrscheinlich nicht hier sitzen und könnte nicht dankbar für mein Leben sein. Das Gefühl von Dankbarkeit habe ich vorher niemals verspürt. Ich war unersättlich, ich konnte nicht genug kriegen – von allem. Fletch (Bandkollege Andy Fletcher – Anm. d. Red) hat mal in einem Interview gesagt, alles was Dave noch geblieben ist, ist die Band. Aber nicht mal die Band war damals wichtig für mich. Wenn ich mit Depeche Mode unterwegs war, dann war das gleichzeitig die ideale Gelegenheit für mich, an Drogen zu kommen. Irgendwann habe ich aber erkannt, daß die Drogen ein einziger großer Selbstbetrug sind. Ich habe erkannt, daß das Leben sehr kostbar ist – auch wenn das jetzt wie ein Klischee klingt. Mein Leben wird immer besser, weil ich mittlerweile die einfachsten Dinge zu schätzen gelernt habe. Das ist die wichtigste Lektion, die ich gelernt habe: egal ob deine Gefühle gut sind oder schlecht, ob du wütend bist traurig oder glücklich – wie du dich auch fühlst, es ist gut so.“
Und im Moment fühlt Gahan sich sehr gut. So gut sogar, daß er nach vier Jahren erstmals wieder mit Depeche Mode auf große Tour geht. Aufgeregt vor dem großen Auftritt? „Oh Mann, ich werde sehr nervös, wenn ich an die Tour denke In den letzten Tagen, als ich hier im Studio geprobt habe, sind all die Erinnerungen zurückgekommen. Ich habe beim Singen manchmal eine Gänsehaut bekommen. Bei bestimmten Songs wie ‚Condemnation‘, ‚In Your Room‘ oder ‚Never Let Me Down‘ sehe ich das Publikum vor meinem geistigen Auge“ Auf der Tour wird Gahan dann zwangsläufig mit vielen Rock ’n‘ Roll-Menschen zusammenkommen. Und Rock ’n‘ Roll-Menschen sind bekannt dafür, der reichen Auswahl an illegalen Substanzen gegenüber nicht unbedingt abgeneigt zu sein. Wird Gahan der Versuchung widerstehen können? „Das ist keine Gefahr für mich, solange ich auf mich aufpasse. Und ich werde sehr gut auf mich aufpassen“, tönt Gahan selbstbewußt, um die Aussage einen Moment später gleich wieder zu relativieren. „Um ehrlich zu sein: ich nehme einen Freund aus LA. mit, der schon viel länger clean ist als ich. Er soll auf mich aufpassen. Wir werden jeden Tag gemeinsam verbringen und das tun, was wir tun wollen. Es gibt ein paar Leute in der Crew, die keinen Alkohol trinken und keine Drogen nehmen, mit denen werde ich abhängen. Ich allein bin Herr über meine Taten. Außerdem wird mein Manager schon dafür sorgen, daß sich die richtigen Leute in meiner Umgebung aufhalten. Ich möchte keine Drogen-User sehen. Sie sollen machen, was sie wollen, aber bitte nicht in meiner Nähe“
Dave Gahan redet viel und gerne. Man kann mit ihm über Drogen und persönliche Dramen sprechen, über Fans und Familie, über Gott und die Welt, nur bei einem Thema gerät seine Eloquenz ins Stocken: Musik. Inwieweit sind Depeche Mode von Kraftwerk beeinflußt?
„Äh, ich würde nicht sagen, daß sie großen Einfluß auf mich hatten. Als ich aufgewachsen bin, habe ich Slade und T. Rex gehört, später dann The Clash und The Damned.“
Was ist dein liebster Depeche Mode-Remix?
„Da gibt’s einen von ‚Barrel Of A Gun’…ah, ich komme gerade nicht auf den Namen des Remixers. Aber ich mag den Remix, den Barry Adamson von ‚Home‘ gemacht hat.“
Hast du Lust, alle Depeche Mode-Alben mit je einem Satz zu kommentieren?
„Ach, nein, das will ich nicht tun“, quengelt er, „da müßtest du schon Martin fragen.“
Martin Gore ist der Hauptsongschreiber und musikalische Kopf von Depeche Mode. Es scheint so, als wäre Gahan ohne ihn ziemlich verloren, musikalisch gesehen. Doch Dave winkt ab.
„Darüber denke ich nicht nach. Vielleicht würde ich ohne Martin ja eine Solokarriere starten. Ich habe hier in New York schon mit anderen Musikern zusammengearbeitet. Und wenn ich mich mal hinsetze, bin ich auch in der Lage, ein paar Songs zu schreiben. Einige davon gefallen auch Martin wirklich gut wir haben sie nur noch nicht aufgenommen.“
Und umgekehrt? Was würde Martin ohne Dave tun.
„Oh, er wäre total aufgeschmissen“, antwortet Gahan wie aus der Pistole geschossen und lacht dabei lauthals.
Zum erstenmal ein Lachen, nach 45 Minuten. Alarmiert durch die ungewöhnlichen Laute seines Schützlings kommt Jonathan Kessler zur Tür herein und signalisiert: „Noch zehn Minuten.“ Und Dave redet weiter wie ein Wasserfall.
„Ich labere und labere und labere, obwohl ich mich unwohl dabei fühle, über mich selbst zu reden.“
Noch vor Ablauf der zehn Minuten kommt Kessler zurück, bricht das Interview ab und fragt Gahan: „Na Dave, werdet ihr jetzt ganz groß in Germany?“
Gahan antwortet nicht. Er weiß, daß Depeche Mode nicht mehr größer werden können. Auch nicht in Germany.