Aus der Musikexpress-Ausgabe März 1988: New Order – Die letzten Idealisten
Sie sind die letzte namhafte Band, die das Independent-Fähnchen noch tapfer hochhält. "Wir haben", so Bassist Peter Hook, "keine Verträge, keine reguläre Plattenfirma. Wir tun, was wir wollen." ME/Sounds-Mitarbeiterin Sylvie Simmons traf die aufrechten Vier in ihrer Heimat Manchester.
Man hat sie schon als brillant bezeichnet und als stümperhaft, als elitäre Träumer und als kommerzielle Disco-Kacker, man nennt sie die letzte Bastion der Independent-Bands oder gar die Retter des Abendlandes („Sounds“: „Sie machen uns wieder stolz, Engländer zu sein.“). Was kommt denn nun der Wahrheit am nächsten?
Bassist Peter Hook zündet sich eine Zigarette an, lauscht den Zugdurchsagen und überlegt. Wir sitzen im „Little Chef“-Restaurant des Manchester Bahnhofs, die Kellnerin bringt ihm eine Tasse Tee und ein Glas Erdbeer Milchshake.
„Es kommt darauf an“, meint er schließlich und streicht sich über den Stoppelbart. Hook wirkt eher wie ein Tankwart als jemand, der sich in seinem Zimmer vergräbt, um mit Ideen und Formulierungen zu ringen. „Ich glaube nicht, daß New Order hochnäsige Intellektuelle sind, aber es ist trotzdem schwer mit uns umzugehen. Der Grund dafür ist, daß wir eine der echten Independent-Bands sind. Und allein aufgrund dieser Tatsache bist du ziemlich unberechenbar; du kannst im Grunde machen, was du willst. Wir haben keine reguläre Plattenfirma und keine Verträge, keiner kann uns sagen, was wir zu tun oder zu lassen haben.“
Ende 1980 entwuchs aus der Larve der Gruppe Joy Division die Band New Order. Im Frühjahr desselben Jahres hatte sich Sänger Ian Curtis das Leben genommen (kurz nachdem er ein Album veröffentlicht hatte, das ein Kritiker als „die perfekte Begleitmusik, um sich die Pulsadern aufzuschlitzen“ beschrieb); es war einen Tag vor ihrer Amerika-Tournee.
Der Rest der Band (Hook, Stephen Morris und Bernard „Barney“ Albrecht – oder Sumner, er hat mehrere Namen) entschied sich dafür, Morris‘ Freundin Gillian Gilbert in die Band zu holen und mit neuem Namen weiterzumachen.
Erstaunlicherweise gibt es für Hook zwischen Joy Division und New Order keinen gravierenden Unterschied. Es gab, meint er, weder einen endgültigen Schlußstrich noch einen wirklichen Neuanfang. „Wir haben einfach weitergemacht.“
Trotzdem hat man den Eindruck, als erinnere er sich an seine Zeit mit der ersten Inkarnation der Band am liebsten. „Als wir noch Joy Division waren, konnte ich unsere Platten einfach nicht hören; erst jetzt kann ich sie aus der Distanz beurteilen. Und ich finde, daß Closer eine der besten LPs ist, die ich je in meinem Leben gehört habe – neben Berlin von Lou Reed.
Ich wußte damals schon, daß Joy Division eine wirklich gute Band war, eine weitaus bessere Live-Band als New Order. Das liegt daran, daß die Musik viel einfacher war und sich Ian als Sänger total von Barney unterscheidet. Joy Division hatte ungeheuer viel Selbstvertrauen; im Vergleich dazu waren New Order immer ein bißchen zerbrechlicher, unentschlossener. Eine interessante Entwicklung…
Aber das hat wahrscheinlich auch mit unserem Alter zu tun; damals waren wir noch so jung. Wir sind einfach rausgegangen und haben gespielt. Du hattest das Gefühl, einfach zu allem fähig zu sein. Heute ist es nicht mehr so aufregend wie früher. In Joy Division hast du nur für deinen nächsten Auftritt gelebt. Es war immer Alles oder Nichts, ans Plattenaufnehmen war gar nicht zu denken. Wir haben unsere erste Platte gemacht, als wir schon zweieinhalb Jahre aufgetreten waren. Eine tolle Zeit. Jetzt denkst du: ‚Oh, bitte nicht schon wieder ein Auftritt…'“
Joy Division entstand auf dem Höhepunkt der Punk-Ära. Nachdem sie die Sex Pistols bei einem Konzert in Manchester gesehen hatte, kauften
sie sich Gitarren und fingen an Musik zu machen. „Wir haben die Pistols gehört und fanden sie verdammt beschissen. Wir dachten: ‚Fuck it, das kann doch jeder‘ und das haben wir dann auch gemacht. So einfach war das! Barney hatte zu seinem 20. Geburtstag eine Gitarre bekommen, ich einen Baß, dann sind wir in ein Musikgeschäft gegangen und haben uns das ‚Palmer Hughes Book Of Rock’n’Roll Guitar‘ gekauft. Da waren solche Aufkleber drin, die man auf den Gitarrenhals klebt, damit man sieht wo welche Note ist und wo man mit dem Finger hin muß. Die Gitarre, die der Anfang von Joy Division war, habe ich heute noch.
Ian Curtis war es, der uns eine musikalische Perspektive gab. Ich und Barney hatten immer nur Gruppen wie Led Zeppelin und Deep Purple gehört. Es gab für uns nie eine Alternative, bis Ian kam und sagte: ‚Das hier solltet ihr hören, The Doors, Lou Reed, Velvet Underground, Iggy Pop, MCS.'“
Die Veränderung von den frühen Joy Division zur momentanen Gruppe sei so graduell gewesen, daß er keine echten Unterschiede feststellen könne, außer „daß es heute viel länger dauert, Songs zu schreiben: vielleicht weil wir jetzt mit so vielen anderen Dingen beschäftigt sind.“ Dinge wie der gutgehende Club „Hacienda“, den sie in Manchester eröffnet haben, eine „American Bar“, die sie in Kürze eröffnen wollen, Hooks Tonstudio, die geschäftlichen Angelegenheiten der Band, das Schreiben einer Titelmelodie zu einer britischen Fernsehsendung und – im Falle von Bernard und Peter – die Arbeit an ihren Solo-LPs. Gerüchte über eine Trennung von New Order seien „als Witz“ von Freund und Manager Rob Gretton in die Welt gesetzt worden, erklärt Hook. Die Zukunft der Band „wird so aussehen, wie sie bis jetzt immer ausgesehen hat.“
Bernard hat einmal gesagt: „Wir sind mehr Idealisten als Musiker.“ Peter Hook lacht. „Er hat genauso viel Scheiße im Kopf wie ich! Das ist bestimmt nicht das richtige Geschäft für einen Idealisten, leider. „Wir sind sicher realistischer als die meisten anderen Bands. Manchmal denke ich: Wenn sich New Order noch mehr in diese Richtung entwickeln sollten, dann hätte ich überhaupt keine Beziehung mehr zu dem Ganzen.“
Ist es nicht ziemlich lästig, immer als „alternative“ Querköpfe bezeichnet zu werden, frage ich ihn, als mein Zug einläuft. „Nein,“ sagt Hook. „Wir sind nun mal so.“