Aus der Musikexpress-Ausgabe April 1977: The Beatles: Live at the „Hollywood Bowl“
Zwölf Jahre lang schmorten die Tonbänder in den Stahlschränken des Plattenkonzerns EMI. Erst jetzt wurden sie endlich ans Tageslicht geholt: Aufnahmen, die am 23. August 1964 bei einem Konzert der Beatles in der "Hollywood Bowl" in Amerika mitgeschnitten wurden. Nicht von irgendwelchen Amateuren heimlich mit dem Tonbandgerät unter der Jacke, sondern ganz offiziell von Spezialisten der Plattenfirma, unter der Leitung des langjährigen Beatles-Produzenten George Martin. Noch in diesem Jahr, und höchstwahrscheinlich sogar schon im Mai oder Juni, will die EMI das Beatles-Konzert als Platte auf den Markt bringen. Und schon jetzt steht fest, daß diese allererste Live-LP der Beatles eines der erfolgreichsten Alben aller Zeiten wird.
1964 war das Jahr, in dem die Beatles Amerika im Handstreich eroberten. Im Februar tourten sie zum ersten Mal durch die USA; eine der Folgen war ein Hitparaden-Triumph, wie es ihn seitdem nie wieder gegeben hat: In der letzten Märzwoche belegten die Beatles in der amerikanischen Singles-Bestsellerliste die ersten fünf Plätze. Weitere Titel der Band standen obendrein noch auf den Positionen 16, 44, 49, 69, 78, 84 und 88.
Raubpressungen
Im August und September 1964 kamen Paul McCartney, John Lennon, George Harrison und Ringo Starr erneut in die USA, diesmal für eine fünfwöchige Tournee. Die Begeisterung, die ihnen entgegenschlug, sprengte alle Grenzen. Die Fans rissen sich zum Beispiel um winzige, ein Quadratzentimeter grosse Handtuchfetzen, die ein bauernschlauer Geschäftsmann als Souvenirs anbot. Der Händler versicherte, daß sich die Beatles mit dem – später zerstückelten -Handtuch unmittelbar nach ihrem Auftritt in der „Hollywood Bowl“ die Gesichter getrocknet hätten.
Der Andrang auf solche Scherzartikel zeigt, wie ausgeflippt damals die Umgebung war, in der sich die Beatles bewegten. 1964 inspirierte sie diese Atmosphäre allerdings noch – Beatles-Kenner versichern, daß die „Fab Four“, wie sie seinerzeit genannt wurden, in jenem Jahr in der „Hollywood Bowl“ viel elektrisierender und frischer rockten als 1965, als sie erneut in dieser Halle auftraten. Produzent George Martin schnitt beide Hollywood-Konzerte mit; das bessere – also das von 1964 wurde nunmehr ausgewählt für die erste Beatles-Live-LP.
Noch steht nicht fest, ob im Frühsommer 1977 eine einfache Langspielplatte oder ein Doppelalbum erscheint. Doch egal, in welcher Form der LP-Knüller des Jahres in die Läden rollt – aus seinen Rillen tönen wird auf jeden Fall der überwiegende Teil der folgenden zwölf Titel: „Twist And Shout“, „You Can’t Do That“, „All My Loving“, „She Loves You“, „Things We Said Today“, „Roll Over Beethoven“, „Can’t Buy Me Love“, „If I Fell“, „I Want To Hold Your Hand“, „Boys“, „A Hard Days Night“ und „Long Tall Sally“. Die aufgeführten zwölf Beatles-Songs sind enthalten auf einer Raubpressung, die ebenfalls am 23. August 1964 in der „Hollywood Bowl“ aufgenommen wurde. Die illegal veröffentlichte Piratenplatte wird schon seit langer Zeit heimlich über dunkle Kanäle verscherbelt. Das Geschäft mit solchen Raubpressungen – im angloamerikanischen Sprachraum „Bootlegs“ genannt – blüht vor allem in den USA und wird hier längst von gewaltigen, straff organisierten Gangster-Konzernen betrieben, die riesige Gewinne einstreichen, weil sie natürlich Texter, Komponisten und Interpreten nicht bezahlen und sie so um die Früchte ihrer Arbeit bringen. Von den Beatles sind rund 50 verschiedene Bootlegs in Umlauf: unveröffentlichte Studioaufnahmen aus der Zeit, in der das Album „Let It Be“ entstand, Mitschnitte von Fernseh-Shows, vor allem aber technisch meist völlig mangelhafte Konzertaufnahmen.
Die erfolgreichste Raubpressung aller Zeiten ist vermutlich die Beatles-Scheibe „Live At Shea“. Nachdem in den USA die Polizei Mitarbeiter einer Bootleg-Firma geschnappt und Lagerbestände dieser illegalen Beatles-Platte entdeckt hatte, schätzten Branchenfachleute aufgrund der Aussagen der Verhafteten, daß im Verlauf einiger Jahre rund 18 bis 20 Millionen Exemplare von „Live At Shea“ verkauft wurden! Zum Vergleich: die erfolgreichste legale Platte, der Soundtrack des Musicals „Sound Of Music“, wurde bislang in 19 Millionen Exemplaren an den Mann gebracht. An zweiter Stelle liegt das Rockalbuni „Tapestry“ von Carole King mit einer Auflage von knapp 14 Millionen Exemplaren.
Konzerte im Archiv
Die Absatzchancen für legale, von der offiziellen Plattenfirma herausgebrachte Live-LP’s der Beatles sind also gewaltig. Sie werden zwar nicht so wenig Geld kosten wie die Bootlegs, die es in den USA im Schnitt für 1,50 Dollar (rund 4,50 DM) pro Stück gibt. Sie haben stattdessen aber eine weitaus bessere Qualität als die in der Regel mit einfachen Tonbändern von ungünstigen Standorten aus aufgezeichneten Raubpressungen. Der Plattenkonzern EMI, der alle regulären Studio-LP’s der Beatles veröffentlichte, hat noch einen ganzen Stapel Bänder auf Lager: Unter Leitung von George Martin mitgeschnitten (und übrigens auch gefilmt) wurden unter anderem noch das Beatles-Konzert in der New Yorker Carnegie Hall am 7. Februar 1964 und gleichfalls der berühmte Auftritt vor 60.000 Menschen im New Yorker Shea-Stadion am 15. September 1965.
Die Zeit drängt
Die Beatles setzten in den sechziger Jahren beinahe mit jedem Studioalbum einen Meilenstein. Ihre musikalische Entwicklung verlief in Riesenschritten; Live-Platten hätten damals den kreativen Boom vermutlich unterbrochen und wurden deshalb wohl auch nicht veröffentlicht. Ende der sechziger Jahre jedoch, als die Beatles auseinanderfielen, stieg bei der EMI der Marktwert der Konzertmitschnitte aus der goldenen Zeit der Beatlemania. Und spätestens 1973, als mit der Veröffentlichung der Sampler „Beatles 1962 – 1966“ und „Beatles 1967 – 1970“ die Beatles-Revival-Welle anlief, war die Zeit endgültig reif für ein Live-Album. Wenig später saß auch schon George Harrison im Studio, um die Aufnahmen des Konzertes im Shea-Stadion zu überarbeiten. Die geplante Veröffentlichung wurde dann jedoch wieder zurückgestellt. „Als wir 1976 den Sampler „Rock ’n‘ Roll Music“ rausbrachten“, erklärte jetzt ein Sprecher der EMI, „stand in der Firma allerdings fest, daß als nächste Beatles-Platte tatsächlich ein Live-Konzert erscheinen würde.“
Nun ist es soweit. Ausgewählt wurde nicht der Auftritt im Shea-Stadion, sondern der in der Hollywood Bowl. Gerüchte besagen, daß diesmal George Martin zusammen mit Paul McCartney und John Lennon die Tonbänder plattenreif gemischt hat. Für den EMI-Konzern jedenfalls drängt die Zeit. Es sind nicht nur die Bootlegs, die ihm den Markt streitig machen. Denn nach wie vor gibt es Hinweise, daß eine kleine, unabhängige Plattenfirma bei Privatleuten Tonbänder eingekauft hat, in deren Magnetschicht Songs ruhen, die George, John, Paul und Ringo zu Beginn ihrer Karriere live im Hamburger Star Club spielten.