Aus der ME.Bibliothek: OK COMPUTER von Radiohead
Poprezeption im Wandel: Die ME-Besprechungen des Meisterwerks im Laufe der Jahre.
Aus unserer ME.Bibliothek / Band 6 mit 100 Meisterwerken aus über 40 Jahren findet Ihr hier die Original-ME-Besprechungen zu Radioheads Meisterstück OK COMPUTER.
ME 7/1997
Können die fünf Pop-Lärmer aus Oxford ihr Klasse-Album von ’95 überbieten? Oder versinken sie sang- und klanglos im Drogenstrudel ihres Frontmannes Thom Yorke? Die Antwort: Beides ist richtig und doch ganz anders. OK COMPUTER ist die Fortsetzung von THE BENDS unter dem Einfluss von Flokati und Räucherstäbchen. Nach wie vor beherrscht Sänger Yorke die Klaviatur der intensiven Gefühle. Nach wie vor präsentiert die Band intensive Balladen, die ihresgleichen suchen. Nach wie vor bewegen sich Radiohead des Öfteren an der Grenze zum Kitsch. Neu ist die Hinwendung zu Gestaden längst überholter drogenumnebelter 70er-Jahre-Psychedelismen. Bisweilen klingen Radiohead wie die Schnittmenge aus abgespeckten frühen Yes, modern produzierten Pink Floyd und aufgepeppten frühen U2.
Positives Beispiel: die erste Auskopplung „Paranoid Android“, eine wunderbar verschrobene Drop-Out-Hippie-Hymne, in der Yorke seine Extraklasse unter Beweis stellt. Negatives Beispiel: „Let Down“, in dem er Bono-Pathos und Tim-Booth-Larmoyanz zu einem hohlen, schnulzigen Langweiler klont. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Rest des Albums. Somit ist OK COMPUTER zunächst gewöhnungsbedürftig. Dann aber setzt die Langzeitwirkung ein – und die Ahnung, dass Radiohead noch mal ganz groß werden können. **** Stefan Bossle
ME 3/2005
Der Rock ist mit OK COMPUTER ganz sicher zu weit gegangen, doch das Experiment ist gelungen. Ja, dies hier ist im folgerichtigen Sinn eine „progressive“ Platte. Und ein mit Maß und Ziel brechendes Ungetüm wie „Paranoid Android“ muss rein formal wohl als „Rockoper“ gelten. Zum formalen Davonlaufen. Doch während progklotzende Brillierfinger der Siebziger dieses Format mit filigran aufbereiteter heißer Luft füllten, bleibt „Paranoid Android“ in seinem raffinierten Folkarrangement zu Beginn, in seiner wütenden Entgleisung in der Mitte und im finalen Choral doch immer ganz nahe bei sich. Es bleibt der Song, der zählt (oder in diesem Fall: eben drei davon in einem). Das gilt für das gesamte Album: Auch wenn sich Sounds, Effekte, Arrangements in cineastischer Wucht und Detailstreuung auf den Hörer stürzen, so wirkt doch jede Zutat zuvorderst in der Intensivierung dieser getragenen, tragischen Lieder.
Im Kern sind sie gar nicht kompliziert, wie Thom Yorke immer wieder in Interviews milde lächelnd erläuterte. Dass er überhaupt lächeln kann, musste einem nach Genuss dieses Brockens von einer Platte dennoch wie ein kleines Wunder vorkommen: Das Leid ist groß auf OK COMPUTER, Yorke lamentiert unentwegt, und nur selten gestattet er sich und uns einen Ausbruch im Zorn oder einen Moment unbefleckter Schönheit. Doch seine nie um Vollständigkeit und Statement bemühte, sondern sich in der assoziativen, oft kühlen Beschreibung von Hilflosigkeit, Paranoia und Wahnsinn fürwahr erschöpfende Songlyrik birgt auch zynischen Biss in sich. Der Schmerz ist echt. Ja, in unserer Welt gibt es böse Geister. Jedoch keine Elfen und keine Zauberer. Und trotzdem Hoffnung: „Wake from your sleep/ the drying of your tears/ today we escape/ we escape.“ Oliver Götz
ME 10/2009
Genie, Wahnsinn und der Vorschlaghammer der Schwermut schmiedeten diesen Brocken. Nun liegt er wie ein von Gletschermassen mitgeschleifter Findling tonnenschwer am Wegesrand des Rock. An ihm muss vorbei, zu ihm muss sich irgendwie verhalten, wer heute Rockmusik von Relevanz machen möchte. OK COMPUTER, das ist eine der ganz wenigen Platten, die mit musikalischen Mitteln eine gültige Aussage über den Zustand des Menschlichen in der Moderne treff en will. Und auf ihre einzigartige Weise auch trifft, mit jedem Ton, selbst dem einer monotonen Computerstimme: „Fitter, happier, more productive … like a pig in a cage on antibiotics.“ Weshalb auch hier der Vergleich mit Pink Floyds DARK SIDE OF THE MOON ausnahmsweise mal nicht allzu weit hergeholt ist. Hier wie dort wird im Rahmen des Rock nach der „conditio humana“ geforscht, und hier wie dort findet der Rock über diese Aufgabe zu einer Sprache, die er zuvor noch nicht kannte.
Wofür nicht nur Sänger und Texter Thom Yorke mit seiner beinahe schon euphorisch larmoyanten Stimme, sondern vor allem auch Jonny Greenwood mit seiner wie besessenen Gitarrenarbeit verantwortlich ist. Und seinen vielfältigen und nie zuvor gehörten, sorgsam am Computer dekonstruierten Störgeräuschen, die mit sparsamen Mitteln jedem einzelnen Song auf diesem Album eine seltsam unwirkliche Aura schenken. Allein „Paranoid Android“, dieses überlange Spiegelkabinett aus drei verschiedenen Songskizzen, hat manchen alten Progrocker aufhorchen und viele überhaupt erst zu solchen werden lassen.
Ein Beispiel für Dynamik und dafür, was möglich ist, wenn man sich von bewährten Strukturen trennt. Und was man darf, wenn man bewiesen hat, dass man die Möglichkeiten innerhalb dieser Strukturen vollkommen auszuschöpfen versteht – siehe und höre „Karma Police“. Dabei ist dies alles andere als ein Konsensalbum. Zu „weinerlich“ und zu „pathetisch“ war dieses Werk in den Ohren solcher Kritiker, die Radiohead nur allzu gerne mit U2 verwechselten. Wobei Musik, zu der man sich dermaßen trefflich aufs Bett werfen und mies fühlen darf, so schlecht nicht sein kann. Wie ernst es der Band mit diesem monolithisch-melancholischen Ausdruck tiefster Verzweiflung angesichts der entmenschlichenden Zwänge unserer Zeit war, zeigt, dass sie sich diesen Zwängen nicht unterworfen und die einmal gefundene Formel nie wieder verwendet haben. Arno Frank
ME 5/2009
OK COMPUTER sollte für die Neunziger das werden, was SGT. PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND für die Sechziger, was DARK SIDE OF THE MOON für die Siebziger war: ein makelloser Meilenstein der Rock-Historie, ein auf allen Bestenlisten weit vorne geführtes Opus magnum, das mit einer völlig neuen Klangästhetik, mit hochkomplexen und doch auf Anhieb wunderbar eingängigen Songs, einer fast schon manischen Detailverliebtheit und einem nie versiegenden Strom von Ideen aufwartete, aus dem minderbegabte Künstler drei komplette Karrieren hätten zimmern können.
Und wie faszinierend klingt das alles heute noch: das erhabene Tosen von „Paranoid Android“, die psychedelische, an die Beatles, ca. REVOLVER, gemahnende Grandezza von „Karma Police“, die fragile Anmut von „Exit Music (For A Film)“, das hymnische „Let Down“, das frei schwebende, nur von verhallten Beats geerdete „Climbing Up The Walls“ – jede Tune eine Kostbarkeit, alle zusammen ein Meisterwerk, in Szene gesetzt von einer früh vollendeten Band auf dem Zenit ihres Schaffens. Danach hatte nur noch Stille kommen können – oder etwas ganz anderes: Dekonstruktion. Abstraktion. Und ein Song, der „How To Disappear Completely“ heißt. Was danach kam, war: KID A. Und fortan sollte nichts mehr so sein wie früher. Peter Felkel