Augenzeuge: Der Gitarrist


Sie stehen meist in der zweiten Reihe. Nur wenige beachten sie, wenn sie auf der Bühne stehen - die Musiker der Stars. Doch sie kennen diese Stars oft besser als deren Familien.

„Ein bißchen Brause für die Jungs“, sagte Udo Lindenberg und ließ den Korken einer Champagnerflasche durch das Zimmer schießen. Vor der Bühne warteten tausende Fans und ihre „Udo, Udo“-Rufe drangen bis in die Garderobe. Aber Udo und sein Panik-Orchester waren noch nicht so weit. Bevor die Show beginnen konnte, mußte jeder Musiker einen Alkoholtest machen. Unter 0,8 Promille bedeutete nachtrinken. Einige Zeit und viele Flaschen später wankten die Musiker auf die Bühne. Einer von ihnen war Carl Carlton, der dem Musikexpress/Sounds die Geschichte erzählt. Er stand für Udo, Nina Hagen, Peter Maffay, Manfred Manns Earth Band und viele andere Rocker an der Gitarre.

Wir treffen ihn in Tutzing in den Studios von Peter Maffay. Es ist 12 Uhr, zum Frühstück gibt’s Kaffee, O-Saft, Müsli, Früchte. Carlton ist 39 und 22 Jahre davon ist er Musiker. Sein Augenzeugen-Bericht:

„Udo Lindenberg ist ein Berufs-Jugendlicher. Weil er so eifersüchtig war, träumte er immer von einer kleinen Madonna, die noch keine sexuelle Erfahrung hatte. Deshalb nahm er immer 16jährige Mädchen mit, um die er sich dann wie um eine Tochter kümmerte. Er sagte: ‚Ich bleib jetzt drei, vier Jahre platonisch mit ihr zusammen, und dann heirate ich sie‘. Eine der Beziehungen hielt ein Jahr. Aber Udo reichten diese platonischen Lieben nicht. Vor jedem Konzert brauchte er Sex, den er sich bei der älteren Abteilung holte. Das waren die Tigerhosen aus Bielefeld. Aber ich habe auch einen anderen, stilleren Udo erlebt. Er fuhr zum Beispiel immer mit uns im Bus. Er saß zwischen all den Champagner-Flaschen und begann schon am Morgen, von einer großen Weltkarriere zu träumen. „

Carl wuchs auf einem Bauernhof in Friesland auf. Als er neun war, entdeckte er in einem Fix & Foxi-Heft ein Klapp-Poster von den Rolling Stones und in der Musik-Box des Dorfwirtes ihren Sound ‚Satisfaction‘. Die Stones wurden zu seinem Idol. Er sammelte ihre Bilder, hörte ihre Musik und als Carl zwölf war, stand er zum ersten Mal selbst als Drummer auf einer Bühne. Noch jemand war damals sein Vorbild: Otto, der mit seiner Band The Rustlers so etwas wie ein Lokal-Matador in Emden war und guten Rock spielte. Carls erste Band Roxette spielte die Musik der soiger )ahre, trat einmal im Vorprogramm von Long Tall Earnie And The Shakers auf. Sie holten den 17jährigen Carl in die Band und sein Leben als Musiker hatte begonnen.

Damals hieß er noch Carl Buskohl. Von seinem ersten Geld kaufte er sich einen schwarzen US-Schlitten und fuhr noch St. Tropez. So, wie er es damals als kleiner lunge auf dem friesischen Bauernhof geträumt hatte. Er checkte im edlen Carlton-Hotel ein und nach vier Nächten war der Traum und sein Geld zu Ende. Seine Band taufte ihn deshalb nach dem Hotel, in dem er sein erstes Geld gelassen hatte. Carlton.

Später verdiente sich Carl sein Geld bei der holländischen Rock’n’Roll-Band Vitesse, bei Hermann Brood, dann bei Nina Hagen, Mink de Ville und nach der Station Udo Lindenberg kam er zu Peter Maffay. Heute ist er der musikalischer Direktor der Tabaluga-Tour und produziert die neue CD von Mothers Finest. Er hat ein Haus in Hamburg und auf Lanzerote, wo seine Frau, eine Lehrerin aus Berlin, mit den beiden Kindern Jessica und Max lebt.

Aber zurück zu Udo Lindenberg. Wie kam es zur Trennung? „Ich war vier Jahre bei ihm. Meine Eltern waren damals gerade gestorben, mein Sohn geboren und Udo probierte eine ganz neue Musik aus. Ich fühlte mich verloren. Wir traten bei der NDR-Talkshow auf, es sollte um das Thema Drogen gehen. Ich trank schon am Nachmittag ein paar Gläser Rotwein, um ruhig zu werden. Die Diskussion war entsetzlich. Reines Gesabbel. Wir sollten einen Song spielen und ich flippte plötzlich aus. Ich schlug mit meiner Gitarre auf das Schlagzeug ein, zertrümmerte das Piano. Alles live im Fernsehen. Udo war unheimlich sauer und ich sagte mir danach: ‚Ich laß mir von dir meine Show nicht kaputt machen‘. Ich sagte: ‚Ich arbeite nicht mehr länger für einen Schlagersänger‘ und ging. Das war das Ende im Panikorchester, aber es war : nicht das Ende unserer Freundschaft.“

Carlton wechselte zu Peter Maffay. „Durch ihn habe ich gelernt, zu arbeiten und nicht nur zu feiern. Es war wie ein Wechsel zwischen Tag und Nacht.“ 1987 fing Carl Carlton als Gitarrist bei Maffay an, schrieb Musik für ihn und produzierte die letzten vier LPs mit seinem Partner Bertram Engel.

Noch heute arbeitet er für Peter Maffay – was für ein Mensch steckt hinter der Fassade des Rockers in Leder? „Peter raucht nicht mehr, Peter trinkt nicht mehr. Er sitzt morgens um 9 Uhr in seinem Büro und arbeitet und arbeitet und arbeitet. Noch vor fünf, sechs Jahren betrieb er Raubbau an seinem Körper. Heute macht er den ganzen Rock’n’Roll-Wahnsinn nicht mehr mit und ist trotzdem glücklich. Er ist ein ernster Mensch, der Spaß an seiner Ernsthaftigkeit hat. Wenn ihn jemand einen Schlager-Fuzzi nennt, reagiert Peter empfindlich. Ein Freund von mir bekam eine auf’s Maul.“ Und Star-Allüren? „Gibt es bei Peter nicht. Beispiel: Wir waren auf einer Tournee in Süddeutschland. Wir jammten nach dem Konzert bis morgens um 9 Uhr. Die Sonne schien und in den Häusern nebenan begann das ganz normale Leben. Wir waren wie auf einem anderen Planeten und wollten nicht im Hotelrestaurant frühstücken. Mein Kollege Pascal schrie aus dem Fenster ‚Hat irgendjemand Frühstück für uns?‘ und tatsächlich ging im Haus gegenüber das Fenster auf. Eine Schlachterfamilie lud uns ein. Nach dem ersten Schluck Kaffee fragten sie, ob sie nicht mal Peter Maffay kennenlernen könnten. ‚Kein Problem‘, sagte Pascal und ging ins Hotel, um Peter zu wecken. Der kam mit rüber, setzte sich an den Tisch der Familie und plauderte mit ihnen eine Stunde lang.“

Über Prince: „Ich habe letztes fahr bei den großen Open Airs mit Peter Maffay vor Prince gespielt. Wir hatten unsere Garderobe in einer alten Militär-Baracke, gleich daneben war Prince. Bei ihm ist alles wie bei einem Generalstab geplant, überall sind Bodyguards in Armani-Anzügen, die auf alles achten. Sie hatten alle unheimlich Angst, daß den großen Prince irgendetwas stören könnte. Einer der Leibwächter kam zu uns in die Garderobe und wollte uns verbieten, After Shave zu benutzen, weil der Geruch des Rasierwassers Prince irritieren würde. Er wollte den reinen Duft seiner Räucherstäbchen genießen.“

Freddie Mercury und Rory Gallagher: „Ich spielte damals mit Vitesse im Domizil in München. Freddie und Rory waren da, sie saßen in der ersten Reihe. Unser Drummer hatte ein fahrbares Schlagzeug. Irgendwie gab es einen Kurzschluß und das Schlazeug setzte sich in Bewegung. Es fuhr auf mich zu, ich sprang mit einem Satz ins Publikum und landete ausgerechnet auf dem Tisch von Freddie und Rory. Sie haben noch den ganzen Abend über mich gelacht.“

Keith Richards: „Er ist für mich ein wahrer Star, den eine unglaublichen Aura umgibt. Als er vor zwei Jahren mit seiner eigenen Band in Köln war, wollte ich ihn unbedingt sehen. Ich ging in den achten Stock seines Hotel, da waren vier Türen. Drei waren offen, nur die vierte war zu. Ich hörte einen unglaublichen Lärm und klopfte vorsichtig. Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, es war Keith.

Er sagte: ‚Wenn du da rein willst, mußt du schon lauter klopfen.‘ Er nahm mich mit ins Zimmer, die Stimmung war wie kurz vor einem Gewitter, Steve Jordan, sein Drummer, war unheimlich sauer, weil das Konzert nicht lief. Aber Keith sagte immer nur: ‚Come on, it’s only Rock’n’Roll.‘ Er verstand die ganze Aufregung überhaupt nicht. Nach einer Stunde hatte sich Steve beruhigt und es wurde noch eine sehr schöne Nacht mit Rotwein und Gitarren.“

Nina Hagen: „Es war 1979, Nina hatte sich gerade von Spliff getrennt und suchte sich in Amsterdam eine neue Band. Ich war ihr zweiter Gitarrist. Sie war auf einem radikalen Trip. Wir wohnten in einem Stundenhotel im Rotlicht-Bezirk, Nina fand das ganz toll. Es war wie in einem Fellini-Film. Kurz vor einem Auftritt in Eindhoven sagte Nina: ‚Ich will das alles nicht mehr haben. Ich habe keine Lust mehr, Songs nach einem Schema zu spielen. Ich gehe jetzt auf die Bühne und beginne, irgendetwas zu singen. Ihr macht dann die Musik dazu.‘ Wir dachten, sie macht einen Scherz. Vor der Bühne standen immerhin 60 000 Leute, die für ihr Geld etwas hören wollten. Aber Nina tat es wirklich. Sie hielt sich nicht an das Programm, begann ‚Reggae im Schwarzwald‘ zu singen und wir versuchten, das ganze mit Musik zu unterlegen. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis uns die ersten Bierflaschen um die Ohren flogen. Für mich war das der letzte Auftritt – ich hatte genug von diesem Chaos.“

Carl Carlton trinkt einen Schluck Cola, geht an den Billard-Tisch. Er sagt: “ Seit 22 Jahren bin ich im Musik-Geschäft und ich habe noch immer nicht die Platte gemacht, die ich wollte. Das ist mein Motor. Ich brauche die Musik“. Er geht hinunter ins Studio, spielt die Aufnahmen der vergangenen Nacht von Mothers Finest ab. Sofort ist er wieder in seiner Welt. Sein Körper schwingt im Rhytmus, mit der rechten Hand regelt Carl die Bässe. Hinten in seiner Hosentasche steckt eine Postkarte. Sie ist von seinem Sohn. Er wird noch eine Weile auf seinen Vater warten müssen, denn Carlton geht mit Maffays Tabaluga auf Tournee. Ein Leben für die Musik.