Auf der Flucht
Was tun, wenn man etwas tun möchte? Die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel entschied sich für den direktesten Weg – und half Flüchtenden über die Landesgrenze aus Ungarn nach Wien.
Während wir Spenden sortierten, kam ein alter, agil wirkender, gepflegter Mann in einem hautengen rosafarbenen Sportoberteil, gezupften Augenbrauen und getrimmtem Schnurrbärtchen auf mich zu und sprach mich in akzentfreiem Englisch an. Ob wir ihn mitnehmen könnten, er sei Englischlehrer aus Syrien und sein letztes Geld sei ihm abgenommen worden. Er wirkte stockschwul. Ich sagte: „We can’t because of the police.“ Er: „But maybe you can give me a bit of money.“ Ich: „I can’t start to hand out money because I can’t give money to everyone.“ Er sagte: „I understand“, drehte sich mit dem Rücken zu mir und streckte mir unauffällig die Hand zu, ich drückte ihm schnell zehn Euro in die Finger. Er lächelte und marschierte weiter mit seinem edlen Gehstock. Er wirkte, als würde er es schon irgendwie schaffen.
„Zur Koordination der Gruppe schickten wir SMS: ‚Charlie 1 an Charlie 2, alles klar bei euch?‘“
Wie auch beim letzten Konvoi herrschte Ratlosigkeit, von wo man Leute mitnehmen konnte. Die ungarische Polizei war unberechenbar, umzingelte das Lager mit ständigen Ordnungsaufrufen. Wir schlossen uns einer Clique von Anarchobräuten an und fuhren zu einem kleinen Bahnhof in der Nähe. Zu Koordination unserer Gruppe schickten wir uns SMS: „Charlie 1 an Charlie 2, alles klar bei euch?“, „Der Adler ist im Horst. Roger.“ An diesem winzigen, an Ostblockzeiten erinnernden Bahnhof mitten im Nirgendwo saß tatsächlich eine irakische Familie mit sechs kleinen, umherwuselnden Kindern. Sie hatten bereits ein Ticket zum Bahnhof Györ gelöst, und wir versuchten, ihnen zu erklären, dass wir sie auch nach Wien bringen könnten. Durch die Sprachbarrieren scheiterte es, und sie reagierten eher verstört auf uns Fremde, die wir aus dem Nichts auftauchten und sie in Autos locken wollten. Ihr bezahltes Ticket schien auf sie verständlicherweise vertrauenswürdiger.
Zurück im Lager, trafen wir zum ersten Mal Renza. Mitten im Schmutz der Brache stand die junge Frau um die 20 mit ihrer Nerdbrille und einer Sicherheitsweste in einer Traube von Menschen, rief mit ausladenden Gesten in die Menge und gab Anweisungen. Dabei trug sie einen kleinen Yorkshire Terrier im Arm, der ununterbrochen kläffte. Sie hatte eine achtköpfige syrische Familie zusammengetrommelt, genau so viel Platz hatten wir in unserem und ihrem Auto. Sie rief bestimmend: „Yalla! Yalla! Yalla! Habibti, Let’s go!“ Es war beeindruckend, Leute wie Renza kennenzulernen, die mitten im Chaos einfach eine Führungsposition einnahmen und so wirkten, als hätten sie das schon seit Jahren gemacht, dabei war sie alleine und jünger als wir. Wir gingen zu den Autos, und Renza erklärte der Familie, dass wir während der Fahrt ganz nah zusammenbleiben würden.
Eine der wichtigsten Regeln ist es, Familien nicht zu trennen. Also fuhren wir erst mal zum Bahnhof nach Györ. Während Maria und ich mit der halben Familie ausstiegen, kam auch Renza angefahren. Aus ihrem Auto tönten die Beats lauter arabischer Musik, alle sangen durch die offenen Fenster mit. Als sie mit quietschenden Reifen stehen blieb, machte sie ein lautes Zungenrollgeräusch und schrie: „WE ARE HAVING AN ARABIC PARTY!!!“ Der kleine Yorkshire Terrier kläffte wieder in Renzas Checkerinnenarmen und wir entschieden, dass ich mit der Familie auf Maria und Renza und die restlichen Leute des Konvois warten sollte, während die zwei wieder ins Lager fuhren, um weitere Leute die zehn Kilometer zum Bahnhof zu bringen.
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