Aphex Twin – Der Mozart der Schaltkreise
In einem fensterlosen Raum im Norden Londons konstruiert Richard James alias Aphex Twin den Soundtrack der Zukunft. Der virtuose Klangzauberer schaltet und waltet im Reich des 'Intelligent Techno': Computerliebe, die durch die Ohren geht. „
Die weiße Kugel berührt zwei Banden, bevor sie mit letztem Effet die rote Kugel küsst. Der Spieler grinst eher schüchtern als stolz, nachdem ihm auch diese Carambolage gelungen ist. Ein guter Billard-Spieler ist er auf jeden Fall, dieser Richard James, der sich nach langem Zögern endlich breitschlagen ließ, ein Interview zu geben, um so vielleicht das Phänomen ‚The Aphex Twin‘ näher beleuchten zu helfen. Seine Musik verhält sich zu konventionellem Pop wie Carambolage- zu Pool-Billard: Nicht der schnelle, bunte Unterhaltungswert, sondern der zeitlos hintergründige Genuß sind das Ziel.
„Interviews und Photosessions passen eigentlich nicht zu einem elektronischen Künstler wie mir. Elektronik ist abstrakter als Rockmusik, nur die Vermarktungsstrategien sind dieselben. Damit habe ich manchmal meine Probleme“, meint Richard James, nachdem er das Queue in
die Ecke gestellt hat und sich aufs Gespräch einläßt. Er sieht schließlich ein, daß jemand, der solch‘ athmosphärische Platten wie die ‚Selected Ambient Works‘, die ‚Ventolin EP‘ oder das jüngste Album ‚I Care Because You Do‘ vorlegt, einfach öffentliches Interesse erregt.
Auch wenn seine Platten im Laden gemeinhin im Sortiment „Techno“ zu finden sind, nimmt er das durch den Euro-Pop der Gegenwart entwertete Prädikat so gut wie nie in den Mund. Er spricht vielmehr von „elektronischer Musik“ und sieht sich wenn überhaupt – eher in der Tradition von teutonischen Klangschöpfern wie Kraftwerk und Tangerine Dream, die schon in den 7oern mit instrumentaler Elektro-Musik neue Klangwelten erstehen ließen.
Tatsächlich hat sich die Musik des Aphex Twin schon längst vom üblichen 4/4-Breakbeat-Schema entfernt. „Rockmusik war mir immer schon ein Greuel. Meine Schwester hat in den 8oern immer Musik von Bands wie den Smiths gehört. Das hat mich förmlich in mein Zimmer zu meinen Synthesizern und unter die Kopfhörer getrieben“, erinnert sich James an seine Teenage-Tage in Cornwall. Im Alter von zehn Jahren schenkten die Eltern dem aufgeweckten Jungen ein Klavier, und er begann, die Musik, die er liebte, aber nirgendwo fand, eigenhändig zu erzeugen. Mit 14 bekam er einen kleinen Roland-Synthesizer dazu. „Anfangs mochte ich den Sound dieses Instrumentes nicht. Deshalb habe ich angefangen, an den Schaltkreisen herumzulöten, um auf diese Weise interessantere Klänge zu erzeugen.“ Mitte der 80er verzog sich der heute 23jährige immer häufiger in sein Zimmer und experimentierte mit seinem Synthesizer und diversen Tape-Maschinen. Für die aktuelle Pop-Musik interessierte er sich erst gegen Ende der 80er, als die Acid-House-Welle auch nach Cornwall, in die verschlafene Grafschaft an der Südwestspitze Englands, schwappte.
Darauf erkundete der junge James erst einmal die doch bescheidene Club-Szene der Halbinsel, verdiente sich auf privaten Partys frühe Sporen als DJ, legte englische Acid- und amerikanische House-Platten auf und mischte bei der Gelegenheit eigene Tapes unters Repertoire. Bald durfte er seine Künste auch in Clubs seiner Region unter Beweis stellen. So wurden auch Urlauber aus London auf den sonderbaren Sound des DJ’s aufmerksam. Mit dem Ergebnis, daß er immer häufiger Einladungen erhielt, auch in anderen Teilen der Insel Platten aufzulegen. „Natürlich habe ich mich gefreut, wenn Leute nach bestimmten Nummern gefragt haben und ich ihnen sagen konnte, daß das meine eigenen Tapes und keine Platten sind.“
Mit seinem Schulfreund Grant Wilson Claridge gründete er das Label Rephlex Records. Anfangs fuhren die beiden noch selbst mit dem Auto durch England, um die ersten Rephlex-Maxis in Dance-Plattenläden zu lancieren, darunter auch solche, auf denen Richard James unter dem Namen Aphex Twin geführt wird. „Der Name hat einfach einen schönen Klang. Ich habe erst später erfahren, daß es eine Elektronik-Firma mit dem Namen ‚Aphex‘ gibt. Vielleicht hatte ich den ja schon in meinem Unterbewußtsein gespeichert.“
Als sich die Aphex-Twin-Maxis immer mehr zu Geheimtips der Intelligent-Techno-Szene mauserten, wurde das belgische Label R&S-Records hellhörig und bot ihm einen Vertriebsdeal an. James fiel ein Stein vom Herzen. Endlich konnte er sich voll auf seine Musik konzentrieren. „Ich bin ein Workaholic. Ich kam lange Zeit mit nur zwei Stunden Schlaf pro Nacht aus. „
Unzählige Aphex-Twin- und Rephlex-Maxis waren auf dem Markt, was wiederum Richard James erlaubte, die Einnahmen in den Ausbau seines Studios zu investieren. Seinem musikalischen Output steht ein ebenso großer Input an musikalischen Ideen gegenüber. „Wenn ich nicht selbst Musik mache, höre ich mir Platten an oder sitze manchmal auch im Plattenladen und studiere die neuesten Veröffentlichungen. In letzter Zeit bin ich aber nur noch mit Demos beschäftigt, die bei Rephlex auf dem Tisch landen.“
Vor drei Jahren zog James nach London und richtete sich dort neben dem in Cornwall noch ein weiteres Studio ein. Er lebt heute in einer Art Wohngemeinschaft mit anderen Leuten aus Londons Club-Szene. Für die Mitbewohner ist aber spätestens an der Tür zu seinem fensterlosen Studio Endstation. „Die wissen Bescheid, daß sie mich nicht stören dürfen, wenn ich mich ins Studio verkrieche. Ich schließe die Türe ab und drehe voll auf. So bekommen auch sie noch etwas mit.“
Unzufrieden mit der Vertriebsarbeit von R&S wechselt er zu WARP-Records aus Sheffield. „Das Label hat mir schon immer gefallen. Die Platten von LFO, Nightmares On Wax und Sweet Exorcist waren feste Bestandteile meines DJ-Koffers.“
Das Leben in London beflügelt Richard James. „Es gibt Tausende von Clubs. Manche davon sind ein paar Monate total in, um dann postwendend von anderen abgelöst zu werden. Es macht Spaß, die sich stetig verändernde Szene zu beobachten.“ Mr. James alias Aphex Twin arbeitet auch weiterhin als DJ. Zum eigenen Vergnügen legt er im Londoner Club „Disobey“ Sandpapier auf den Plattenteller und läßt die Nadel darüberkratzen. Er hält Elektro-Rasierer ans Mikrophon und animiert so wider Erwarten tatsächlich ein paar Leute dazu zu tanzen. „Man fragte mich gar, ob ich diese Performance nicht auch mal in New York inszenieren könnte. Aber ich bin doch kein Clown. Inzwischen bin ich wieder zu stinknormalen Vinyl-Platten zurückgekehrt.“ Auch wenn das Rephlex-Team gelegentlich durch Amerika und Europa tourt, hat Aphex Twin für ihn doch absolute Priorität.
Der Durchbruch zum international beachteten Künstler gelingt mit dem WARP-Album ‚I Care Because You Do“, das in der Presse gleich neben der neuen Elton John-CD gewürdigt wird. „Ich mache Musik in erster Linie für mich selbst. Der Verkauf meiner Platten hilft mir meinen Lebensunterhalt zu sichern. Ansonsten müßte ich noch bei McDonald’s mein täglich Brot verdienen und würde viel Zeit vertieren.“
‚I Care…‘ ist ein weiterer Schritt weg von Techno-House, erinnert zuweilen an Filmmusik wie die von Ennio Morricone, den Richard James sehr bewundert. Auf der gleichzeitig erschienenen ‚Ventolin EP‘ spielt er mit menschlichen Stimmen. „Ich laufe ständig mit einem Aufnahmegerät herum. Auf der Platte ist der verfremdete Gesang meiner Nichte und das Lachen meiner Mutter zu hören.“ ‚Ventolin‘ ist der Name des Asthma-Sprays, das James stets mit sich führen muß. „Ich hasse es, den Songs Namen geben zu müssen“, meint er. „Das überlasse ich denen, die partout was aufs Cover schreiben wollen. Die Musik spricht eigentlich für sich. Ich will keine Statements abgeben.“ So erklären sich kryptische Titel wie ‚Wet Tio Hen Ax‘ oder ‚Icct Hedral‘, die bewußt nichtssagend sein sollen. Man muß sich schon die Mühe machen, die Musik genau zu hören, um ihren Wert zu erkennen, genau wie in der klassischen Musik, wo ein Titel wie ‚Sinfonie in C-Dur‘ nicht mehr als die Tonart verrät, während etwa 2Pacs Rap-Slogan ‚F+++ The World‘ schon im Titel eindeutig die Richtung vorgibt, in die sich der Song bewegt.
Mit dem Hang hin zu „reiner“ Musik ohne „Aussage“, mit der Verweigerung von Pop-Star-Ritualen, mit der Verneinung von Mode-Diktaten – James trägt in einer von Kahlköpfen geprägten Szene lange Haare und Vollbart – wird er ganz gegen seinen Willen zu einer Ikone der Gegenwart stilisiert: Ein Außenseiter, der abgeschottet von der Welt da draußen in seinem fensterlosen Labor experimentiert. Und nebenbei noch den Soundtrack für die Jahrtausendwende komponiert.