Alles so Retro hier


These 3: Popmusik schaut nur noch in den Rückspiegel und hat es sich in der eigenen Historie gemütlich gemacht. Diese Theorie finden, na klar, die Alten richtig. Zu Unrecht.

Der britische Popforscher Simon Reynolds muss einen Nerv getroffen haben. Anders ist die große Resonanz auf sein Buch „Retromania“ auch in Deutschland kaum zu erklären. Schließlich wird die Übersetzung seines 500-Seiten-Werks erst 2012 erscheinen. In der Diskussion wird seine Analyse allerdings darauf beschränkt, dass Popmusik ihre zeitdiagnostische Vorreiterrolle in einer selbstbeschaulichen Rückbesinnung verspielt habe.

Selbst wenn man diese kulturpessimistischen Anflüge nicht teilen mag, ließen sich in diesem Jahr diverse museale Tendenzen erkennen, die Reynolds bereits zuvor beobachtet hat: Andauernd werden vergessene alte Meister ausgegraben und mehr oder weniger relevante Jubiläen der Popkultur gefeiert, von Nirvana bis U2.

Getreu des historischen Diktums, zur Wiederholung von Geschichte sei verdammt, wer sie nicht kenne, muss man erst mal begrüßen, dass längst nicht mehr nur die Standardwerke neu aufgelegt werden. Liebhabereditionen wie, nur zum Beispiel, Mickey Newburys American Trilogy oder John Faheys Frühwerk beunruhigen höchstens Leute, die Wissen als Elitesport begreifen oder Musik sammeln wie Briefmarken. Da sorgt man sich um Exklusivität und sozusagen den Wert von „Blauer Mauritius“ oder „Inverted Jenny“.

Die in Mode gekommenen Wiederaufführungen bedeutender Werke von Sonic Youths Daydream Nation zu Pink Floyds The Wall oder Rekonstruktionen wie gerade die Smile Sessions der Beach Boys zeigen nicht mehr, als dass Popmusik mittlerweile eine Geschichte hat, die nun – wie in anderen Künsten auch – akademisch forschend, museal konservierend oder verliebt galeristisch verarbeitet wird. In jeder Kunst richtet sich der Nachwuchs an den Alten auf, führt ihre Ideen weiter oder verwirft sie. Besonders deutlich wird diese Entwicklung bei der aktuellen Beschäftigung mit Prog- oder Soft-Rock.

Destroyer etwa empfinden die Schleiflack-Sounds von Tüftlern wie Steely Dan oder selbst Weichspülern wie Al Stewart nach. Dabei geht es aber um das Sounddesign, denn ferner als Destroyer-Mastermind Dan Bejar kann man sich einer Vergangenheit kaum fühlen: „Sounds, Smash Hits, Melody Maker, NME all sound like a dream to me“ beschreibt er dieses Gefühl im Titelsong des Albums Kaputt.

Das neue Justice-Album Audio, Video, Disco wiederum plündert die Giftschränke der Siebziger. Die Franzosen suchen in den vom Hochkulturkomplex beladenen Großwerken nach kleinen, geilen Sounds wie einst Teenager nach verbotenen erotischen Stellen im bildungsbürgerlichen Bücherschrank.

Reynolds entdeckt ganz spezielle Erinnerungsmusiken, die als „Hauntology“ durch die aktuelle Popmusik spuken: Etwa beim Ghostbox-Label, im Free-Folk oder Hypnagogic-Pop. Überall dort wird mit viel Leidenschaft die Differenz zu den jeweiligen Quellen betont: Die alten Zeiten werden zwar liebevoll romantisch angespielt, aber vor allem als enorm fremd und seltsam markiert. Das liegt natürlich daran, dass sich einerseits der Zeitenlauf beschleunigt hat, während die Alten andererseits vermeintlich langsamer ihre Jugend verlieren. Im hauntologischen Konzept der Kids erweist sich das als Illusion: Die Sounds und Bilder der Siebziger und Achtziger wirken heute ferner und untergegangener, als den Beatles oder Stones alter Countryblues erschienen ist.

Tatsächlich geistern viele historische Motive durch die aktuelle Musik. Aber weniger, weil sich die Leute nostalgisch nach analogen Tagen zurücksehnen. Das Bemerkenswerte an vielen neuen Tracks ist ja gerade, wie sich Musiker die Vergangenheit vorstellen, die sie nicht erfahren haben. Die Sounds sind da, weil sie kurios sind. Oder einfach als Material herumliegen wie virtuose Soli oder die drei Akkorde des Punk. Der Retro-Eindruck liegt im Ohr nur desjenigen Hörers, den diese Sounds biografisch betreffen.

Stattdessen erzählen diese Tracks vom zeitnächsten Motiv überhaupt: der enorm tiefgreifenden und rasanten Veränderung in der Struktur und der Form des individuellen und sozialen Gedächtnisses. Dessen Inhalte liegen im Internet zum billigen Spiel herum wie einst Gitarren oder Casios.

Gespielt wird wiederum ganz popgemäß: Als Feier der Gegenwart und ihrer Technologie, und mit cooler Ignoranz gegenüber dem Gewicht von Geschichte und Tradition.