Alex Harvey
Wir hatten uns auf ein Interview gefaßt gemacht, ein richtig normales Interview. Und ganz übersehen, daß unser Gesprächspartner zwar ein Rock'n'Roller war, aber eben kein richtig normaler. So bekamen wir denn statt branchenüblicher PR-Sprüche die Bekenntnisse eines alternden Rockers zu hören. Eine Art lebensphilosophischer Nabelschau eines bürgerlichen Anarchisten, angesiedelt zwischen Sentimentalität und Wutausbrüchen, zwischen spontaner Begeisterung, tiefer Resignation.
Ich habe mein Leben lang nur einen Vorsatz gehabt: kein Rock’n’Roll-Star zu werden. Ich kenne sie alle, die Großen im Geschäft, und glaub mir, keiner von ihnen ist glücklich geworden. Aber ich, Mann, ich bin so verdammt glücklich.“ Man sieht Alex Harvey seine 42 Jahre erst beim zweiten Hinschauen an. Mit seinen durchgesessenen Jeans, dem bulligen und trotzdem seltsam eingefallenen Gesicht, den schnapsgeröteten Augen und dem wirren Haar könnte er gut für einen abgetakelten Dockarbeiter aus seiner Heimatstadt Glasgow durchgehen.
„Elvis zum Beispiel, der ist genauso alt wie ich“, sagt er schleppend, als er nach intensivem Grübeln den verlorengegangenen Gesprächsfaden wiedergefunden hat. „Elvis ist der größte Rock’n’Roller, den es je gegeben hat. Ich verehre ihn. Aber sie sind wie die Hyänen über ihn hergefallen. Er hatte keine Chance, er selbst zu bleiben.“
Anti-Faschist im Nazi-Look
Nun ist Alex nicht Elvis, auch wenn er oft als eine der Vaterfiguren der britischen Rock-Szene bezeichnet wird. Er hat nie im allzu grellen Rampenlicht gestanden, hat sich aber auch nie danach gedrängt. Geboren hinter jenen Slum-Mauern, die heute die düstere Dekoration für seine Bühnenshow abgeben, lief er von der Schule weg, deren Drill er nicht ertragen konnte, versuchte sich in drei Dutzend verschiedenen Berufen, in einem davon nur für zehn Minuten – damals sagte ihm sein Chef nämlich, er solle schneller arbeiten, und Alex zog es vor, zu türmen.
1963 fand man ihn in Hamburg wieder, als Stamm-Musiker in den legendären Beat-Tempeln „Starclub“ und „Top Ten“; damals noch mit jener „Big Soul Band“, die in ihrer starren Rhythm & Blues-Verwurzelung 1966 vom Hard-Rock-Mainstream überrollt wurde. „Ich liebe diese Stadt“, sagt Alex fast wehmütig, während er im weißgetünchten Umkleidekeller des Hamburger Audimax auf und ab marschiert. Er schwärmt von der Nutte Jutta, die er damals in St. Pauli kennenlernte, und meint dann: „Es war die glücklichste Zeit meiens Lebens, die ich hier verbracht habe. Und ich habe in dieser Stadt Dinge erlebt, die mir heute noch vor Augen stehen, als wären sie erst gestern geschehen. Da kam jeden Abend ein Junge in meine Show, der hatte nur ein halbes Gesicht. Die eine Seite war völlig verbrannt, in einer Flammennacht in Dresden. Weißt du, wie das ist, wenn man als Engländer für einen armen kleinen Kerl Musik macht, der unter englischen Bomben verstümmelt worden ist?“
„Dogs Of War“ — in diesem aggressiven Song schreit er seinen Haß auf Faschismus, Gewalt und Ungerechtigkeit von der Bühne ins Publikum. Aber genauso, wie sein volltrunkenes Herumstolpern als schnauzbärtiger Nazi-Scherge ohne politische Stoßrichtung und für den unbefangenen Zuschauer zwiespältig bleibt, wirkt auch seine Verachtung für jede Form bürgerlicher Existenz seltsam konsequenzlos. Beim Interview zeigt Alex Harvey, der zum Geld nie eine Beziehung gewonnen hat, plötzlich mit rührend verklärtem Lächeln Fotos von seiner Frau, seinen Eltern, Kindern, Katzen und Hunden herum: ein Anarchist mit Familiensinn.
Vambo, der Bastard
Ein Anarcho-Rocker auch, der sich im Verein mit seiner „Sensational Alex Harvey Band“ in kein musikalisches Klischee pressen läßt. Im Gegenteil, er und seine vier brillanten Mitstreiter leben davon, Klischees und Rock-Phrasen zu karikieren, in bitterbös-bissigen Texten zwischen Genialität und Wahnsinn, musikalisch mal lärmend und mal schnulzenparodistisch überdreht. Ein Jammer, daß im Verlauf der jüngsten Tournee von Alex Harvey nur die Hamburger Fans in solchen Live-Genuß kamen; die restlichen Auftritte fielen (wie im letzten ME gemeldet) der schwer angeschlagenen Gesundheit des Altrockers zum Opfer.
Comicbunt ist nicht nur die Bühnenshow der SAHB — genauso bizarr und schizoid ist der Hauptteil von Harveys Vorstellungswelt. Wenn er mit abgründig-exzentrischer Gestik „Vambo“ auf die Kulissen krakelt, dann reduziert sich in diesem Sprühdosen-Graffiti die verquere Lebensphilosophie des „letzten Teenager-Idols“ (Songtitel) auf fünf metaphysisch angehauchte Buchstaben; über der Bühne schwebt unsichtbar ein zwitterhaftes Etwas, gegenwärtig auch auf den meisten seiner sieben Longplays: „Vambo“ — der Bastard von Jeanne d’Arc und Spiderman, ersehnte Erlöserfigur und dumpfe Bedrohung zugleich.
„Tomorrow belongs to me“
In solch pseudophilosophischem Unfug kann sich Alex beim Interview vollends verlieren. Und dann ist der Schritt kein großer mehr zur Torschlußpanik, zum existentiellen Katzenjammer. „Ich komme mir manchmal wie der letzte Überlebende meiner Generation vor, nicht nur wenn ich sehe, wie Verwandte (eine Anspielung auf den Bühnen-Tod seines Bruders Les) und Freunde um mich herum sterben. Ich fühle mich oft alt, so entsetzlich alt. Es ist hundsbeschissen, so alt zu sein, wie ich jetzt bin.“
Und dann fügt er hinzu, was bei jedem anderen zur geschmacklosen Kolportage geraten wäre: „Ich glaube, ich werde genau da sterben, wo ich geboren bin. In der Gosse.“ Sagt’s, geht auf die Bühne und singt „Tomorrow belongs to me“…