Albert Maysles, der Regisseur von “Gimme Shelter”, ist tot
Er filmte die Beatles und die Rolling Stones, und noch vor vier Monaten gab uns der grosse Pionier des Dokumentarfilms ein ausführliches Interview. Nun erlag der 88-Jährige seinem Krebsleiden.
Albert Maysles, Kameramann und Regisseur legendärer Dokumentationen wie “Salesman”, “Gimme Shelter” und “Grey Gardens”, ist tot. Er erlag im Alter von 88 Jahren einem Krebsleiden. Dies bestätigte die Filmfirma Criterion Collection, die viele seiner Filme vertrieb, auf ihrer Facebook-Seite: „Our dear friend Albert Maysles passed away last night at the age of 88”, heisst es darin. “We saw things through his lens that we will never forget. He was a filmmaker up until the end. We loved him and will miss him terribly.“
Noch vor vier Monaten gab uns Albert Maysles in New York ein ausführliches Interview, das in Ausgabe 4 von ME.Movies erschien. In Gedenken an einen Mann, der bis zum Schluss Optimismus ausstrahlte und Pläne schmiedete, veröffentlichen wir es hier in voller Länge. R.I.P., Mr. Maysles!
Der stille Beobachter
“Gimme Shelter”, “Grey Gardens”… Albert Maysles prägte mit seinem Direct Cinema eine völlig neue Art des Dokumentarfilms. Wir sprachen mit dem 87-jährigen Filmemacher in New York über alte Zeiten und neue Pläne.
Von Severin Mevissen
Die Brüder Albert und David Maysles gelten als Pioniere des “Direct Cinema”, einer möglichst unaufdringlichen, rein beobachtenden Form des Dokumentarfilms. Im Dezember 1969 begleiteten sie die Rolling Stones auf deren US-Tour. Sie waren dabei, als beim Altamont Free Concert ein Hells Angels einen der Zuschauer erstach, und verarbeiteten die Ereignisse in “Gimme Shelter”, einem der wichtigsten Musikfilme, der das Ende des “Summer of Love” beleuchtete. David Maysles starb 1987, sein Bruder Albert filmte weiter. Heute, 45 Jahre nach Altamont, betreibt der inzwischen 87-jährige eine Dokumentarfilmschule mit Programmkino im New Yorker Stadtteil Harlem.
Mr. Maysles, lange Jahre lebten Sie an der Upper West Side, im Dakota Building, dem Haus, in dem auch John Lennon und Yoko Ono wohnten. Was zog Sie nach Harlem?
Das Dakota-Building war ein interessanter Ort, mit Nachbarn wie Yoko Ono, Lauren Bacall und Leonard Bernstein. Aber irgendwann wohnten dort vorwiegend sehr wohlhabende und weniger interessante Menschen, und so zogen wir vor zehn Jahren nach Harlem. Es ist ein kreativeres Umfeld hier, man kennt seine Nachbarn, und all meine Kinder wohnen in unmittelbarer Nähe. Wir haben den Umzug nie bereut.
Diesen Dezember jährt sich das Konzert der Rolling Stones in Altamont, Kalifornien, zum 45. Mal. Denken Sie manchmal daran zurück?
Ich schaue mir den Film immer noch regelmäßig an. Und jedes Mal entdecke ich Neues darin. Das ist der Zauber von Dokumentationen. George Lucas war einer unserer Kameramänner. Er filmte die Schlussszene, in der die Zuschauer in den Sonnenaufgang abwandern.
Einer der Zuschauer, Meredith Hunter, wurde damals von einem Hells Angels erstochen. Was war ihre Reaktion?
Zwiegespalten. Natürlich waren wir geschockt, als wir hörten, dass jemand ums Leben gekommen war. Auf der anderen Seite waren wir als Filmemacher aufgeregt, dass wir die Szene mitbekommen hatten. Mein Bruder hat sie gefilmt. Man sieht darin, wie Hunter einen Revolver zückt und abfeuert, und wie der Hells Angel auf ihn einsticht. Es war das Ende einer Ära, das Ende des “Summer of Love“.
Wie haben die Rolling Stones reagiert?
Wir haben ihnen die Szene später vorgespielt und ihre Reaktion gefilmt. Sie waren am Boden zerstört. Ein paar zynische Kritiker unterstellten Jagger trotzdem, er hätte unterkühlt reagiert, aber das stimmte nicht.
Sie haben das Material auch den Hells Angels gezeigt…
Richtig, aber die liessen sich nicht dabei filmen. Stattdessen verlangten sie eine Millionen Dollar Gage, weil sie im Film gezeigt wurden. Only in America… Wir haben uns schnell aus dem Staub gemacht, denn das waren gefährliche Typen.
Sie haben nicht nur die Rolling Stones sondern auch die Beatles gefilmt. Wie unterschieden sich die beiden Bands?
Man kann nur Individuen, nicht Gruppen miteinander vergleichen. Ringo war der Aufgeschlossenste. John Lennon war unzugänglich, aber wenn er etwas sagte, dann war das sehr schlau. Mick Jagger war unkompliziert und umgänglich. Und Keith Richards sieht heute viel besser aus als damals. Das können nicht viele Menschen von sich behaupten.
Was hat Sie daran gereizt, immer wieder mit Musikern zu arbeiten?
Ich war einmal in Nordkorea, und bekam natürlich einen Aufpasser zugeteilt. Dem zeigte ich meine Aufnahmen von Vladimir Horowitz, wie dieser Mozarts 23. Klavierkonzert spielt. Der Aufpasser war so gerührt davon, dass er danach mein bester Kumpel war. Musik ist universell und sehr kraftvoll. Zur Musik einer Blaskapelle ziehen Armeen in den Krieg, bei Mozart fangen Menschen an zu weinen.
Ihre frühen Filme, über psychiatrische Kliniken in Russland und Bibel-Vertreter in den USA, gelten als Paradebeispiele für den damals neuen Stil des “Direct Cinema”. Wie entstand dieser Stil?
Ich hatte als Schüler und Psychologiestudent selbst als Vertreter gejobbt, Klobürsten und Lexika verkauft. Ich merkte schnell, dass es mir keinen Spass machte, Menschen zu etwas zu überreden. Als Filmemacher nahm ich mich deswegen später zurück. Wir hatten keine Agenda, keine vorgefasste Sichtweise. Wir wollten einfach die Dinge sich entfalten lassen und das Geschehen beobachten. Es war praktisch das filmische Gegenstück zum “New Journalism” und zu Non-Fiction-Romanen wie Truman Capotes “Kaltblütig”.
Heutzutage wimmelt es im Fernsehen von sogenannten Reality-Shows: Schauen Sie die ab und zu?
Ich habe einmal eine Folge der “Osbournes” gesehen. Unterhaltsam, aber es ist eben nicht Realität, sondern nur eine Imitation dieser. Wobei: Was ist schon Realität? Es gibt nicht bloss eine Realität, eine Wahrheit.
Was halten Sie von der jüngeren Generation von Dokumentarfilmern, von Regisseuren wie Ken Burns und Michael Moore?
Ich bin eher kritisch gegenüber all jenen eingestellt, die nicht der puren Form der Dokumentation folgen, wie sie von Robert Drew, Richard Leacock, Donn Alan Pennebaker und meinem Bruder und mir verstanden wurde. Ich habe aber neulich eine Dokumentation von Ken Burns über die Roosevelts gesehen und war begeistert. Er muss jahrelang dafür recherchiert haben. Heutzutage wählen zu viele Regisseure den Weg des geringsten Widerstandes. Sie zeigen schöne Bilder, dazu wird aus dem Off die Geschichte erzählt. Oftmals sind Filmemacher auch nur darauf aus, jemanden blosszustellen. Das behagt mir nicht.
Ihre berühmteste Dokumentation, “Grey Gardens”, wurde damals von der New York Times verrissen. Man warf Ihnen vor, zu tief in die Privatsphäre der beiden darin porträtierten Frauen eingedrungen zu sein…
Und das war Unsinn! Die beiden wollten gefilmt werden, sie blühten dabei regelrecht auf. Die Tochter schrieb der New York Times sogar ein Leserbrief, in dem sie uns verteidigte, doch der wurde nie veröffentlicht. Als ihre Mutter im Sterben lag, fragte ihre Tochter sie, ob sie noch etwas sagen wollte – und die Mutter antwortete: “Ich habe alles in dem Film gesagt!” Das war das ultimative Kompliment für uns.
Im Sommer 2014 verlieh Ihnen Präsident Obama die National Medal of Arts, die höchste Auszeichnung für Künstler in den USA. Was war das für ein Gefühl?
Es war aufregend! Wir mussten ziemlich lange warten, und die ganze Zeit überlegte ich, was ich zu Obama sagen würde. Als er schliesslich vor mir stand, sagte ich: “Es gibt bestimmt viele Momente in ihrem Leben, von denen Sie sich wünschten, es wäre jemand mit einer Kamera dabei. Ich würde gerne dieser jemand sein.” Er versprach, er würde versuchen das zu organisieren. Vielleicht filme ich ihn also bald. Und natürlich hilft so eine Auszeichnung, wenn man Gelder für das nächste Projekt auftreiben möchte.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich habe mehrere. Ich filme Menschen im Zug. Menschen, die sich gerade erst kennen gelernt haben und miteinander reden. Ich bin dafür schon mehrfach mit dem Zug durch die USA gereist, und ich möchte das auch in anderen Ländern, in Indien, Südafrika und Russland tun. Ich liebe Züge! Dann stelle ich gerade einen Film über die 94-jährige Designerin und Mode-Ikone Iris Apfel fertig und sichte Material für einen Film über mein Leben. Und dann haben wir hier in Harlem ja auch noch unsere Dokumentarfilmschule und unser Programmkino.
Sie unterrichten noch selbst?
Ja, ich habe gerade eine Gruppe von Kindern im Alter von sechs bis vierzehn Jahren unterrichtet. Sie haben eine Dokumentation über die Waffengesetze in den USA gedreht, die so gut war, dass sie im Fernsehen gezeigt wurde. Ich bin stolz auf unsere Arbeit hier. Ich habe vor Jahren einmal eine sehr arme Familie in den Südstaaten gefilmt. Damals fragte die Grossmutter ihren Enkel: “Was möchtest du machen, wenn du gross bist?” Und ihr Enkel antwortete: “Da will ich im Gefängnis sein!”. Alle seine männlichen Verwandten waren im Gefängnis, er kannte gar keine andere Karriere. Wenn wir erreichen, dass ein Kind aus Harlem dieselbe Frage mit “Ich will Filmemacher werden!” beantwortet, dann haben wir viel erreicht.
Haben Dokumentationen die Kraft, dies zu bewirken?
Ich denke schon. Leider handeln zu viele Filme von unglücklichen Menschen, die unglückliche Dinge tun. Wir sollten mehr Geschichten zeigen, denen man nacheifern kann, die einen berühren, die das liebenswerte Element – auch im Hässlichen – hervorkehren. Und das können Dokumentationen. Ich erinnere mich an eine Vorführung unseres Filmes “Salesman”. Da sass als letztes eine junge Frau im Kino und weinte. Ich stiess meinen Bruder an, und sagte zu ihm: “Diese Frau ist für mich bestimmt!” Und heute sind wir immer noch verheiratet.