Alanis Morissette


Auf einem Indientrip löste sich die Kanadierin (24) von Druck und alten Schuldgefühlen und ging beherzt an ihr neues Meisterwerk.

„Supposed Former Infatuatlon Junkie“ wird, wie dein Vorgängeralbum „Jagged Little Pill“, die Hörer vermutlich wieder nach Geschlechtern polarisieren – männliche Hörer werden aufgrund der Texte eher eine zerrissene Persönlichkeit wahrnehmen, während die weiblichen Fans dich, wie gehabt, als starke, emanzipierte Frau loben werden. Wie schätzt du dich selbst ein?

Keine Ahnung! Das einzige, was ich weiß ist, daß sich in meinem Inneren unglaublich viele Emotionen befinden, die ständig gegeneinander zu kämpfen scheinen. Das reicht von Wut über Hilflosigkeit und grenzenlosen Optimismus bis hin zu tiefschürfender Melancholie. Und natürlich sind meine Texte von all diesen Gefühlsregungen gespeist. Wichtig ist für mich in den letzten beiden Jahren nur geworden, daß ich mich selbst immer besser entdecke und kennenlerne. Während der kreativen Schaffensphase von „Jagged Little Pill“ war ich noch längst nicht in diesem Stadium. Die Texte dieser Platte habe ich ausschließlich geschrieben, um ein wenig Licht ins Chaos meiner damaligen Existenz zu bringen. Doch ehrlich: Über die Geschlechter und wie sie auf meine Songs reagieren werden, darüber habe ich beim Komponieren nicht nachgedacht. Ich bin eine Frau, ganz klar, aber ich liebe auch die Männer. Ich will gar nicht polarisieren. Das ist ein ziemlich großes Mißverständnis, das da zu kursieren scheint. Mir geht es in erster Linie um Intimität in meiner Arbeit.

Hältst du es nicht für gefährlich, Millionen von Menschen an deinem Innenleben teilhaben zu lassen?

Ich bin immer fester davon überzeugt, daß die einzige Absicht meiner Existenz auf diesem Planeten darin besteht, in meiner Kunst so aufrichtig wie möglich zu sein. Ich lege es darauf an, die Menschheit so radikal wie es nur geht mit meiner Person zu konfrontieren. Denn ich hätte nicht so viele Platten von „Jagged Little Pill“ verkauft, wenn ich nichts Tiefgreifendes zu sagen hätte. Dieses Selbstbewußtsein haben mir übrigens die Verkaufszahlen meiner letzten Platte verschafft. Und für dieses Selbstvertrauen bin ich immens dankbar. Man braucht es, um in dieser irrsinnigen Branche überleben zu können.

Trotz allem Selbstbewußtsein hast du dir drei Jahre Zeit gelassen, um dein neues Werk einzuspielen. Warum?

Na ja, ich war rund 18 Monate auf Tour – und danach brauchte ich nochmal 18 Monate, um meinen neuen Stellenwert in der Gesellschaft zu verkraften, um mich zurechtzufinden, um alte emotionale Wunden zu lecken, die aufgrund der Situation zwangsläufig eingetreten waren. Wenn du Erfolg hast, wirst du umschwirrt von jeder Menge Lügner! Es war schwierig für mich, mit der neuen Situation umzugehen, weil sie mir immer öfter entglitt. Ich habe schlicht meine Identität verloren – obwohl ich inzwischen der Ansicht bin, daß ich bis vor kurzem gar keine Identität hatte. Dieser Prozess ist jedenfalls das schlimmste, was einem Künstler passieren kann – sich selbst nicht mehr zu kennen. Ist ja auch klar, daß dies passieren mußte, denn mit einem Mal wirst du von wildfremden Menschen auf ein Podest gestellt und verherrlicht, nur weil du erfolgreich bist. Das tut zwar dem Ego gut, doch die Katerstimmung stellt sich rasch ein – weil ich nicht dafür geboren bin, angehimmelt zu werden. Ich brauche das nicht.

Trotz dieser eigentlich positiven Erkenntnis hast du ein sehr melancholisches neues Album eingespielt. Wieso?

Ist doch klar – in einem Stadium, in dem man sich neu erfindet, muß man erst mal durch eine Menge Scheiße wie Trauer, Enttäuschung, Resignation oder gar Selbsthaß waten, ehe man als anderer Mensch daraus hervorgeht. Zumindest ich mußte das. Und da meine Songs immer schon Protokolle meines Innenlebens waren, sind jede Menge Lieder der neuen Platte Bestandsaufnahmen aus jener Entwicklungsphase meiner jüngsten Vergangenheit. Sei’s drum, heute bin ich ein unglaublich zufriedener Mensch, extrem mit sich und der Welt im reinen. Ich habe es in der Tat geschafft, mich weitgehend von den Dämonen und Ängsten aus meiner Vergangenheit zu befreien. Viel mehr als das ist im Leben eh nicht drin. Es kommt darauf an, sich zu befreien – jeder auf seine Weise.

Half dir beim Finden dieser neuen, gestärkten Identität auch eine gewisse Portion Spiritualität?

Unbedingt! Wie bekannt sein dürfte, stamme ich aus einem streng katholischen Elternhaus. Und deshalb hatte ich früher immer dann Schuldgefühle, wenn ich mich eigentlich wohlfühlte – vor allem nach erfüllendem Sex. Jedenfalls mußte ich aufgrund dieser Vergangenheit erstmal mit „Gott“ – wer immer das sein mag – brechen, um ihn dann neu zu entdecken. Dazu ging ich im letzten Jahr nach Indien, ganz klischeemäßig. Doch dieses Land ist in der Tat ein Quell für Menschen, die auf der Suche nach einem neuen Ich sind. Was für eine intensive und reinigende Phase dieser Trip für meine Seele war! Ehe ich nach Indien pilgerte, war ich ja bis zum Platzen angefüllt mit meiner verkorksten Vergangenheit: Ängste, Schuldgefühle, verkorkste Liebschaften, dazu noch der Trubel um meine Person, den ich kaum bewältigen konnte. Und mit einem Mal saß ich an irgendeinem Strand in Goa, schloß die Augen und ließ all das einfach aus meinem Körper weichen. Ich habe gelernt: Wenn man sich nur befreien will, gelingt einem das tatsächlich. Jedenfalls kam ich als neue Persönlichkeit aus Indien zurück.

Früher hat man dich gerne als „angry young woman bezeichnet. Wie gehst du heute mit dieser Definition um?

In meinem Inneren steckt definitiv jede Menge Wut, dagegen kann ich nichts tun. Doch da ich wesentlich ausgeglichener bin als früher, kann ich mit dieser Emotion heute wesentlich besser umgehen. Und mir ist inzwischen auch wichtig, daß ich mich unter Kontrolle habe. Alles andere führt nur zu gnadenlosem Leid und zu häßlichem Schrecken. Diese Einsicht wird vermutlich die Hardcore-Emanzen unter meinen Fans, die mich gerade für diese gnadenlose Aggression in meiner Arbeit immer so geliebt haben,

mächtig vor den Kopfstoßen. Doch das ist mir egal. Ich habe noch nie ein Hehl daraus gemacht, immer nur Songs zu schreiben, die den Hörer wissen lassen, wie es mir gerade geht. Ich bin ein Narziß, ganz genau. Und Wut spielt in meinen derzeitigen seelischen Koordinaten keine besondere Rolle. Das Wort „Wut“ besitzt für mich heute einen eher destruktiven Beigeschmack.

Insofern kannst du vermutlich inzwischen auch nicht mehr viel mit der Definition „Neo-Feministin in post-modernen Zeiten“ anfangen, oder?

Doch, damit habe ich keine Probleme. Denn der Hauptanspruch meiner Arbeit war und ist, mich einer chauvinistischen, männer-dominierten Welt zu entziehen. Alanis Morissette steht hoffentlich für eine Frau, die zwar ihre eigenen Schwächen zugibt, die aber nie so verletzlich ist, um den Männern genug Angriffsfläche zu bieten, daß sie zerstört werden kann. Ich bin lange genug von Männern unterdrückt worden, die mir einreden wollten, wie es ist, eine Frau zu sein. Auf ein solches Leben habe ich seit einigen lahren schlicht keine Lust mehr.

Trotzdem hast du dich für Männer eine Zeitlang angreifbar gemacht, in dem du dich gerne als eine „extrem sexuell ausgerichtete Person“ bezeichnet hast. Wozu eine solche Selbsteinschätzung als Sex-Junkie?

Wie gesagt, ich bin sehr aufrichtig in Interviews. Und Sex – speziell guter Sex – ist für mich eine entscheidende Angelegenheit im Leben. Er ist eine Art Schlüssel zu meinem Selbst. Ich mußte meine Sexualität als Teenager lange genug unterdrücken, damit muß Schluß sein. Ich stehe ganz offen zu meinen Bedürfnissen. Genauso wichtig wie die Sexualität waren mir aber stets auch meine Wut und meine Melancholie. Und da gibt es noch einige Extreme mehr in meiner Seele, über die ich immer wieder gesprochen habe. Trotzdem haben sich die Medien meist auf meine Aussagen zu Sex, Wut und Trauer gestürzt, um mich zu definieren. Was für ein Quatsch. Jeder Mensch ist doch wesentlich vielschichtiger. Und Sex ist wirklich nur ein Teil meiner Persönlichkeit – wenn auch ein sehr angenehmer Teil, das gebe ich gerne zu…

Als du zuvor erwähnt hast, daß du in Indien zu einer neuen Persönlichkeit gefunden hast – konntest du dich in dieser Phase auch komplett von deiner katholischen Vergangenheit verabschieden?

Ich hoffe, ja, weil ich heute keinerlei Notwendigkeit mehr verspüre, ständig Schuldgefühle vor irgendeinem Gott haben zu müssen. Und ich muß auch nicht mehr wie früher zu einem Priester rennen, wenn ich irgendwas falsch gemacht habe, um mir Absolution dafür erteilen zu lassen. Inzwischen bin ich mir nur noch vor mir selbst und meinem Gewissen verantwortlich. Was in gewisser Weise wesentlich härter ist, als es der katholische Glaube je sein kann. Mit einem Mal ist man sein eigener Gewissensrichter. Mit ein paar Ave-Marias ist es da nicht mehr getan. Doch durch meine Entwicklung habe ich mich gleichzeitig nicht nur von der Kirche, sondern auch von einem Großteil der Gesellschaft verabschiedet, mit all ihren Regeln und Gesetzen. Inzwischen weiß ich für mich persönlich viel besser, was Gut und Böse tatsächlich zu bedeuten haben. Ich führe somit das Leben einer absolut „Vogelfreien“. Sprich: Ich habe endlich eine Wahl und trage volle Verantwortung für meine Person. Das ist gefährlich und spannend zugleich. Da kann man doch wirklich nur sagen: Wow, was für ein Leben!

Madonna, die Chefin deiner Plattenfirma „Maverick“, sieht in dir die jüngere Ausgabe ihrer eigenen Person: „Alanis Morissette ist selbstbewußt, stark und ungeheuer ehrgeizig“, hat sie verlauten lassen erkennst du dich in diesem Urteil wieder?

Ich wollte immer Erfolg haben, das gebe ich gerne zu. Insofern bin ich wohl ehrgeizig. Weil ich der festen Liberzeugung vertraue, daß ich jemand Besonderes bin. Also habe ich auch das Recht, mit meiner Arbeit möglichst viele Menschen anzusprechen. Lind ich habe hart daran gearbeitet, um zu meinem heutigen Status zu gelangen.Insofern bin ich äußerst zufrieden mit Madonnas Einschätzung meiner Person. Wenn eine Frau wie sie mir attestiert, daß ich selbstbewußt und stark bin, ist das ein immenses Kompliment. Weil Madonna aufgrund dessen, was sie erreicht hat – für jede emanzipierte junge Frau meiner Generation ein echtes Vorbild ist. Natürlich auch aufgrund des kommerziellen Erfolgs ihrer Arbeit.

Apropos Erfolg: Was glaubst du , war der Grund, daß Jagged Little Pill“ so immens viele Exemplare verkaufen konnte? Bist du in der Tat die von den Medien vielbeschworene „Stimme der jungen weiblichen Generation“ in den neunziger Jahren?

Ich kann dazu nur sagen, daß ich gelegentlich in irgendeiner Stadt auf der Bühne stehe und während meines Auftritts das unumstößliche Gefühl empfinde, daß sich da draußen eine Menge Leute mit meiner Person völlig identifizieren können. Besonders natürlich junge Frauen, das ist keine Frage. Für die will ich ja auch in erster Linie eine Art „Abziehbild sein. Mehr bin ich als Künstlerin auch nicht, weil ich ja selbst noch eine junge Frau bin. Es geht im ganzen Leben um Kommunikation. Und in meinem Fall hoffentlich um Kommunikation auf höchstem Niveau. Doch die „Stimme einer Generation“ – darf man sich selbst so bezeichnen, ohne daß es anmaßend klingt? Ich würde sagen, ich bin zu allererst die „Stimme meiner selbst“, das trifft’s wohl besser.

In Kürze bist du wieder auf ausgedehnter Welt-Tournee, die dich im Mai auch nach Deutschland führen wird. Was haben wir von Alanis Morissette live im Frühjahr 1999 zu erwarten?

Größtmögliche Aufrichtigkeit! Egal, wie groß der Ort ist, an dem ich auftreten werde ich werde stets ich selbst sein. Und ich glaube, das ist eine ganze Menge.

Sollte „Supposed Former Infatuation Junkie“ nicht der Verkaufserfolg von Jagged Little Pill“ beschieden sein, würdest du dann ernsthaft über den weiteren Verlauf deiner Karriere nachdenken und diese gegebenenfalls sogar ändern?

Ich werde immer Musik machen, soviel ist gewiß – egal, wieviel ich davon verkaufe. Und ich habe es nicht nötig, dabei irgendwelche Kompromisse einzugehen. Doch ich glaube, da schlummern noch eine Menge anderer Talente in mir: die Malerei, Fotografieren, Schreiben. Und Kochen – ich bin eine richtig gute Köchin, auch wenn mir das keiner glaubt! Wer weiß, vielleicht ist ein solches Talent ja der Vorbote dazu, irgendwann mal Mann und Kinder an meiner Seite zu haben. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, sagt man doch, oder nicht? Wobei ich mir derzeit keine ernsthaften Gedanken über eine Familie mache. Ich will keine feste Beziehung. Und ich bin egozentrisch genug, um mich momentan ausschließlich um mich selbst zu kümmern. Ich will mich nur bis zum Erbrechen austoben und ausdrücken. Was ich in Indien nämlich vor allem gelernt habe: Alles kommt, wie es kommen soll. Und das ist gut so.

In Indien hast du vermutlich auch den Druck abgebaut, einem so extrem erfolgreichen Album wie „Jagged Little Pill“ einen Nachfolger angedeihen zu lassen, stimmt’s?

Dieser Druck lastete immens auf mir, keine Frage. Doch in Indien überkam mich die Einsicht, daß ich mit meinem Leben anstellen kann, was ich will. Also: Ich müßte nie mehr eine Platte aufnehmen, wenn ich das nicht wollte. Ich habe so viel Geld verdient, daß ich nie mehr im Leben arbeiten müßte. Und unter diesem völlig losgelösten Aspekt war es natürlich um so spannender, „Supposed Former Infatuation Junkie“ aufzunehmen. Weil ich auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen mußte.

Salopp gefragt: Macht es Spaß, ein Superstar zu sein?

Das Tollste daran ist, daß ich mit meiner Arbeit offensichtlich einer Menge Menschen aus der Seele gesprochen habe. Obwohl ich nur über mein Leben geschrieben habe. Trotz aller Öffentlichkeit als „Star“ glaube ich, daß die aktuelle Platte nach wie vor sehr intim ausgefallen ist. Ich brauche niemanden, der mich bestätigt. Ich weiß selbst, wie gut ich bin.